Zur Phänomenologie der musikalischen Zeit (1)
Ökonomie der Affekte
SWR 2002
Bspl. 1: Puccini, Tosca, 3. Akt
A Puccini, Tosca, 3. Akt. – Rom, Glocken, Morgendämmerung: eine Stadt erwacht. Mein Gott, wie schön!
B Und doch werden die Glocken zum Grabgeläute. Im Ohr der wissenden Hörer zumindest. Die Musik, vom Klang des Morgenläutens getragen, lädt sich doppelsinnig auf und beginnt trügerisch zu changieren. Eine Musik über dem Abgrund, in den die Heldin wenig später springen wird.
A Und wie der Zeitfluss der Empfindung Leben und Tod verschränkt, so verschränkt er über dem Gefälle der Affekte auch Idylle und Terror. Gegen das Glücksversprechen des anbrechenden Sommertags enthüllt sich im Morgengrauen das Grauen eines Morgens, an dem die vermeintliche Scheinexekution so tödlich sein wird, wie die Gegenutopie des Todes es nur sein kann.
B Trotz der räumlichen Weitung durch nahe und ferne Glocken – elf an der Zahl, deren unterschiedliche Distanzen die Partitur minutiös vermerkt – und trotz der gegensätzlichen Stimmungsvaleurs: das harmonisch-rhythmische Geschehen der Musik und ihr Motivverlauf bleiben auf die Einheit der Zeit hin abgestimmt:
A Knapp zehn Jahre später, 1907, im Vorspiel zu L'Heure espagnole, Ravels Einakter vom erotischen Verlangen und Versagen, wird der Strom der Affekte bereits mechanisch eingefärbt. Vor einem Schleier schweifender Akkordgirlanden, metrisch zwischen 5/4 -, 3/4 - und 6/4 -Takt schwebend, entfaltet die Introduktion dieser Comédie musicale eine polyrhythmische Verzahnung, an der unter anderem auch drei Uhren beteiligt sind, die exakt zu ticken haben.
B Nämlich mit jeweils 40, 100 und 232 Schlägen pro Minute und einer Übereinstimmung der Schläge auf jeder 18. Viertelnote bzw. alle 15 Sekunden.
A Eine ironische Einfärbung der Affekte demnach, eine hintergründige Verwechslung von Trieb und Getriebe, ein Stimmengewirr,→
B ← das freilich mit der Präzision eines Uhrwerks geordnet ist. Eine kontrollierte Gleichzeitigkeit, die die Zeitverläufe der Orchesterinstrumente und die zauberhaft beseelte Mechanik der Uhren, Glockenspiele und Spieldosen exakt zur Deckung bringt und – wie bei Puccini – immer noch einem einheitlichen Zeitgesetz unterwirft.
Bspl. 2: Ravel, L'Heure espagnole
A Schließlich dann, fünf Jahre nach Ravels Spanischer Stunde, dieser Ausbruch:
Bspl. 3: Ives, The Fourth of July
B Eine Mixtur aus populären Melodien und patriotischen Hymnen, die sich in verschiedenen Geschwindigkeiten und Rhythmen überlagern, sich wie durch wechselseitige Reibung aufheizen, verdichten und explodieren.
A Charles Ives' The Fourth of July, der dritte Satz seiner Holidays Symphony. Eine Art Urknall im Zeituniversum der modernen Musik. Ein Urknall, bei dem sich die Einheit der ästhetischen Zeit unter dem Druck ihrer Fliehkräfte in die Vielheit verräumlicht.
B Unterbrochen nur vom flüchtigen Augenblick eines Glockenschlags.
A Wie von einem flüchtigen Komma der Zeit→
B ← oder wie in einer letzten Erinnerung an die gute, alte Gleichförmigkeit ihres Verlaufs,→
A ← bevor eine erneute Detonation das Kontinuum sprengt und in abrupt verlöschende Erinnerungsfragmente zerfließen lässt.
B Der Kommentar des Komponisten jedenfalls lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »An den Stellen«, schreibt Ives,
A »An den Stellen, die Explosionen (des nächtlichen Feuerwerks) nachahmen, arbeitete ich wie nach einem Rezept sehr sorgfältig Kombinationen von Tönen und Rhythmen aus, so wie man etwa eine explosive chemische Mischung herstellen würde«.
B Was kann danach noch kommen?
A Nun, zum Beispiel ein Gang ins Innere der Zeit. Eine Pulverisierung der Zeit, Zeitstaub. Etwa so wie in Stockhausens Gruppen für 3 Orchester:
Bspl. 4: Stockhausen, Gruppen für 3 Orchester
B Sprechen wir also von der Zeit. Von musikalischer Zeit.
A Von der Zeit in der Kunst.
B Von künstlicher Zeit gar?
A Zeitbewusstsein in der Musik, Zeitbewusstsein außerhalb der Musik: ist das überhaupt strikt zu trennen?
