Das Schweigen der Sirenen
© Johannes Bauer, Logbuch ohne Kurs (2013), 29,8 x 29,1 cm, Acryl auf Papier
Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik
[Vortrag, gehalten auf dem Frankfurter Adorno-Kongress 2003. Erschienen in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing 2007 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft. Hg. v. Adolf Nowak; Bd. 33), S. 303-324.]
Meine Ausführungen verstehen sich als offene Textur. Offene Textur soll heißen, manche Argumentationsfäden zu knüpfen, um sie wieder aufzulösen. Freilich soll die Offenheit nicht so weit gehen, dass am Ende Fontanes Stechlin resümieren könnte: „wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig“(1). Zudem bin ich mir der Problematik bewusst, den Pluralismus zeitgenössischen Komponierens unter das Abstraktum „Neue Musik“ zu subsumieren. Steht deshalb in meinen Erörterungen das Spätwerk Morton Feldmans für ein Opus magnum gegenwärtiger Musik, dann keineswegs mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit. Beginnen wir nach diesen web- und begriffstechnischen Anmerkungen nun mit der Gedankenarbeit selbst.
Hölderlins Bestürzung über das „Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme“, deren Wechsel „fast tragischer“ sei als die ,wirklichen Schicksale’, dokumentiert einen Abschied vom Absoluten.(2) Und das zu einer Zeit, als Hegel daranging, den Gott der Theologen in der "Großen Logik" zu beerben. Ist doch die Logik als „Reich des reinen Gedankens“ die „Wahrheit [...] ohne Hülle an und für sich selbst“, ja die „Darstellung Gottes [...] in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes“.(3) Ähnlich spricht auch Goethe von einem Gott vor der Erschaffung der Welt, nun aber nicht vom Reich der Idee, sondern von dem der Musik her: Es sei ihm beim Hören einiger Kompositionen Johann Sebastian Bachs gewesen, „als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben“.(4) – Warum dieser Beginn in einem Vortrag über Adorno? Abgesehen davon, dass Goethe, Hegel und Hölderlin als drei der Heroen aus der Zeit des „paradoxen Einstands von Absolutismus und Liberalität“(5) für Adorno selbst eine gewichtige Rolle spielen, lassen sich mit ihnen die Grundgedanken meines Vortrags exponieren. Mit Hölderlin das Motiv vom Zeitkern jeder Theorie; mit Hegel das Motiv von der Deutungsmacht der Philosophie; mit Goethe schließlich das Motiv von der Autonomie der Kunst.
Wie weit trägt heute noch eine Philosophie der Neuen Musik, die am Subjekt, an Durchgestaltung und Stimmigkeit, am „Ausdruck des Entsetzens“ festhält? Zumal in einer Welt der schnelligkeitstrainierten Funktions- und Wahrnehmungsmuster, der Übermacht von short-term memory und elektronischer Zeitüberlistung, der multiplen und gleitenden Oberflächenidentitäten? Steht Adorno mittlerweile nicht für das Denkmal einer normativen, gleichsam ex cathedra verfassten Ästhetik? Allzu gefangen in ihren dogmatischen Fallen, um jener Vielfalt zeitgenössischer Musik gerecht zu werden, der kein Weltgeist mehr souffliert, wie zu komponieren sei? Auch wenn es in der Nachfolge Adornos lange üblich war, der Neuen Musik ein gutes Gewissen zu verschaffen, indem man sie zum schlechten der Gesellschaft erklärt hat: mindestens ebenso lange wurde Adornos Rigorosität kritisiert, die vieles aus dem Ensemble legitimer kompositorischer Ausdrucksformen des letzten halben Jahrhunderts ausgeschlossen habe. Ein Ausschluss um den Preis allerdings, dass die künstlerische Praxis unbekümmert um ästhetische Gebote ihren Weg ging. Denn nicht jeder, der außerhalb der „Dissonanzpflicht“ gegen „Konsonanztabus“ verstoße, muss darum bereits ein „Mitläufer der falschen Totalität“ sein. Vom „Verhängnis der Welt“ könne man schließlich „auf sehr verschiedene Weise wissen“.(6) Und doch war es Adorno, der auf den Zeitkern jedweder Theorie verwiesen hat, die eigene nicht ausgenommen. Und damit auf eine Instanz der historischen Ernüchterung, die in den Texten eine kritische Masse an Spannungen und Widersprüchen, an Mehrdeutigkeiten und Offenheiten mit durchaus nach vorne weisenden Tendenzen ausformt. Dass die keineswegs doktrinär geschlossenen Reflexionen Adornos zur ästhetischen Konstruktion, zur Unversöhnlichkeit der Kunst oder zum Faktor Subjekt das Überschreitungspotenzial seiner Philosophie ausmachen, wäre ein Beleg dafür. Doch dazu später.
Bekanntlich ist für Adorno der Geist einer Komposition von der Notation nicht zu trennen. Seine Ästhetik orientiert sich am schriftlich fixierten Werk. Genauer: am notenschriftlich fixierten Werk der Musik seit Johann Sebastian Bach, mit dem „für jeden anständigen Musiker [...] die eigentliche Musik eben doch [erst] an[fängt]“(7).“Ohne Schrift keine hochorganisierte Musik; der historische Unterschied von Improvisation und musica composita fällt qualitativ mit dem des Laxen und des verbindlich Artikulierten zusammen“.(8) Notation aber hat zunächst etwas mit Organisation, mit Logik, mit Sinn zu tun, selbst wenn Sinn und Logik in der Musik sich extrem verschatten und Kausalität sich ins Unkenntliche auflöst. Zudem verweist kompositorische Logik auf die Relevanz des künstlerischen Subjekts noch in seinem beckettschen Habitus. „So wenig Musik dem Subjekt gleichen darf [...], so wenig darf sie ihm auch vollends nicht gleichen: sonst würde sie zum absolut Entfremdeten ohne raison d'être“(9). Noch in seinen späten Schriften insistiert Adorno darauf, das „Unbekannte“ müsse sich „durchs Subjekt“ und durch die Reflexionsinstanz der Form hindurch konturieren.(10) Und schließlich zielen Sinn und Logik auf das Medium einer qualitativ artikulierten Zeit, von der Adorno auch die Neue Musik nicht entbunden wissen wollte. „Das zeitlich Aufeinanderfolgende, das die Sukzessivität verleugnet, sabotiert die Verpflichtung des Werdens, motiviert nicht länger, warum dies auf jenes folge und nicht beliebig anderes. Nichts Musikalisches aber hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes bestimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorhergehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander.“(11)
Natürlich läuft Adornos Zeitgebot, gemessen an der Musik der letzten Jahrzehnte, ins Leere. Komponieren, das mit dem geplanten Zufall, mit variablen, offenen Formen und einer bislang unbekannten Verantwortung und Freiheit der Interpreten und Rezipienten arbeitet; das mit dem Aufbrechen der Einheitszeit des geschlossenen Werks, dessen Kontinuität jede andere ausschließt, die Schicksalsmacht Zeit hinterfragt; ein Komponieren auch, das auf aktions- und situationsbestimmte Verflüssigungen der Werkästhetik inklusive der Kritik am Fundamentalismus der Notation setzt: solches Komponieren fügt sich keiner Zeitvorstellung mehr, die dem Organismuskonstrukt und seinem Telos der Notwendigkeit die Treue hält. Für Adorno dagegen profilieren qualitative Zeitartikulation und mit ihr der gestische Sprachnimbus des Komponierten samt einer ins Werk gesetzten Stimmigkeit, die in der Moderne allerdings bis zur stimmigen Auflösung der Stimmigkeit reichen kann, den Ausdruck einer ,denkenden Musik’: komplex, welthaltig und apotropäisch gegenüber der „Macht des Bestehenden“. Das „zerrüttete Kunstwerk“, das als „Gegenstand des Denkens“ gesetzt ist und „am Denken selber Anteil“ hat: diese Konstante der Philosophie der neuen Musik von 1949 dominiert auch Adornos Analysen der Avantgardemusik seiner Zeit.(12)
Warum aber besteht Adorno auf dem Denken des musikalischen Werks? Eine erste Antwort käme wohl auf die historisch begründete Angst vor einer institutionalisierten Amnesie; auf die Angst, sich inmitten der rastlosen „Verwertung des Werts“(13) und des Aktualitätsdiktats dem Verlust von Geschichte und Mnemosyne auszuliefern. Dass mit der „Anpassung ans je Gegenwärtige“ am Ende gar „Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liquidiert“ werden könnten: diese Gefahr ist es, die Adorno vom Fokus Auschwitz her Kunst zum „Gedächtnis des akkumulierten Leidens“ werden lässt.(14) Musikalisch aber bleibt für ihn Gedächtnis an die materiale und strukturelle Form- und Werkkonsistenz gebunden. Geht Musik auf Erkenntnis, auf Wahrheit, steht es ihr nicht frei, sich gedankenlos zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten; zumal als Menetekel im Namen eines fragilen Subjekts. Deshalb gelten Adorno musikalische Praktiken einer Auflösung des Werkcharakters ihrerseits als gewaltsame Demontagen eines letzten Rests an Subjekt: Manifestationen einer Musik, in der für das „Subjekt und sein Leiden schon kaum mehr Platz ist“, in der „Angst“ in „kaltes Grauen“ umschlägt, „jenseits der Möglichkeit von Gefühl, Identifikation und lebendiger Zueignung“. Solche „Abdankung des Subjekts“ in der jüngsten Musik „verbirgt sich im formalen Apriori, der technischen Verfahrungsweise“: als Triumph der Methode. „So gewinnt die Rationalität ihr Irrationales, das katastrophisch Blinde. Unter der vorgedachten, zugleich opaken und widerstandslosen Allgemeinheit wird der hörende Mitvollzug [...] unmöglich. Die Zeitdimension, deren Gestaltung die überkommene musikalische Aufgabe war und in der richtiges Hören sich bewegte, wird aus der Zeitkunst virtuell eliminiert“.(15) Womit Adorno für die Rezeption Neuer Musik das Re- und Decodieren durch ein strukturell hörendes Subjekt als unerlässliche Bedingung anmahnt.
Natürlich wusste Adorno nur zu gut, wie prekär es um den Faktor Subjekt stand. Unmissverständlich diagnostiziert er, „dass die jüngste Geschichte, die fortschreitende Entmächtigung des einzelnen Individuums bis zur drohenden Katastrophe des Ganzen, den unmittelbaren Ausdruck von Subjektivität mit Eitelkeit, mit Scheinhaftem und Ideologischem überzogen hat“. Während das Subjekt „so tut, als wäre es der Schöpfer der Welt, oder der Weltgrund, ist es, englisch gesagt, fake, bloße Veranstaltung dessen, der sich aufwirft, sich aufspielt, während an ihm real kaum mehr etwas liegt“. Musik, Kunst überhaupt „muss eben jener durch den Ausdruck sich bespiegelnden und damit allemal affirmativen Subjektivität sich entschlagen, die der Expressionismus geradewegs von der Neuromantik ererbte“.(16) Doch gerade weil sich Adorno über die Zerrüttung des Subjekts in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts keine Illusionen macht, vollzieht seine Ästhetik eine Gratwanderung zwischen dem Zerfall des Subjektmonopols einerseits und der Bewahrung des Subjektmoments andererseits. Subjektmoment verstanden als eine mediale Instanz, die dem „Vorrang des Objekts“ in der Konstruktion des Kunstwerks ,beisteht’. Freilich hat Adorno das Subjektmoment zuweilen so stark gewichtet, ja seinerseits monopolisiert, dass der an ihm justierte musikalische Sinn zum Brennpunkt seiner Beschäftigung mit neueren Kompositionen wurde und zur Abwehr einer Dekonstruktionsvielfalt, die die Legierung von Formgedächtnis, Subjektspur und Ausdrucksgestus hinter sich lässt.
Was könnte für Adornos Ideal vom denkenden Werk und seiner expressiven Subjektspur demnach ein Komponieren bedeuten, das sich strukturell gegen Null hin abrüstet? Eine Musik etwa wie die von John Cage? Jedenfalls kaum mehr als eine Regression aufs Vorkünstlerische, aufs „krud Empirische“, mögen ihr Adornos ambivalente, schließlich ratlose Cage-Kommentare auch ein Äußerstes im Ablassen von musikalischer Naturbeherrschung oder eine „polemische Replik auf die Expansion von Verwaltung“ zubilligen.(17) Der Einwand, der Ausschluss des Irrationalen aus der Musik habe selbst etwas Irrationales an sich, der Einwand auch, Cages 4´33 als Präsenzideologie abzufertigen, demonstriere eine seit Nietzsche verdächtige Arbeitsmoral in aestheticis, die den kompositorisch investierten Zeitaufwand mit der Qualität des Werks verrechnen will: solche Bedenken verfangen trotz ihrer theoretischen Reflexion für Adornos konkrete Analysen wenig. Für Adorno „opfert“ Cages „amorphes“ Aufgeben von Organisation und Artikulation „Logik und Stimmigkeit“, um sich als ohnmächtige Entlastung des geschwächten Ichs „dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität“ zu überantworten.(18) Musik bleibt für Adorno einer mimetischen Logik verschwistert, die besonders in seinen Cage-Wertungen an Hegels Feier der Vermittlung als der Essenz des Geistes im Gegensatz zur geistlos unvermittelten Natur erinnert.
Schottet sich aber nicht genau diese Anspannung des Denkens gegen die Semantik exhaustiver Strukturen ab? Gegen Strukturen nicht nur im Echoraum der Stille, sondern – wie in der Paramusik von Cages 4´33 – als Echoraum einer wenn auch niemals absolut zu realisierenden Stille? Gegen die Verstörungen des Rauschens und Ausbleichens der Mnemonik und ihrer komponierten Sinndichte? In Reaktion auf eine Welt, der alles kommunizierbar, weil kommerzialisierbar scheint? Die an Tönen und Signalen, an Zeichen und Sprachen und ihrem pausenlosen Akzeptanz- und Dechiffrierungsgebot erstickt, dessen Sinn-Normen stets auch Macht-Normen sind? Dass gegen die Vermarktungsstrategie des Sinns und seine hohen Wiedererkennungswerte, ja gegen den Sinn als Vermarktungsstrategie die Gedächtniserosionen der ästhetischen Praxis nicht nur zu einer Kraft der anästhetischen Abstinenz, sondern zur autonomen Qualität werden, irritiert den Imperativ ständiger, geistpräsenter Vergegenwärtigung. Und es irritiert das Verlangen des Verstandes nach Sinnsättigung; eine Irritation, die das an Segmentierung, Vernetzung und Konsolidierung gewöhnte Gedächtnis seiner Sicherheiten entwöhnt; zusammen mit einer Umwertung der Kategorie der Komplexität, die mittlerweile noch anders zu verstehen ist als nach den Grundsätzen einer ereignisgedrängten, subjektgesteuerten Werkfaktur; anders also als nach Art technisch und methodisch hochgerüsteter Werke gleich den komplexen Spiegeln einer komplexen Welt: nämlich im Gegenteil als eine selbstreflexive und eben darin ihrerseits komplexe Zurücknahme von Komplexität. Adorno musste an solchen Kompositionen scheitern, weil er sie einer Sinndirektive anmaß, deren Demontage für ihn der Affirmation des Sinnlosen gleichkam. Dass Adorno die Formung eines hochdifferenzierten Materials, das Medium des Subjekts, die Konsistenz des Werkorganismus und eine Hegel verpflichtete Idee der ästhetischen Wahrheit nie aufgegeben hat, lässt immerhin fragen, inwieweit hier der Philosoph den Musiker Adorno blockiert.