B Wohl kaum, selbst wenn sich die Korrespondenz zwischen empirischen und ästhetischen Zeitmodellen oft nur verdeckt zu erkennen gibt. Denken wir nur an die Parallele zwischen einer Rationalisierung der Zeit nach dem Takt der Räderuhren und der Verfeinerung der Mensuralnotation, also der rhythmischen Präzisierung und Messung der Musik am Ende des 13. Jahrhunderts.
A Außerdem: schon dadurch, dass jedes Komponieren Zeit in Beschlag nimmt, um Töne präsent werden zu lassen, hat Musik sich von vornherein der Zeitrealität und ihrer Grenzgewalt zu stellen, die im Begriff des »tempus«, des »temneïn«, des »Ein- und Abschneidens« anklingt.
Bspl. 5: Gregorianischer Gesang (»Surrexit dominus vere«)
B Gregorianischer Gesang, Metapher des göttlichen Pneumas. Ein Atemstrom, der um 1200 rigoros einer Kunst der Kombinatorik unterworfen wird. Einer Kunst, die den gregorianischen cantus planus zum cantus mensurabilis rhythmisiert und mit der Rationalisierung der Zeit den Choral zum Material der Mensuralnotation zu profanieren beginnt.
Bspl. 6: Perotin, Sederunt principes
A Um 1200 also der große Rationalisierungsschub, der zum ersten Mal über die rhythmische Notation Zeit, gemessene Zeit, in die Musik eindringen lässt. Getragen von der frühbürgerlichen Ökonomie und ihren Rationalisierungsprozessen. Ausdruck einer empirischen Verve, die den feudalen Kosmos nach und nach auflöst.
B Bereits seit den großen Organa-Kompositionen der Notre-Dame-Schule und ihren Zeit- und Raumfantasien tendiert Musik zu einem durchstrukturierten Ablauf. Eine Tendenz, die bei Guillaume Dufay bereits zu einer homogenen, wenn auch noch keineswegs quasikausalen, gar zielgerichteten musikalischen Zeit führt. Weder wird die Zeit bei Dufay zum beengenden Zeitkorsett noch wirkt ihr Kontinuum wie die schicksalhafte Instanz eines alles unterwerfenden »Triumphs der Zeit«. Vor allem aber kennt Dufays Zeit nicht den Erwartungs- und Erinnerungsdruck des modernen psychologischen Bewusstseins, das nicht auf die Autonomie des Subjekts und schon gar nicht mehr auf göttliche Eingebung setzen kann, ohne vom innerweltlichen Akt der Sinnstiftung befreit zu sein.
A Und doch: was musste nicht alles an technischer Raffinesse, an Klangsinnlichkeit, vor allem an Artikulationskraft in der Zeit erfüllt sein, damit Dufay Petrarcas Kanzone Vergene bella dermaßen ausdrucksvoll komponieren konnte?
B Und darin vor allem jene Stelle, die von »Amor« als der Muse des Dichters spricht, von Amor, der die Worte des Gedichts inspirieren soll. Dufay ziseliert diese Stelle wie ein sinnliches Siegel, abgesetzt vom ätherischen, immer noch theologisch inspirierten Fließen der musikalischen Zeit und doch zugleich von ihm umgeben. Vergleichbar den Gegenständen auf den Gemälden Jan van Eycks, die zwischen christlicher Symbolik und Diesseitsaura changieren; vergleichbar auch den frühen Porträts des Malers: Konturen eines ersten Ich-Bewusstseins und doch ohne jede Psychologisierung.
Bspl. 7: Dufay, Vergene bella
A Schon bei Guillaume Dufay also und mehr noch bei Josquin des Prés wird die endgültige Ablösung feudal-zyklischer Zeitmodelle durch linear gewichtete Zeitverläufe hörbar. Welchen Anteil die Entwicklung des neuzeitlichen Affekt-Repertoires an dieser Ablösung hat, zeigt Josquins vierstimmige Chanson Mille regretz. In ihr thematisiert die Klage um eine verlorene Liebe die Zeitspur von Vergänglichkeit, Altern und Tod. Der Wechsel des Deklamationstempos und das Übergewicht der fallenden Bewegung im Sopran unterstreicht den schwermütigen Ausdruck der Chanson ebenso wie die phrygische Tonart den elegischen Duktus des Stücks.
B Auffällig ist, wie am Schluss das »brief mes jours deffiner«, die Ahnung vom Ende des Lebens, in expressiver Wortdeutung drei Mal akkordisch hervorgehoben wird: ein melancholisches Todessigel, gesetzt als Noëma, wie die homophone Akzentuierung von Texthöhepunkten seit dem 14. Jahrhundert genannt wird. Im Augenblick der Todesahnung lässt der klagende Gestus die Balance zwischen der polyphonen und homophonen Textur hinter sich, um mit den final kadenzierenden Akkorden des Chanson-Endes zugleich auf das Ende des Lebens anzuspielen. Ein in ruhiger Homophonie komponierter Zielpunkt der melancholischen Spur der Musik.