Auflösung von Sinn heißt zunächst die Historisierung einer überkommenen Bedeutungsmatrix. Das Ausfransen und Ausflocken von Sinn erzeugt indes kein Jenseits, sondern fürs Erste eine andere, eine fragile Topik des Sinns, mag sie, gemessen am herrschenden Kanon, zunächst auch sinnlos wirken. Sinn als Produkt einer sämtliche soziale Bereiche durchdringenden Episteme bindet Kunst in die kulturellen Codes ihrer Zeit ein. Insoweit ist Adorno zuzustimmen, jedes Kunstwerk konfiguriere sich noch in der Sabotage des Sinns zum Sinnzusammenhang. Nicht-Sinn ist ein approximatives, tendenzielles Phänomen. Und doch handelt es sich bei Adornos Ästhetik des Sinns um eine Sicht, der zufolge die „Geschichte der neuen Kunst“ um einen „metaphysischen Sinnverlust“ kreist.(19) Mit dieser Figur des Mangels freilich ist das meiste an aktueller künstlerischer Produktion nicht mehr adäquat zu rezipieren; noch weniger damit, es wie zur Legitimation soziologisch rückzubinden, sofern „den Kunstwerken aufgebürdet“ sei, „wortlos festzuhalten, was der Politik versperrt ist“.(20) Dass die „Wahrheit“ der „avancierten Musik“ eher darin aufgehoben sei, „durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft“ zu dementieren, als „von sich aus positiven Sinnes mächtig“ zu sein, wäre eine dieser Rückbindungen(21), mit denen Adorno seine Mischung aus Faszination und Irritation und seine Reserviertheit gegenüber dem Neuen so mancher Gegenwartsmusik intellektualisiert.
Während noch in der späten Wiener Schule die Vernetzung der traditionsgeladenen Signifikanten Klang, Rhythmus, Phrasierung, Motiv oder Thema das Signifikat einer wie immer gebrochenen Affektsprache ausformt, ist die Einheit dieser differenten Wechselwirkung etwa bei Morton Feldman längst in eine selbstreferenzielle Signifikanz übergegangen; in das, was der Komponist das „Abstrakte“ nennt.(22) Deshalb wirkt die These vom Sinn, dem nicht zu entrinnen sei, abwehrhaft verallgemeinernd, solange sie ausblendet, dass es ein gravierender Unterschied ist, ob sich das ästhetische Sensorium wie bei Feldman auf die musikalische Struktur hin decodiert, also gleichsam leer wird und seinen konstruktiven Besetzungszauber aufgibt, oder ob es die Struktur auf die Kohärenzökonomie seiner „produktiven Einbildungskraft“ hin recodiert, um das Werk – Adorno nennt als eigene Grenzerfahrung Weberns Streichtrio – hörend mitzukomponieren.(23) Vielleicht zeigt deshalb Adornos Ideal vom ,richtigen Hören’ am nachhaltigsten seine Auffassung vom Subjektstatus. Die detektivische Aufmerksamkeit, die in steter Wachsamkeit und Intimität das Komponierte entziffert, ist jener theologischen Achtsamkeit verwandt, die jede Nuance des göttlichen Worts zu vernehmen hat. Und sie geht davon aus, dass der Rezeption auf Seiten der Musik eine durchzuhörende Textur zu entsprechen habe. Mit dem Ende des rhetorisch-syntaktischen Stils aber wird das souveräne und prophetische Hören und seine Allianz von Mnemonik und Sicherheit außer Kraft gesetzt, bis Cage schließlich jede Rücksichtnahme auf geschmackspsychologische „likes and dislikes“ aufgibt. Heute verlangt Musik vom Zuhören immer mehr, „dass es auftauchen lässt“(24), und weist mit dieser Gelassenheit in eine Richtung, die Adorno selbst einmal die „opferlose Nichtidentität des Subjekts“ genannt hat.(25)
Erinnern wir uns mit dieser Figur der Nichtidentität an das, was ich eingangs das Überschreitungspotenzial der Philosophie Adornos genannt habe. Dieses Potenzial lässt ja insbesondere in den späten Essays Adornos Ansätze einer neuen Wahrnehmungssemiotik erkennen, und zwar über den Graphismus der „Schrift“. „Schrift“ wird Musik durch den „Verzicht aufs Kommunikative“.(26) Und selbst wenn Adorno bis zuletzt einer äußersten Durchbildung der Werke das Wort redet: Musik weitet sich nun zu einer „veränderten Gestalt des Expressiven“; „unabhängig von der signifikativen Beziehung auf ein Auszudrückendes“ und einem „sich ausdrückenden, mit sich identischen Subjekt“. Im „Absterben ihrer nachahmenden Momente“ bis hin zu denen „traditioneller Expressivität“ wird Musik zum ,Schema’ einer „nichtsubjektiven Sprache“.(27) Dass die „Unmenschlichkeit der Kunst [...] die der Welt überbieten [muss] um des Menschlichen willen“, wie noch die Philosophie der neuen Musik fordert(28), spannt sich jetzt auf den ,reinen, beredten Naturlaut’ hin, indem Musik „mit menschlichen Mitteln das Sprechen des nicht Menschlichen realisieren“ will.(29) Musik nähert sich einem „Unbekannten“, von dem her sich Adornos Ästhetik für einen Augenblick vom Trauma des „Schmerzes und der Negativität“ löst.(30) Ergibt sich hier nicht zumindest eine Seitenperspektive im Werk Adornos, weit genug, um die Sinnregie und Sinnrate im arbeitenden Bewusstsein des leidfixierten, ,denkenden’ Meisterwerks und seiner Rezeption noch auf eine andere Musik hin zu öffnen? Auf eine Musik, die wie diejenige Feldmans Kant darin aktualisiert, dass sie die Sphäre der Kunst qua Gewaltenteilung von ethischen und soziologischen Belangen entbürdet und damit eine neue Art ästhetischer Imagination erschließt?
War Musik die Jahrhunderte hindurch eine hohe Schule des Gedächtnisses, thematisiert Feldman das Gedächtnis selbst: seine Vernetzungsarbeit, seine Engramme, Leerstellen und Zeitfenster. Im Namen des ästhetisch Erhabenen der Moderne verflüchtigt der ,große Maßstab’ seiner späten Kompositionen Wahrnehmung zu einem Nullsummenspiel aus Déjà-vu, fausse présence und „verfälschter Assoziation“(31). In den Patterns einer nichtnarrativen Musik und ihren Reibungen zwischen Bewusstsein und Gedächtnis verliert sich der teleologische Zug, der die Einzelmomente zu Funktionsträgern einer Idee organisiert: ein Zug also, den Feldman noch in der finalen Desintegration seines knapp fünfstündigen String Quartet (II) als zu „ideenorientiert“ aufspürt. Feldmans nicht mehr durchhörbare Musik versiegelt sich gegen die Innerlichkeitsform des Gedächtnisses. Zudem gibt sie nicht mehr vor, in ästhetischer Stellvertretung gesellschaftliche Konflikte thematisieren, gar beeinflussen zu wollen. Ihre Paramnemonik bezieht sich weder auf das Katastrophische noch auf das Sprachlose am Rand des Verstummens oder den Ausdruck des Ausdruckslosen, auf keine Kontexte also, die Adornos Ästhetik präskriptiv für Feldmans Musik anbieten würde. Wobei der Einwand, Adorno habe Feldmans Spätwerk nicht gekannt, von der Ästhetik Adornos selbst entkräftet wird, sofern ihr postulatorischer und prohibitiver Anspruch zukunftsweisend auftritt.