A So wird die Vergänglichkeit der Zeit von der Musik zur Dauer verhalten und in eine final gewichtete Rhetorik des Nachdrucks überführt. Und so arbeiten Affekt und Konstruktion auf dem Weg zum homogenen Satz und zur Eroberung des Klangraums einander zu.
Bspl. 8: Josquin Desprez, Mille regretz
B Und doch ist Josquins Musik keine des passionierten Ausbruchs, gar der Tragik eines affektiv affizierten Subjekts. Josquin kennt nicht den Gefühls- und Reflexionskult, mit dem das moderne Selbstbewusstsein die Zumutungen der realen Zeit ästhetisch zu bewältigen sucht. Zwar werden die Schlussakkorde der Chanson Mille regretz zur Projektions- und Spiegelfläche einer frühen Ich-Empfindung, die das Netz der polyphonen Maschen abwirft: Dennoch ist diese frühe Individualität frei von der Durchhalte- und Rückvermittlungsinstanz des Ich. Auch wenn sich die Imitationstechnik Josquins und ihr Relationsgeflecht von Gleichheit und Verschiedenheit zunehmend am Bewusstsein der Identität ausrichtet: der Abstand zur dramatisch-psychologischen Musik insbesondere des 19. Jahrhunderts ist enorm. Und damit der Abstand zur Eigenzeit moderner Subjektivität und ihrer strategischen Zeitrhetorik.
A Josquins Kombinationskunst kennt kein postulatorisches Über-sich-Hinausweisen wie Beethovens symphonischer Triumph des Willens. Wohl aber die Bedeutung des Jetzt, Gegenwart als Verwandlung im Prinzip der »varietas«.
B Und wie das Formgedächtnis in Josquins Musik von keinem Bruch der Zeiten weiß, so weiß es auch von keinem Bruch zwischen der Last der Gegenwart und einer auf sie reagierenden Sehnsucht nach verlorenen oder erhofften Idealen. Seine Musik kennt keine subjektexpressiven Stimmungsgegensätze, die aus der Spannung zwischen Ich und Weltlauf resultieren.
A Und keine Psychogrammatik der Affekte wie im Asyl der Moderne des beginnenden 19. Jahrhunderts und ihrem Leitmotiv der Einsamkeit: dem Schritt des Exilierten auf einer Leben aufzehrenden Wanderschaft inmitten einer fremd gewordenen, winterlich erstarrten Welt: »zu Ende mit allen Träumen«.
B Es wird also zu überlegen sein, welcher Wandel des Zeitbewusstseins im Verlauf dreier Jahrhunderte dieses ›Ende aller Träume‹ auslösen und der einst so selbstsicheren Physiognomie des Subjekts eingravieren konnte: als Trauma seines Elends.
Bspl. 9: Franz Schubert, Winterreise, »Im Dorfe«
A Seitdem sich die theologische Weltordnung im Namen einer welthaltigen Erfahrung aufzulösen begann, musste das Schwinden christlicher Offenbarung durch diesseitige Sinnentwürfe beerbt und ausgeglichen werden: Unter Verwandlung der göttlichen Substanz und ihrer Attribute von Allmacht und Allwissenheit zur Idee der Einheit und Autonomie von Person und Gattung samt deren Zeit- und Gedächtnisstrategien.
B Und wie die Festigung einer musikalischen Einheitszeit von Perotin bis Josquin und die Erschließung des Klangraums mit der Entfaltung der neuzeitlichen Affektsprache korrespondieren, so begann sich auch die frühe Imitationstechnik zunehmend am Bewusstsein der Subjektidentität auszurichten: im Wechsel von Gleichheit und Verschiedenheit. Zeit wird zum Bewusstsein, das sich in den Gedächtnisspuren des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns entfaltet.
A Schon Josquin Desprez’ Kombinationskunst gründet in einer souveränen Regie der Satzkunst, ohne jedoch im Subjektgedanken neuzeitlicher Fasson aufzugehen.
Bspl. 1: Josquin Desprez, Missa L’homme armé sexti toni, Agnus Dei
B Das dritte Agnus dei aus Josquin Desprez’ Missa L'homme armé sexti toni, 6 stimmig gesetzt, basiert auf einer kontrapunktischen Arbeit höchsten Niveaus. Die Überlagerung thematischer Strukturen kombiniert den Cantus firmus »L'homme armé« nicht nur in seiner originalen und krebsgängigen Gestalt, sondern zudem auch mit kanonischen Formen.
A Allerdings unterstützt diese kunstvolle Tektonik in keiner Weise das, was man den Narzissmus des Subjekts nennen könnte. Es finden sich – bis auf wenige Ausnahmen – weder prägnante Motivwiederholungen noch rhythmische Stabilisierungsmuster. Ausschlaggebend ist vielmehr das Prinzip der »Varietas«: eine ständige Verwandlung der musikalischen Substanz und die Tilgung jeglicher Schematik.