Natürlich ist Feldmans Musik kein neurobiologischer Versuch, auch wenn sie die Ortungs- und Ordnungsfilter des Gedächtnisses durchsiebt und mit ihrem Modulieren von Mikrovarianten investigative Hörgewohnheiten außer Kraft setzt. Damit sich aber zerlegbare und beherrschbare „Form“ zur „Skala“, zur „Proportion“, zum „Maßstab“ transformiert, deren Wahrnehmung eher mit einem ungedeckten, unwägbaren Geschehenlassen als mit Kontrolle zu tun hat(32), muss das Gedächtnis in einer „disorientation of memory“(33) sich selbst fremd werden: und zwar dadurch, dass Feldmans jeder industrialisierten Zeitempfindung zuwiderlaufende Stücke Form als kalkulierbares Terrain deformieren und mit ihr Zeit und Identität dekonturieren. So wird Feldmans Spätwerk „between time and space, between painting and music, between the music’s construction, and its surface“(34) zu einem Komponieren des Weder/Noch. Mit der Dichotomie von Kohärenz und Inkohärenz, von Identität und Nicht-Identität ist dieser Musik nicht mehr beizukommen; einer nomadischen Musik, die als „Kunstform“(35), anders als die gängig proportionierten „Musikformen“, kognitive Standards zersetzt: in Perspektive auf eine „real good, very sophisticated memory“.(36) Darin für das Fassungsvermögen ähnlich überdeterminiert wie die Musik John Cages, die uns, so der Komponist, als eine Entstereotypisierung der Wahrnehmung beim Vergessen hilft, um nicht in der Standardisierung zu versinken. Warum das Gedächtnis zum Königsweg der Identität verklären, wenn Identität ephemer ist und Sinn ein Effekt, eine Variable der Konvention ohne ontologische Patina? Gedächtnis reimt sich ästhetisch auf Genese. Es zehrt sich auf, indem es sich erzeugt.
Erst sekundär wird solches Komponieren als fait social lesbar: als Verwischen syntaktischer Sinnspuren etwa oder als eine Entmythologisierung von Bewusstsein und Erkenntnis, ihrem „Gleichmachen“ und „Assimilieren“(37) im Dienst von Nivellierungs- und Selbstbehauptungsstrategien. Die Frage, ob Feldman wie Beckett etwas mit dem Endspiel des Subjekts zu tun habe, wird einem Komponieren gegenüber zweitrangig, dessen Klangbahnen gewohnte Integrationsleistungen des Gedächtnisses außer Kraft setzen, samt ihrem Ritt der Bilder und ihrem Tanz der Begriffe. Einzig auf sich selbst als ihre eigene Wahrnehmungs- und Deutungsmaterie gerichtet lässt Musik die rezeptive Imagination in offener, abstrakter Spur durch die mnemonischen Maschen der Konstruktion gleiten. Musik drückt nicht mehr etwas aus. Sie verweist auf keinen ihr vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Frei von der Heteronomie rhetorischer Sinngebung verweist ihre Immanenz weder auf ein Objekt noch gehört sie dem Subjekt alter Fasson an. Wenn Feldmans Spätwerk patterns gegen die Tradition des syntaktisch-musikalischen Sinns verschiebt, indem es Musik hindert, syntagmatisch zu gerinnen, dann zieht der Konkurs des Narrativen den der ästhetischen Repräsentation nach sich. Jetzt verlangt musikalische Textur ein anderes Verständnis als jenes, das das „Gewebe“ als einen „fertigen Schleier“ auffasst, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält“. Musik lanciert eine „generative Vorstellung“, wobei ihr „Text“ durch „ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“(38)
Bleibt die Frage, was die Entdialektisierung der Musik für das negativdialektische Integral von Adornos Ästhetik bedeutet. Ich denke, zunächst einmal folgendes. Erst wenn die Theorie durchschaut, dass – wie in Adornos Auseinandersetzung mit der Musik nach 1945 – eine kryptoethische Ästhetik unter dem Patronat soziologisch vorentschiedener Gesellschaftsanalysen am Hören des Neuen Neuer Musik hindert: erst dann werden Stille und Zufall nicht mehr mit der Preisgabe des Subjekts oder einer Feier des Vergessens nach Maßgabe von Adornos doppeltem Sinnverständnis verwechselt. Obzwar Adorno den doppelten Sinnbegriff schon bei der Wertung von Schönbergs und Strawinskys Musik überstrapaziert – und doppelter Sinnbegriff heißt eine Spaltung des Sinns in eine Affirmation des Sinnlosen und eine Kritik des Sinnlosen durch das Sinnlose hindurch: vollends versagt die Sondierung des Entweder/Oder im Fall eines Komponierens nach der Auflösung der sprachgestischen Syntax, im Fall eines Komponierens also, das nach dem Ende dessen, was Nietzsche das Symbolische der Musik nennt, die Demarkation zwischen Sinn und Sinnlosigkeit unterläuft. Wenn Adorno noch 1966 postuliert, „im Kunstwerk hat die Negation des Sinnes ihr Recht einzig als ihrerseits sinnvolle“(39), richtet sich dann diese Maxime nicht doch in erster Linie am Paradigma der Sprache aus, trotz Adornos Unterscheidung von „Sprachcharakter“ und „Sprachgestik“? Und resultieren – um einen Nebenschauplatz zu streifen – die musikalischen Monographien Adornos, gipfelnd im Mahler-Buch, nicht gerade aus der untergründigen Korrespondenz zwischen der syntaktischen und syntaxähnlichen Qualität im verbalen und musikalischen Sprachcharakter? Während mit dem Zerbrechen der semantischen Analogien von Sprache und Musik in zeitgenössischen Kompositionen auch die großen Einzelanalysen Adornos in allgemeintheoretische Reflexionen übergehen?
Adorno vorzuwerfen, seine Arbeiten zur Neuen Musik seien mehr über als in den Sachen, klingt zunächst absurd. Hat nicht Adorno die Abstraktionsgewalt des Begriffs im Bereich der Ästhetik rigoros aufgedeckt? Und doch verwehrt der Limes des Dialektikers die Überschreitung so mancher Traditionsgrenze. Vor allem Adornos an Hegel wie an Beethoven geschulte Stringenz der Durchformung, die dem Subjektcharakter des Werks zur Signatur des Geistes wird, kollidiert mit einem Komponieren, das subjektcodierte Sinndepots auflöst. Insbesondere ist es, um mit Adorno gegen Adorno zu formulieren, die Tour de force einer in allen Teilen „gleich nah zum Zentrum“ gewichteten, unauflöslichen Engführung von Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik, die als ein Prinzip der Überlastung alle exegetischen Komponenten „verhext“.(40) Von diesem Vermittlungssoll her greift nicht nur in Adornos Sinnverständnis, sondern generell in Adornos Rekurs auf zeitgenössisches Komponieren das Erkenntnisregime der Sprache allzu souverän auf die Musik über. Sosehr Adorno die Abstraktionsrendite des Begriffs auch erkenntniskritisch entlarvt: unterwirft sich seine Deutung Neuer Musik nicht dem philosophischen und soziologischen Primat, sofern diese Deutung weniger von der Musik her flüssig gehalten wird, die musikalischen Phänomene vielmehr von der Theorie in die Pflicht genommen werden? Nicht selten fühlt man sich bei manchen Argumentationen Adornos an Goethes Satz von den „Theorien“ als den „Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes“ erinnert, „der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen [...] Begriffe [...] einschiebt“.(41) Umgekehrt zermürbt die extreme Bilderlosigkeit Neuer Musik den Begriff, indem sie seine zum Sinn gezwungene und zum Sinn zwingende Sprache auf Distanz hält. Wie sehr sich Adorno darüber im Klaren war, zeigt seine häufige Konnotation der „Kündigung des ästhetischen Sinns“ mit dem Ende der „äußeren und inneren Abbildlichkeit der Kunstwerke“.(42)
Auch Feldmans Kompositionen sensibilisieren für die Hegemonie der philosophischen Spekulation über das ästhetische Phänomen und für ein Ritardando des theoretischen Zugriffs. In dieser Sensibilisierung zeigen sich der Widerstand einer Musik „between categories“(43) gegen die Synthesis des Urteils, sei dieses auch noch so sehr vom Riss des Nichtidentischen durchzogen, sowie die Spannung zwischen ästhetischer Logisierung und aisthetischer Erfahrung. Wenn etwa, um adornonahe Beispiele zu nehmen, Stockhausen davon spricht, dass stete Wiederholung und dauernder Kontrastwechsel auf Nivellierung und Neutralisierung hinausliefen, oder Ligeti davon, dass mit der Freiheit eines Konzepts, mit dem Anwachsen seiner möglichen Realisationen deren Unterschiedslosigkeit zunehme, weil Veränderung und Besonderheit im Bereich des X-Beliebigen fiktiv seien, dann schreiben solche Begründungen die Logisierungsoperationen des alten Erkenntnis- und Empfindungssubjekts fort und mit ihnen den Übergriff des Begriffs auf eine statisch gedachte Geschichte des Hörens. Seitdem hat sich die Asymmetrie zwischen der sinnvernetzten Sprache, ihrer auf Aussage und Wahrheit zielenden Resultante, und einer Musik, die zum Zeichen ihrer selbst wird, ständig vergrößert. Eine Asymmetrie, auf die Feldmans alles andere als ironische Bitte reagiert, man solle es bei statistischen Analysen seiner Kompositionen belassen.(44)
Mit Goethe wäre die übergreifende Macht, die Hegel dem Begriff attestiert, in ihrem anthropozentrischen Verlangen zu entdecken: Der theoretische Geist ist „ein wahrer Narziss; er bespiegelt sich überall gerne selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter“.(45) Adorno wusste nur zu gut, wie sehr die Sprache der Philosophie zunächst sich selbst zuhören will. Ihrer Geschlossenheit nach geht jede Theorie im Harnisch. Unter dem Harnisch aber „Bewusstsein bis in alle Falten“.(46) Dass die Theorie von der Theorie gesprochen wird, dass sich der spekulative Gedanke ebenso autonom wie autistisch geriert, löst ja gerade Adornos Gegenbewegung des ,Mit-dem-Begriff-gegen-den-Begriff-Denkens’ aus. So hat man beim Lesen der Ästhetischen Theorie den Eindruck, als wollte sich die parataktische Entregelung des Textes insgeheim zum Kunstwerk transformieren; als wollten die Urteilsbahnen eine Sprache ohne argumentativen Aufschub ausloten, um sich ihrem Sujet, den ästhetischen Phänomenen, anzuverwandeln.