B Deshalb wohl wird die gleich bleibende Intensität von Josquins Musik über die Jahrhunderte hinweg einem zentralen Zeitmodell der Neuen Musik vergleichbar: Stockhausens Modell der »Momentform« nämlich. Auch Josquins Musik ist eine,
A die »sofort intensiv« ist »und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetzter ›Hauptsachen‹ bis zum Schluss durchzuhalten« sucht. Eine Musik, in der »nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird«, sondern jedes Jetzt »für sich bestehen kann«.
B Wie Stockhausens »Momentform« ist auch die Musik Josquins frei vom finalen Stufenschema. Sie ist keine Musik des Aufschubs. Jeder Moment ist in ihr tendenziell gleich nah zum Mittelpunkt. Vergleichbar jenem Welt- und Kosmosmodell, das Nikolaus von Kues um die Mitte des 15. Jahrhunderts in der Idee des »Omnia ubique«, des »Alles ist überall«, formuliert hat.
A Vor allem kennt Josquins Musik noch kein subjektstrategisches Außerhalb zur musikalischen Sprache – im Unterschied zu Beethoven, der die musikalische Sprache immer wieder von außen mit einem Repertoire an Eingriffen angreift. Angriffe, um Zeit zu unterwerfen und diese Unterwerfung auch hörbar werden zu lassen.
B Dass der als strategisch demonstrierte Umgang mit der Zeit erst relativ spät einsetzt, zeigt die Musik Bachs. Bachs musikalische Rhetorik im Zeitalter des Rationalismus liefert frühe Positionsbestimmungen zur Diesseitsmündigkeit des Subjekts. Und doch zeigt Bachs kompositorische Souveränität, was einer Musik noch an Zeitmodellen möglich ist, die nicht an einer prozesshaften oder ethischen Produktionslogik orientiert ist: nämlich Abweichungen in der Zeit, verstörende Randgänge innerhalb eines engmaschig vernetzten Tonsatzes.
A Zumal Bachs Figuren des Abstiegs loten im Zeitalter der Aufklärung das Andere, Dunkle der Vernunft aus: die Brechung der Ratio durch die Asymmetrien der Affekte. Das Ich zeigt sich fasziniert von dem, was schon Leibniz die »dunklen Vorstellungen« nennt; fasziniert vom punktuellen Zurücknehmen der Subjektregie, indem es Zeit freilässt. So wie im a-Moll-Präludium BWV 894, das nach einer dicht gearbeiteten Durchführung unvermittelt und wie selbstvergessen ins virtuose Spiel von Zweiunddreißigstelpassagen ausufert:
Bspl. 2: Bach, Präludium und Fuge a-Moll (BWV 894)
B Eine ähnlich exzentrische Bahn beschreibt die disproportionale Cembalokadenz im ersten Allegro des Fünften Brandenburgischen Konzerts. Dieser 65 Takte lange solistische, wenn nicht gar solipsistische Parcours der Abschweifung entbindet das Gedächtnis allmählich vom Motivrepertoire des Satzes, um schließlich den geordneten Verlauf zugunsten frei flottierender Passagen zu verlassen: Gegenteil eines kompositorischen Ehrgeizes, der alles an die deduktive Motivkandare nehmen will. Augenblicke eines Diskurses an der Peripherie des Diskurses finden sich durchsetzt mit solchen eines ekstatischen Nachdrucks, in die sich die Kadenz regelrecht verbeißt, bis die Reformulierung der thematischen Substanz dem Gedächtnis wieder Halt gibt und die Rückkehr ins Orchestertutti und zur Ordnung der Sukzession gewährleistet.
Bspl. 3: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5, 1. Satz
A Übrigens hat schon Bachs frühes g-Moll-Orgel-Präludium mit einer ausladenden Sequenz aus verminderten Septakkorden experimentiert. Mit einer Sequenz, die durch alle zwölf Stufen der chromatischen Tonleiter abwärts gleitet, bis der rettende Dominant-Orgelpunkt die Gravitationsbewegung abfängt. Auch wenn Anfang und Ende der Sequenzkette sich in der Dominante zum Kreis schließen, erzeugt die Beharrlichkeit dieser harmonischen Expedition eine Art frei laufender Rotation. Unbekümmert um Kategorien wie Eintönigkeit oder Leerlauf.
Bspl. 4: Bach, Präludium und Fuge g-Moll (BWV 535)
B Ist es anlässlich einer solchen Musik wirklich zu gewagt, von delirierenden Passagen zu sprechen? Sofern man Delirium, der Medizin des 17. Jahrhunderts gemäß, zunächst als einen Begriff der Abweichung versteht, als eine Abweichung von der »lira«, von der Furche, vom gebahnten Weg? Delirium also als ein »de lira ire«, als ein Verlassen der geraden Linie. Auch im g-Moll-Präludium sinkt die Musik ins Ungewisse unterer Regionen ab. Auch hier streift sie die Nähe der Kontemplation zur Melancholie und damit zum Wahnsinn, wie ihn das Jahrhundert der Logik, das siebzehnte, im weitesten Sinn der Symptome zu fassen sucht: als einen Ausfall an Zielgerichtetheit und als einen Koordinationsverlust des Bewusstseins. Selbstverständlich sind Bachs Musik der Abweichung und ihr Zeitmodell keine des Wahnsinns. Wenn aber der Irrsinn, der geplant irrende Sinn der Musik oft genug ohne Erinnerung an den Kontext des Satzes das Bindungsgefüge aufweicht und die Einbildungskraft ins Leere eines freien Spiels laufen lässt, dann reflektiert diese Spur exakt den Zeit- und Erfahrungsschock des neuzeitlichen Subjekts mit seiner wechselhaften Befindlichkeit der Seele.
A Zeit, Angst und Tod gehen in der christlichen Tradition eine enge Verbindung ein. Erst mit dem Sündenfall beginnt Geschichte. Zeit und Leben stehen unter dem Urteil des Gerichts. Die vom Tod begrenzte Lebenszeit wird zum Maß der Nutzung nach göttlichen Heilskriterien. Die Aufhebung der Zeit zur Utopie am Ende der Zeiten: erst mit dem Erscheinen des Neuen Jerusalem wird keine Zeit mehr sein. Schließlich dann, im Namen protestantischer Ethik, die Kreuzung religiöser und ökonomischer Interessen. Eine sakral überhöhte Eingewöhnung in praktische Weltbelange, bei der die ästhetische Aufhebung der Zeit allmählich Erlösungscharakter annahm.
B Verständlich also, dass im Regelkreis bürgerlicher Kultur vor allem der Musik die Funktion zufiel, Zeit in der Zeit aufzuheben, um die Askese des Lebens wenigstens für Momente im Elysium der Kunst zu erlösen. Und fast scheint es, als ob der real allzu präsente Angstgrund von der Musik nur umso obsessiver übertönt würde. Dass jedoch mit dem Einzug der Transzendenz in die Immanenz der Geschichte der naturwissenschaftlich bestimmten Vernunft die Welt zerbricht, in eine des Geistes und eine der Körper nämlich, wird von nun an zur Wunde des Säkularisierungsprozesses und eines Subjekts der geistsinnlichen Paradoxien. Verspannt zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Affekt und Gesetz – und sei es das des Takt und der Uhren.
A Monteverdis Lamento della ninfa aus dem Achten Madrigalbuch von 1638 liefert dazu einen hintersinnigen Exkurs: Die Zeit der Emotionen und Affekte trifft sich nicht mit der des Takts und der Uhren. Auch nicht, wenn Körper und Psyche, oder sollte man besser sagen: Körper und Seele, immer rigoroser chronometrisch reglementiert werden. Bereits Monteverdis Aufführungsanweisung macht deutlich, wie wenig sich der Affekt der Klage, mit dem die Nymphe des Lamento den Treuebruch des Geliebten betrauert, mit der Zeitdisziplin des Takts verträgt:
B »Die drei Stimmen, die die Klage der Nymphe umrahmen, sind getrennt angegeben, weil sie beim Singen Tempo halten müssen, die drei anderen Stimmen, die leise die Nymphe bedauern, sind in der Partitur untergebracht, damit sie deren Klage folgen können, die sie, dem Gefühl entsprechend und nicht genau im Takt singt.«
Bspl. 5: Monteverdi, Lamento della ninfa
A »Dem Gefühl entsprechend nicht genau im Takt«, »a tempo del’ affetto del animo«, heißt es bei Monteverdi. Dieser Spannung von Emotion und Konstruktion hatte sich die Musik der nächsten drei Jahrhunderte zu stellen.
B Und sie sucht diese Spannung seit etwa 1780 in der Vereinigung von Individual- und Gattungsethos aufzuheben. Seit 1780 etwa, als Musik über das Medium motivisch-thematischer Arbeit das Bündnis von Finalität und Sittlichkeit in Szene zu setzen begann, mit Beethoven als Höhepunkt. So gingen etwa Beethovens Solokonzerte von einem philosophischen Entwurf aus, der das Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Dieser Entwurf ermöglichte es, die reale Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloinstrument und Orchester auszutragen. Am eindrucksvollsten im Kopfsatz des Fünften Klavierkonzerts mit einem extremen Einsatz an solistischer Energie und einer Patt-Situation der Kontrahenten. Eine musikalische Geschichtslektion sondergleichen:
Bspl. 6: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5, 1. Satz
A Beethovens Zeitmodell ist indes nur ein fragiler Augenblick – und zwar nicht nur der Musikgeschichte. Schnell schon entzauberten die unberechenbaren Marktdiktate der Konkurrenzökonomie und das Einlösungsdefizit der Französischen Revolution den Gedanken vom ethischen Fortschritt und von einer mündigen Gesellschaft.