Sosehr freilich Adorno den Diskurs der Ästhetischen Theorie azentrisch entgrenzt, sosehr setzt seine eigene Auslegung des Texttableaus auf einen Gravitationsschwerpunkt. Gruppiere doch die Ästhetische Theorie ihre „gleichgewichtigen, parataktischen Teile“, die „konzentrisch“ in ihrer „Konstellation“, nicht in ihrer „Folge“ die „Idee“ ergeben, „um einen Mittelpunkt“.(47) Selbst wenn dieser Vermerk zur Form der Ästhetischen Theorie von einem atopischen Mittelpunkt ausgeht, der aus der Konfiguration der Gedanken resultiere: weshalb besetzt Adorno die Konstellation des Textes überhaupt mit der Attraktion des Mittelpunkts? Wer sonst als Adorno hätte so leidenschaftlich für die Parataxe plädiert, die Hegel noch als ein Stigma der Natur gegen den Geist abwertet? Wer sonst außer Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein hätte die Nötigung des Denkens so scharf in den Blick genommen? In der Einsicht, dass die „Gedanken“ ihrer „logischen Stringenz“ nach immer auch unfrei sind, „Gewalt“, „Zwang dem Gedachten gegenüber ebenso wie dem Denkenden“. Während doch Denken, des „Identitätszwangs ledig“, vermutlich sogar einmal der „Kausalität entriete, die jenem Zwang nachgebildet“ ist.(48) An Kompromisslosigkeit lässt dieser Passus wahrlich nichts zu wünschen übrig. Umso verwunderlicher, dass es Adorno selbst auf dem kausalitätsfernen Gebiet der Musik nicht möglich war, die Streuungen des methodischen Zufalls – keinesfalls, wie die Impromptus notieren, des „reinen“(49), der schlicht undenkbar ist – oder die Abweichungen vom Prinzip einer qualitativ artikulierten Zeit als parataktische Radikalität zu hören und vom Makel des Geistlosen freizusprechen. Oder, von Spinoza und Goethe her, als eine Überdeterminierung, die die Arbeit des Verstandes überfordert und dadurch herausfordert. Oder eben als eine Verwerfung der Hypotaxe und damit als eine Verwerfung, die den Mittelpunkt an jedem Ort und zu jeder Zeit setzt, folglich den Mittelpunkt als Mittelpunkt zur Energie der Momente aufhebt. Fast scheint es – um die Kluft zwischen klassischer und moderner Physik als Vergleich heranzuziehen – als wäre Adorno auf die Gesetzmäßigkeiten der musikalischen Makroebene fixiert geblieben, mit entsprechenden Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich des Mikrobereichs eines Komponierens, das Stockhausen in den 50er-Jahren nicht zufällig mit der Terminologie der neuen Naturwissenschaften kommentiert hat, mit Begriffen wie „Feld“, „statistischer Formvorstellung“ oder „Eigenzeit“.
Was als Kommentar Adornos zur Disposition der Ästhetischen Theorie noch marginal bleibt, weil die Streuung des Textes den theoretisch behaupteten Mittelpunkt ignoriert: für Adornos Philosophieren über Neue Musik dürfte die Ortung auf ein Zentrum hin weniger irrelevant sein. Abgesehen davon, dass Jacques Derrida gezeigt hat, wie selbst unscheinbare Diskursmuster den Zeitkern philosophischer Texte aufbrechen lassen und in ihrer Begriffspolyphonie historisierende Stimmen freisetzen: Adornos Mittelpunktsfigur, deren Spur auf Hegel hin lesbar wird, einfach als eine Wendung en passant zu ignorieren, verunmöglicht allein schon die Häufigkeit, mit der sie der Sprach- und Reflexionsartist Adorno im Lauf der Jahrzehnte als suggestive Formel wiederholt.(50) Gerade auch in der Auseinandersetzung mit Neuer Musik. Obwohl Adornos Äquidistanzmodell des „Alles gleich nah zum Mittelpunkt“ die Relation zwischen den Einzelmomenten zur Konfiguration entbindet und damit variiert, was er an Benjamin als die Fähigkeit rühmt, „das Zentrum unablässig in die Peripherie zu setzen, anstatt das Periphere [...] aus dem Zentrum zu entwickeln“(51): der Mittelpunkt bleibt bei Adorno schon infolge der lokalen Präposition qualitativ abgehoben vom Tableau der Ereignisse. Oder sollte man sagen: transzendent in einer Weise, in der die Philosophie der neuen Musik über die „Nähe und Ferne vom Mittelpunkt“ spricht?(52)
Dass für Adornos Analysen Neuer Musik die Figur des Mittelpunkts eine Rolle spielt, hängt mit der bereits mehrfach erwähnten Idee einer qualitativ artikulierten Zeit und der des kairós zusammen. Mit ihm rechnet Adorno in der Kunst wie in der Theorie: offen seinem Erscheinen wie seiner Gestalt nach, offen für die Befreiung vom Bann und offen, seiner antigriechischen Lesart nach, für die Katastrophe. Dass Neue Musik sich der Epiphanie des kairós gegenüber eher asketisch verhält – er wäre ihr zu subjektzentriert, zu sinnbezogen –, bedingt für Adorno, dass eine Komposition, in der die „Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks [...] die Gestaltung nach Erwartung und Erinnerung überwiegt“(53), zwar permanente Mittelpunktsnähe realisiert; weit mehr aber riskiert sie im Zerfall der subjektdramatischen Zeit eine letale Statik ohne „Entwicklung“. In ihrer amorphen Dichte wird Musik zu einer Kunst der „gesellschaftlichen Entropie“, ähnlich dem „totalen Funktionszusammenhang“ der „monolithischen Gesellschaft“, in deren ,offener Irrationalität’ die „universale Abhängigkeit aller Momente von allen die Rede von Kausalität als veraltet überholt“, eben weil „alles gleich nah zum Mittelpunkt“ ist.(54) So suggestiv diese Darlegung fraglos ist: auch hier verstellt die dialektische Armatur die Wahrnehmung. Wie sehr Adornos Figur des Zentrums innerhalb der Geschichte der Moderne und ihrer Auflösung mittelpunktsstabiler Milieus vom theologischen Index der Dialektik und vom erkenntnistheoretisch sublimierten Schatten des gut und böse belastet ist, äußert sich darin, dass der hierarchische Akzent des „Alles gleich nah zum Mittelpunkt“ lediglich ambivalent-polare Besetzungen erlaubt: entweder als Intensität oder als Erstarrung, entweder als befreite Zeit oder als sinnleere Statik.
Weshalb verweigern sich Adornos Deutungsextreme den Nuancen zwischen Erstarrung und Entwicklung, wie sie zeitgenössisches Komponieren doch überwiegend interessieren? Wird das Denkbild des Mittelpunkts als transzendenter Überhang nicht zur blinden Stelle eines Philosophen, der gegen Hegel mit Hegel denkt und im dialektischen Raster das Neue der Neuen Musik aus dem Ohr verliert? Jenes Neue, dem das Modell vom mittelpunktslosen Rhizom wesentlich näher kommt? Und dies nicht nur, weil hier eine auffällige Korrespondenz zwischen Musik und Philosophie vorliegt. Jedenfalls scheint es plausibel, dass das Erkenntnisinstrumentarium des Rhizoms bei Deleuze/Guattari nicht unwesentlich von Boulez’ Verfahren der „Wucherung“ beeinflusst ist.
Lassen Sie mich hier meine Kritik am Zentrumsaxiom Adornos mit einem kurzen Verweis auf Karlheinz Stockhausen erläutern. Zweifellos gibt es ja – historischen Parallelen zufolge – einen Bezug zwischen Adornos Mittelpunktsfigur und Stockhausens „Momentform“. Adorno wie Stockhausen geht es dabei um die Aussetzung von Vermittlungshierarchien, Rangfolgen und Brückenfunktionen.(55) So intendiert Stockhausens „Momentform“, „im Unterschied zum Stufenschema der finalen Form sofort intensiv“ zu sein, konzentriert auf das Jetzt, das in seiner Fülle zeitlos wird, und das „in jedem Moment“.(56) Entscheidend ist allerdings, dass Stockhausen, und mit ihm die Musik, ohne die Idee des Mittelpunkts auskommt, während Adornos Theorem das Zentrum nie in Frage gestellt hat. Spricht Stockhausen von der ,Zentriertheit’ eines jeden ,Jetzt’, argumentiert er – anders als die Gravitationsordnung Adornos – in der Tradition des Cusanischen „omnia ubique“. Das heißt in der Tradition eines azentrischen Universums mit der republikanischen Mittelpunktspotenz jedes einzelnen Moments. Und was die Musik betrifft, so liegt der Mittelpunkt etwa in Stockhausens Orchesterstück Punkte von 1952 in mittelpunktsloser Immanenz überall und nirgends, dynamisiert von einem Energiefeld transversaler und vektorieller Kräfte, in dem „alles [...] Hauptsache“ wird: „kein Formglied soll über das andere herrschen“.(57)
Zirkuliert aber, wo alles Mittelpunkt ist, Adorno zufolge nur noch Peripheres in einer Formation des Immergleichen? Endet unentwegte Intensität nicht in Redundanz und Statik? Gibt es nicht, wenn „alles Hauptsache“ wird, nur noch Nebensächliches? Oder verfängt sich die Widerspruchslogik solcher Argumentationen in dualistischen Sprachfallen, die die Struktur der Musik verfehlen? Zumal die Aussage ,Alles wird Nebensache’ konträr zur Aussage „Alles wird Hauptsache“ wertet – nämlich in Richtung einer Subordination des Nebensächlichen? Natürlich steuert Stockhausens Synergie der Punkte keine automatenhaft unveränderte Dichte, sondern Mikroprozesse, deren Fluktuation jenseits von Kausalität und Folge und einer vergleichsorientierten Wahrnehmung gehört werden wollen: entsprechend der Organisation einer punktuellen Musik, die „keine Wiederholung, keine Variation, keine Durchführung, keinen Kontrast“ kennt und damit keine „,Gestalten’ – Themen, Motive, Objekte [...], die wiederholt, variiert, durchgeführt, kontrastiert werden [...]. All das ist [...] aufgegeben worden. Unsere Welt – unsere Sprache – unsere Grammatik“.(58) Die Konsequenz dieser Diagnose wird klar, liest man sie von Nietzsches Götzen-Dämmerung her: „Ich glaube, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ Mit der Aufhebung letzter Rudimente einer tonsprachlichen Grammatik hat sich Musik endgültig säkularisiert. „Heidnisch“ und „mittelpunktslos“ ist sie, zugespitzt formuliert, keine „schuldig machende Mnemotechnik“ mehr.(59) Damit lässt sie den vom Baum der Erkenntnis her tradierten und vom Platzhalter des Mittelpunkts fixierten moralischen Kodex der Dialektik als binäres Sprachspiel des ästhetischen Begriffs ins Vage laufen – über die begrifflich irreduzible Präsenz der Werke hinweg. Nicht nur Stockhausen Punkte machen erfahrbar, wie schnell eine vom Satz des Widerspruchs bestimmte Exegese der Musik nach 1945 sich in formallogische Finten verkehrt. Umso bemerkenswerter, dass Adorno im Umfeld seiner Zentrumsfigur selbst immer wieder unbefragt die Grenzen einer Grammatik akzeptiert, die das Denken auf den platonisch-aristotelischen Kanon der Zweiwertigkeit reduziert: indem beispielsweise eine Musik, „in der jeder einzelne Ton durchsichtig durch die Konstruktion des Ganzen determiniert“ und „gleich nahe zum Mittelpunkt“ ist(60), gemäß der Äquivalenz von Determinismus und Statik und gegen die Emanzipation des Hörens als ein zufallshöriger Verlust des „Unterschieds von Essenziellem und Akzidentellem“ bilanziert wird(61) – mit der Agonie eines ,Stillstands der Dialektik’.(62)
Wenn Hegels Philosophieren in der Parataxe, bis hinein in die Konstellation der Sterne, die Anarchie des Zufalls argwöhnt – so als drohe ein Putsch der maßlosen Peripherie gegen den heliozentrischen Kosmos –, erzeugt dann das solare Licht der positiven Dialektik nicht auch einen Blendschatten in Adornos negativer?(63) Reibt sich Adornos Ästhetik nicht gleichermaßen an der subjektlosen Naturwüchsigkeit des Zufalls? Für Hegel jedenfalls verweigert sich die ,unbestimmte Vielheit’ der Sterne dem „Streben [...] nach einem Ort als Mittelpunkt“. Auch hier spielt also das Organon vom Zentrum eine Rolle, sofern für den Philosophen des Geistes und der Hypotaxe der stellare Kosmos im Gegensatz zum mittejustierten Sonnensystem nichts weiter als ein „Licht-Ausschlag“ ist und als eine Art Krätze des Firmaments ebenso wenig „bewundernswürdig“ wie ein ,Ausschlag am Menschen’ oder eine „Menge von Fliegen“.(64) Zudem zeigt die „formelle Repulsion“ der Sterne einmal mehr Hegels Gleichung zwischen Parataxe, geistferner Natur und jenem „Zufälligen“, das „verschwinden zu machen“ die Hauptaufgabe „des Begriffs und der Philosophie“ ist.(65) Sind doch „die Sterne“ ein exemplarisches „Feld [...], worin das Zufällige einen wesentlichen Einfluss auf die Zusammenstellung hat“.(66) Man muss nicht sonderlich spekulieren, um zu vermuten, wie nah sich über die Zeit hinweg Hegel und Adorno bei der Beurteilung einer stellar gestreuten Musik wie der von Cages Atlas Eclipticalis wären, zumal Adornos Auseinandersetzung mit den kompositorischen Methoden des Zufalls die Diagnostik der Dialektik der Aufklärung in die Ästhetik hineintreibt, unbeirrt davon, ob denn gesellschaftliche Irrationalität mit dem aleatorischen Formenkreis der Musik gleichzusetzen sei. Obschon Adorno die ästhetische Kritik direkt in die soziologische übersetzt, wonach ein Teil der „jüngsten Musik“ als „Seismogramm der Realität“ am „Schein“ der Kunst „rüttelt“(67) und mit der „Flucht“(68) in die „Aleatorik“ den „Rest von Zufall in der universalen Notwendigkeit einbekennt, der gleichen Wesens ist wie die Irrationalität der rationalisierten Gesellschaft“(69); obschon also Adorno den hegelschen Begriffsuniversalismus fortschreibt, ergibt sich noch lange keine plane Relation zwischen sozialen und musikalischen Formationen gemäß einer Dialektik von Integration und Desintegration, von „absoluter Determination“ und „absolutem Zufall“.(70) Außer man zieht mit der Macht der Idee jene Differenz zwischen Kunst und Empirie ein, auf der Adorno um der Autonomie der ästhetischen Mimesis willen doch stets bestanden hat.