B Damit aber zerfällt auch die durch Vernunft und Freiheit stabilisierte Dialektik von Zufall und Notwendigkeit: In dem Maß, in dem sich Erfahrung als eine »Sache der Tradition« in ihrer »Struktur verändert«, gewinnt eine vom Schock diktierte Wahrnehmung an Raum. Die Kausal- und Finalketten, das homogene Kontinuum insgesamt beginnt zu zerreißen. Dass jedoch der gesellschaftliche Verlust von Tradition nicht guten Gewissens in der Musik kaschiert werden kann, mindert den Anspruch der Musik, Zeit ungebrochen in der Zeit aufzuheben.
A Deshalb auch wird die finale Gewichtung zwischen 1790 und 1830 immer wieder unterminiert – trotz der emanzipatorischen Zeitmodelle und zielgerichteten Wunschproduktionen Beethovens. Momente von Ziellosigkeit, kunstvollem Leerlauf oder in Form flüchtiger Rupturen zäsieren die Werke punktuell; Rupturen wie sie Mozart im Es-Dur-Hornkonzert KV 417 oder im G-Dur-Klavierkonzert KV 453 als subversive Pausen auskomponiert hat.
Bspl. 7: Mozart, Es-Dur-Hornkonzert KV 417, Finale
+ Mozart, G-Dur-Klavierkonzert KV 453, Finale
B Überdies wird die musikalische Zeit zunehmend, wenn auch subtil mechanisiert. Indem etwa die Periodensymmetrie der tonalen Syntax Motivwiederholungen von zwei auf drei oder mehr Einheiten erweitert und damit einer rein quantitativen Repetition angenähert wird; so als würde der Artikulationsfluss der Musik plötzlich versiegen. Ein Gestaltungsmittel, mit dem ebenfalls schon Mozart arbeitet:
Bspl. 8: Mozart, C-Dur-Klavierkonzert KV 503, 1. Satz
A Ein Gestaltungsmittel aber auch, das sich bei Schubert zum Gestus des Stockens an der Grenze einer Gedächtnisstörung wandelt. Eine Paradoxie der frühen Moderne, Zeit musikalisch zu organisieren, ohne sie erneut subjektiver Verfügbarkeit zu unterwerfen.
Bspl. 9: Schubert, Klaviersonate B-Dur (D. 960), 4. Satz
B Zuvor hatte schon Haydn den Zeitfluss und den kompositorischen Elan seiner Kompositionen immer wieder kunstvoll gestört. So staut sich das Presto der Symphonie Nr. 100 gegen Ende redundant und läuft auf. Und das innerhalb einer quasi kausalen Progression, bei der sich alle Ereignisse aus dem Vorangegangenen entwickeln sollen: Bestimmt vom Gedanken des in sich geschlossenen, organisch gewachsenen Werks. Für einen Augenblick irritiert Haydns Überlagerung von Kontinuität und Diskontinuität die subjektive Erlebniszeit und mit ihr die Erwartung eines homogenen Verlaufs.
Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 100, Finale
A Mit dem Bankrott jener transhistorischen Vernunft, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln können, und mit dem Schwinden eines auf Freiheit gerichteten Ziels der Geschichte bricht eine Kluft auf: die Kluft zwischen dem nüchternen, von der industriellen Ökonomie diktierten Weltgetriebe und dem ins Innere des künstlerischen Subjekts geweiteten Raum der Imagination. So liest man bei Chateaubriand, den Berlioz’ Symphonie fantastique in einer frühen Programmskizze als Kronzeuge anführt:
B »Die Fantasie ist reich, überströmend und wunderbar, das Dasein armselig, trocken und entzaubert. Mit vollem Herzen bewohnt man eine leere Welt.«
A Wenn Berlioz das thematische Subjekt der Symphonie fantastique als »idée fixe« drapiert und Büchner über das Phänomen der »fixen Idee« die Autonomie des Subjekts demontiert, dann belegen solche der Pathologie entlehnten Begriffe neben den Veränderungen der Zeit- und Gedächtnisstruktur auch das Ende kollektiv tragfähiger Ideale. Gattungsbonus, Weltgeist und personale Autonomie entzaubern sich angesichts des »grässlichen Fatalismus der Geschichte«.
B Auch Berlioz’ Symphonie fantastique realisiert einen Zeitentwurf, bei dem das Ich weniger in der Geschichte ist als die Geschichte im Ich, und dies noch dazu in der privaten Form von Geschichten. Beispielsweise derjenigen vom Künstler-Helden dieses symphonischen Romans, der nach der Ermordung seiner Geliebten die eigene Hinrichtung halluziniert.
A »Marche au supplice«, »Marsch zum Richtplatz«, überschreibt Berlioz den vierten Satz der Symphonie fantastique, komponiert knapp drei Jahre nach Beethovens Tod. Unbekümmert um die Einheit von Finalität und Sittlichkeit unterbricht das Drama dieses Marsches kolportagehaft eine der Masken der »idée fixe«, die das Werk als thematisches Symptom und Klangsymbol der Geliebten durchzieht. Wenn sich das Ende des Satzes szenisch schürzt, klingt das erotische Symbol nochmals »dolce assai e appassionato« in der Klarinette auf, bevor der Schlag der Exekution den Gedanken durchtrennt.