Philosophisch verdunkelt die Rede vom Mittelpunkt mehr als sie erhellt. Vor allem seit Adornos Kritik am Serialismus, in der der Grenztopos des Sinns als hermeneutische Mauer symptomatisch wird. Was immer der um des Namens willen namenlos gebliebene Mittelpunkt bei Adorno chiffriert: Längst hat die Entwicklung der künstlerischen Produktion gezeigt, dass sie die Entscheidung zwischen einem „bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk“ und einer „Entfaltung der Wahrheit“(71) hinter sich lassen kann und keineswegs mehr auf dem „perennierenden Leiden“(72) beharren muss, ohne deshalb zum belanglosen bricolage zu werden, differenzlos zu dem, was ist. Musik rechtfertigt sich immer weniger in einer Ethik zweiter Potenz, nachdem sich mit dem Zerfall der Trinität des Guten, Wahren, Schönen das Ästhetische aisthetisch akzentuiert hat – und auch das weitgehend ohne Regression. Feldmans Spätwerk ist schön und erhaben in eins, wenn ich die Termini Kants einmal paradox mischen darf, indem es ,Intimität mit der Größe des Maßstabs’ verschränkt.(73) Wobei die Überforderung des mnemonischen Fassungsvermögens, in der die Tradition des Erhabenen aufscheint, sich nicht wie bei Kant auf „Ideen“ hin transzendiert, sondern ins ,freie’, an sich selbst irrewerdende ,Spiel der Einbildungskraft’ eingebunden bleibt. Eher schon schwingt beim Hören von Feldmans Musik der „Gedächtnisformen“ die Erinnerung an Kants Dynamik der „transzendentalen Schemata“ mit, an ihre ,bilderlose’ und doch ebenso „intellektuelle“ wie „sinnliche Vorstellung“ inmitten der bewusstseinsstrukturierenden Wechselwirkung zwischen Stoff und Kategorien.(74) Als eine Musik fern den gängigen Polarisierungen, die, wie der Komponist anmerkt, als eine Nötigung des Entweder/Oder nicht in der Sache selbst, sondern in der europäischen Tradition des Geistes liegen, ist Feldmans Kunst jenseits der Scheidung nach Wesen und Erscheinung, nach Grund und Oberfläche Nietzsches „tief, aber ohne Gedanken“(75) ungleich näher als Hegels Dramaturgie von Kollision und Versöhnung. Gegen die Rhetorik setzt sie das Ereignis und mutet dem hermeneutischen Wort zu, ,mit ET statt mit EST zu denken’.(76) Sie dämpft die Sinngier der Sprache – „ich versuche, nichts einen Namen zu geben“(77) – und begegnet dem philosophischen Hunger nach Auslegung mit einem Fasten der begrifflichen Semantik.
Resistent gegen die Opposition von Positivismus und Metaphysik ist Feldmans Musik Teil jener „zeitgenössischen Kunst“, die Adorno mit dem „Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod“ charakterisiert(78). Teil einer „Kunst ins Unbekannte hinein, [...] weder heiter noch ernst; das Dritte aber zugehängt, so, als wäre es dem Nichts eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke beschreiben“.(79) Nur wurde dieses ,zugehängte Dritte’ bereits enthüllt, ohne dass die künstlerische Praxis sich an Adornos Fluchtpunkt des von Entzug und negativem kairós gefärbten „Nichts“ hätte orientieren müssen. Von Daseinsapotheosen und Leidensapologien gleicherweise entfernt, spielt für Feldman die „Alternative von Tragik und Komik“ keine Rolle mehr, weil seine Musik sich vom possessiven Souveränitätsverständnis des Subjekts und seiner affektiven Sinnbühne befreit hat. Eher erinnert eine Komposition wie For Philip Guston an den so häufig missverstandenen Schluss aus Foucaults Les mots et les choses, in dem der Mensch verschwindet „comme à la limite de la mer un visage de sable“.(80) Wie bei Kafka schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee dieser Musik die Sirenen, die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel mit Kurs auf viele Ithakas. Was in einer Musik, die nicht mehr auf die Expression von Leiden, auf das „Entsetzen der Geschichte“ oder das „gesellschaftliche Unwesen“ einzuschwören ist, ohne zynisch und menschenverachtend zu sein, als subjektferne Kälte empfunden wird, ist keine Kälte der Musik, sondern eine im Empfinden des rezipierenden Bewusstseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte um seiner emotionalen Selbstbestätigung willen da zu sein. Dagegen löst Feldman die Sinnmacht des Subjekts in Richtung einer Welt, in der der Mensch „nicht immer wieder nur Spuren seiner selbst fände“.(81) Nicht umsonst lässt Boulez´ Methode der Proliferation in der Troisième Sonate pour Piano die Komposition polyvalent und chaotisch wuchern, bis sich „alle individuellen Züge“ in der ,Anonymität verlieren’.(82)
Im Namen eines von der Überheblichkeit des Geistes befreiten Denkens hat freilich Adorno selbst sein Philosophieren einer Odyssee der Gegendiskurse ausgesetzt. Mag auch das Grauen von NS-Terror und Stalinismus auf der Massenbasis des „autoritären Charakters“ zu schwer gewogen haben, um an dem, was ästhetisch eine „Abdankung“ des „Subjekts“ schien, mehr als Enteignung und Verrat wahrzunehmen: selbst noch die vom „Entsetzen der Geschichte“ gezeichnete Physiognomie der Kunst der Moderne, ihr ,Finsteres und Schwarzes’, wird der Ästhetischen Theorie nicht zum Dogma. Aus der Überlegung heraus, ob in der „Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze [...] mit sich führt“, nicht auch „das Gedichtete, Gemalte, Komponierte [verarme]“.(83) Womit wir wieder beim Überschreitungspotenzial einer Philosophie wären, die es für möglich hält, dass der Druck des universalen Leidens und seine ästhetische Präsenz mit dem Verblendungszusammenhang des Status quo kollaborieren könnten. Denn „nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit“.(84) Schließlich weiten sich Adorno gar der ,Verlust der Identität’ und der ,falsche Reichtum’ des Pluralismus zur zweideutig offenen Perspektive. „Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren [die Menschen] die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, dass damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert“.(85) Hatte Adorno nicht 1956 an Hans Magnus Enzensberger geschrieben: „Ich halte mich [...] für alles eher als einen Defaitisten“?(86)
Hegels positive und Adornos negative Dialektik bleiben antagonistisch verfasst, gebunden an Zerrissenheit und Entzweiung. Während Hegel jedoch die an den Widersprüchen sich abarbeitende Bewegung des Begriffs zur Produktion einer weltumspannenden Synthesis ohne wesentliche Restreibungsgrößen entbindet, hält Adorno die traumatischen Risse der Zivilisation als Wunde offen; ohne auf das Gebiet der Rationalisierung überzuwechseln und ohne das Gefühl der Freiheit zu verleugnen, das im Kinderglück von Amorbach und seinem herrenlosen Refugium zwischen der bayerischen und badischen Grenze seinen Ursprung hat.(87) Stets hat Adorno auch philosophisch auf Zwischengrenzbereichen beharrt, die als solche der Atopie denen der Utopie verwandt sind. Dass sich in diesen Refugien manches Reflexionsterrain in ein unwiderruflich verlorenes Niemands- und Brachland verwandelt, bleibt den Verwerfungs- und Enteignungsprozessen der Geschichte des Denkens geschuldet. So geht schließlich auch die metaphysische Enklave vom Mittelpunkt, durch keinen Begriff mehr adäquat zu kartographieren, in einem anderen, zukunftsweisenden Topos des Unbekannten auf, der in den späten Schriften Adornos wie ein theoretisches Mantra wiederkehrt und die künstlerische und wohl auch die spekulative „Utopie heute“ begreift als die Notwendigkeit, „Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“.(88)