B Hier wird ein Schock komponiert. Und Schocks sind es überwiegend, die die erotische Passion der »Fantastischen Symphonie« austeilt, um das Zeitgedächtnis der musikalischen Logik mit Leidenschaft und wahnhaftem Traum zu durchsetzen. Eine Musik, die trägt und zugleich heteronome Gewalt ausübt: Dem Wunsch- und Wahnbild entsprechend, das aus dem Konflikt des Künstlers mit der ambivalent besetzten Erscheinung der Menge, der Masse resultiert. Und bei all dem keine Spur mehr vom humanen Diktum des »Alle Menschen werden Brüder«.
Bspl. 11: Berlioz, Symphonie fantastique, 4. Satz
A Einsamkeit wird zu einem Leitmotiv im Asyl der Moderne; mit der Folge, dass sich das musikalische Kontinuum in die prozesshafte Zeit des Weltlaufs und in die Eigenzeit des Ich-Refugiums zu spalten beginnt. Dass die kollektive Verbindlichkeit des Marsches in den vereinzelt einsamen Schritt des Wanderers umschlägt, ist eine der Spuren dieser Spaltung.
B Beethovens politische Konzeption der Neunten Symphonie bleibt noch der in jeder Person gründenden Idee der Menschheit verpflichtet. Zeit wird hier zum Feuer der Transformation. Noch einmal wird der Geist republikanischer Ideale beschworen, um der von Unmündigkeit, Zwang und Verhärtung bestimmten Ära Metternich die Koordinaten von Vernunft und Freiheit einzuziehen. Zumal das Ende des ersten Satzes betont die Kraft der Solidarität gegen die Ohnmacht privatisierten Schmerzes: Im Sinnbild gemeinsamen Schreitens, zunächst im Charakter eines Kondukts, der sich wenig später zu einer heroischen Musik der Verwandlung steigert – vom Pathos des Leidens zum Ethos der Unbeugsamkeit.
Bspl. 12: Beethoven, Neunte Symphonie, 1. Satz
A Doch schon bei Schubert verlagern sich die kollektive Marschcharaktere als Zeitbühne der Gattung in die Binnenzeit des Ich-Refugiums. Und zwar keineswegs nur in kammermusikalischen Kompositionen. Große Teile des »Andante con moto« der späten C-Dur-Symphonie etwa weisen mit ihrer Moll-Tonalität und den bei geradtaktigem Metrum durchlaufenden Achteln »in gehender Bewegung« dieselben Merkmale auf wie jenes Lied, mit dem die Irrfahrt der Winterreise ihren Anfang nimmt. Deutlich lässt der orchestrale Satz in seinen wie verkleinert in Holzbläser- und Streicherfiguren widerhallenden und nachbebenden Fanfaren und Trommelwirbeln den Einzug der Marschintonation ins Innere des kompositorischen Subjekts vernehmen. Und mit ihr den Schritt des Exilierten – »zu Ende mit allen Träumen« – am Beginn einer Leben aufzehrenden Wanderschaft durch winterlich erstarrte Welten.
Bpl. 13 + 14: Schubert, 9. Symphonie, 2. Satz
+
Schubert, Winterreise, »Gute Nacht«, 1. Strophe
B Während noch für Hegel »die Gegenwart das Höchste« ist, differenzieren sich der Musik schon im Spätwerk Beethovens die inneren Zeitschichten der Werke zum Bruch zwischen der prosaischen Realität und dem ästhetisch kaum noch realisierbaren Anspruch ihrer Überschreitung. Der Erschwerung, ja Verunmöglichung von Überwindungs- und Jubelemphasen im Plan einer Finalität, die die Zukunft geschichtsmächtig auf Gegenwart verpflichtet, korrespondiert zunehmend das Auskomponieren von Erinnerung. Erinnerung wird als eine Reflexionsform der Zeit bewusst, sobald Zukunftsentwürfe verwehrt bleiben. Vergangenheit wird zur Gegenwart zitiert, während Zukunft sich zumeist nur noch im Rückgriff auf Vergangenes verschlüsseln kann.
A Ein spätes Beispiel für diese Differenzierung der inneren Zeitschichten findet sich im dritten Satz aus Gustav Mahlers Erster Symphonie, einem Satz, der rhapsodisch um den »wie eine Volksweise« zitierten Schluss der Lieder eines fahrenden Gesellen kreist. »War alles, alles wieder gut!« lauten die letzten Worte dieses Liederzyklus, der das Verlangen nach Heilung des Risses zwischen Außen und Innen, zwischen »Welt und Traum« zu einer Erinnerung verdichtet, die Vergangenes und Zukünftiges verschränkt: eben zur Sehnsucht des »War alles, alles wieder gut!«.