Anmerkungen
1 Theodor Fontane, Der Stechlin, Frankfurt am Main 1975, S. 33.
2 An Sinclair, 24. 12. 1798, in: Briefe von und an Friedrich Hölderlin, hg. v. Peter Härtling, Köln 1994, S. 248.
3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus
Michel, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 5, S. 44.
4 An Zelter, 17. 7. 1827, in: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hg. v. Gerhard Fricke, Nürnberg 1949, S. 144.
5 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 37.
6 Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt am Main 1987, S. 41.
7 Adorno, Im Gedächtnis an Alban Berg, in: GS 18, S. 494.
8 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, in: GS 16, S. 632.
9 Adorno, Vers une musique informelle, in: GS 16, S. 527. – Zur Subjektproblematik bei Adorno vgl. auch Johannes Bauer,
Im Angesicht der Sphinx. Subjekt und System in Adornos Musikästhetik, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie
im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995, sowie Johannes Bauer, Seismogram-
me einer nichtsubjektiven Sprache. Écriture und Ethos in Adornos Theorie der musikalischen Avantgarde, in: Gerhard
Schweppenhäuser/Mirko Wischke, Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, Hamburg 1995.
10 Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 121.
11 Adorno, Vers une musique informelle, a. a. O., S. 518.
12 Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 118f.
13 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1 (MEW Bd. 23), S. 618.
14 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 387.
15 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, in: GS 14, S. 378; Hvhbg. J. B.
16 Adorno, Vers une musique informelle, a. a. O., S. 502.
17 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, a. a. O., S. 393.
18 Adorno, Kriterien der neuen Musik, in: GS 16, S. 225.
19 Adorno, Ohne Leitbild, in: GS 10,1, S. 449f.
20 Adorno, Engagement, in: GS 11, S. 430.
21 Adorno, Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 28.
22 Vgl. z. B. Feldman, After Modernism, in: Give My Regards to Eighth Street. Collected Writings of Morton Feldman, Ed. by B.
H. Friedman, Cambridge 2000, S. 74.
23 Adorno, Vers une musique informelle, a. a. O., S. 494.
24 Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 262f.
25 Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, S. 277.
26 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, a. a. O., S. 634.
27 Ebd., S. 635, Hvhbg. J. B.
28 Adorno, Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 125.
29 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 121, Hvhbg. J. B.
30 Adorno, Klassik, Romantik, Neue Musik, in: GS 16, S. 141.
31 Morton Feldman, Essays, hg. v. Walter Zimmermann, Kerpen 1985, S. 167.
32 Vgl. dazu Morton Feldman, Middelburg Lecture, in: Musik-Konzepte 48/49 (Morton Feldman), hg. v. Heinz-Klaus Metzger
und Rainer Riehn, München 1986, S. 61f.
33 Feldman, Crippled Symmetry, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 137.
34 Feldman, Between Categories, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 88.
35 Feldman, Essays, S. 205.
36 Michael Whiticker, Morton Feldman: Conversation without Cage, in: Ossia, 1 (1989), S. 6.
37 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884/85, KSA Bd. 11, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München
1980, S. 645.
38 Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt am Main 1982, S. 94.
39 Adorno, Form in der neuen Musik, in: GS 16, S. 618.
40 Adorno, Der Essay als Form, in: GS 11, S. 28.
41 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen, dtv-Gesamtausgabe, Bd. 21, München 1963, S. 49.
42 Adorno, Die Kunst und die Künste, in: GS 10.1, S. 450.
43 Nach Feldmans programmatischem Aufsatz, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 83ff.
44 Feldman, Middelburg Lecture, a. a. O., S.54.
45 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Hamburger Ausgabe Bd. 6, München 1977, S. 270.
46 Gottfried Benn, Das moderne Ich, in: Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 3 (Essays und
Aufsätze), Wiesbaden 1968, S. 581.
47 Zit. n. d. Editorischen Nachwort zu Adornos Ästhetischer Theorie, a. a. O., S. 541.
48 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 232.
49 Adorno, Impromptus, GS 17, S. 270.
50 Vgl. GS 4, S. 79; GS 6, S. 265; GS 7, S. 156, 228, 449, 541; GS 10.1, S. 25, 166, 242; GS 11, S. 578; GS 12, S. 61, 73,
98; GS 13, S. 244, S. 393; GS 15, S. 94, S. 242, S. 386; GS 16, S. 472, 589, 623, 662; GS 17, S. 25, 90; GS 18, S. 68.
51 Adorno, Einleitung zu Benjamins ‹Schriften›, in: GS 11, S. 570.
52 Adorno, Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 61.
53 Adorno, Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: GS 16, S. 662.
54 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 264f.
55 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 228.
56 Karlheinz Stockhausen, Momentform. Neue Zusammenhänge zwischen Aufführungsdauer, Werkdauer und Moment, in:
Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Köln 1963, Bd. I, S. 198f.
57 Stockhausen, Arbeitsbericht 1952/53: Orientierung, in: Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik,
S. 36.
58 Ebd., S. 37.
59 Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los, Berlin 1979, S. 44.
60 Adorno, Philosophie der neuen Musik, a. a. O., S. 61.
61 Ebd., S. 61.
62 Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1993, S. 38.
63 Zum Verhältnis von Parataxe und Natur bei Hegel vgl. Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu
Beethovens Neunter Symphonie (=Musikwissenschaftliche Studien, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Bd. 8), Pfaffenweiler
1992, S. 145f.
64 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Werke in zwanzig Bänden (wie Anm. 3), Bd. 9, § 268.
65 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in zwanzig Bänden (wie Anm. 3), Bd. 7, § 324.
66 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Werke in zwanzig Bänden (wie Anm. 3), Bd. 9, § 268.
67 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, a. a. O., S. 379.
68 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 166.
69 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, a. a. O., S. 379.
70 Adorno, Impromptus, a. a. O., S. 270f.
71 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, S. 573.
72 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 355.
73 Pie-Slicing and Small Moves. Morton Feldman in Conversation with Stuart Morgan, in: Artscribe, 11, S. 35.
74 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, S. 196ff.
75 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA Bd. 4, München 1980, S. 380.
76 Gilles Deleuze/Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt am Main 1980, S. 64.
77 Feldman, Essays, S. 184.
78 Adorno, Zur Dialektik von Heiterkeit, in: GS 11, S. 606.
79 Ebd., S. 606.
80 Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, S. 398.
81 Sabine Sanio, Autonomie, Intentionalität, Situation. Aspekte eines erweiterten Kunstbegriffs, in: Klangkunst, Handbuch der
Musik des 20. Jahrhunderts, Bd. 12, hg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 1999, S. 118.
82 Pierre Boulez, Wille und Zufall, Zürich 1977, S. 57, sowie Werkstatt-Texte, Frankfurt am Main-Berlin 1972, S. 178.
83 Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 66.
84 Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 396.
85 Ebd., S. 339f.
86 Zit. nach Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2003, S. 621.
87 Vgl. Adorno, Amorbach, in: GS 10.1, S. 305.
88 Adorno, Vers une musique informelle sowie Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, a. a. O., S. 540 und 634.