B Auch wenn der Gesang nicht zur symphonischen Fassung assoziiert würde, ließe sich der wehmütigen Episode der Ausdruck von Reminiszenz anhören. Vor allem aufgrund des klagenden Tonfalls im mollgetrübten G-Dur und eines Gestaltungsmittels, das seit Schubert Bedeutung gewann: das der Schichtung zweier Zeitebenen. Hier der Überlagerung des somatischen Impulses – das heißt der als gegenwärtig vorgestellten, solitär gebrochenen Bewegung des Marschierens – mit der Liedmelodik als der Klangspur der Erinnerung. Dass aber der Modus des Liedzitats als Ein- und Überblendung aufzufassen ist, macht die synkopisch gestaute Schnittstelle und ihre später zur Achtelfiguration gewandelte Triolennotierung beim Übergang vom Moll der Marschsektion zum Dur der Liedepisode deutlich. Die pendelnde Marschbewegung im Wandererrhythmus, die den Satz meist in den Pauken und Bässen durchzieht, tritt in den Hintergrund. Im Klang der Harfe leicht instrumentiert und umspielt, lässt die Kantilene den Schritt unter sich, der sich zum Pulsschlag sublimiert und damit zur Metapher für den Einzug des Raums ins Innere der Vorstellung, gleich der Bühne eines Tagtraums.
Bspl. 15: Mahler, 1. Symphonie, 3. Satz,
A Schließlich dann in Anton von Weberns viertem der Orchesterstücke opus 6 von 1910 eine radikale Wendung im Entwurf musikalischer Zeit. Ursprünglich »Marcia funebre« überschrieben, gerinnt der körperliche Impuls im Negativ skelettierter Marschkonturen. Webern strukturiert ein Protokoll objektivierter Angst ohne funktionsharmonische Vernetzung. Schon der Beginn im Pianissimo possibile – wie ein aus weiter Ferne widerhallendes Dröhnen – entzieht dem Hörer den Boden der Sicherheit. Tam-Tam und tiefes Glockengeläute, kaum hörbar und »von unbestimmter Tonhöhe«, desgleichen der Flatterzungeneffekt der Flöten und die gedämpften Blechbläser mit dem Timbre des erstickten Klangs skizzieren ein Stenogramm der Gefahr. Verstärkt durch das über weite Strecken durchgehaltene Spannungstremolo der kleinen Trommel, vergleichbar der »Erregungssumme« beim »Auftreten eines traumatischen Moments«, um mit Begriffen der zeitgenössischen Psychoanalyse Freuds zu formulieren.
B Entscheidend ist jedoch, dass Webern Mahlers dramaturgische Folge von tragischem Höhepunkt, Zusammenbruchsfeld und Epilog umkehrt. Er lässt den Schrecken des Ungeheuren von außen in das ästhetische Gebilde einfallen, um die Musik zum Vorspiel einer real drohenden Katastrophe zu wenden. Wenn sich am Schluss der tosende Überhang des fortissimo anschwellenden Schlagwerks bis zur Unerträglichkeit steigert, mündet die Gewalt des Crescendos in den Sog des Entsetzens. Keine autonome, aus sich gesetzte Sukzession mehr, lädt die Komposition unter dem Bann drohenden Unheils ein Modell negativ auf, das einst im »Alla marcia« des Finales der Neunten Symphonie die Zeitspur von Weg und Ziel als Fortschritt der Geschichte entwarf.
Bspl. 16: Webern, Orchesterstücke opus 6, Nr. 4
B Größer könnte der Kontrast zur Zielgerichtetheit einer symphonischen Verwandlungsmusik nicht sein, deren ethisch inspirierter Finaljubel sich einmal so angehört hatte:
Bspl. 17: Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz
A Auf solche Spannungen hatte die Musik des 20. Jahrhunderts zu reagieren. Sie konnte Zeit weder zu einem Wunschprinzip der sittlichen Emanzipation und des zivilisatorischen Fortschritts aufladen noch unentwegt das Ende der Geschichte beschwören.
B Vielleicht finden die Zeitentwürfe der Neuen Musik ihren stärksten Ausdruck im Konzept der variablen Form, die nicht nur eine einzige Lösung zulässt, sondern verschieden viele, die alle »gleich gültig« sind: Eine Möglichkeit, Zeit gegen ihre Umklammerung gleichsam von außen zu denken, und ein Affront gegen die Vorstellung von der Schicksalsmacht Zeit.
A Kehren wir von hier aus nochmals zurück und erinnern wir uns, wie es war, als Puccini noch einmal gerade auf die Schicksalsmacht Zeit und auf die tragische Einheitszeit der Affekte gesetzt hatte.
B *)Rom, Glocken, Morgendämmerung: eine Stadt erwacht. {Ohne Ironie:} Mein Gott, wie schön!
A Und doch schon zu schön. Eine trügerische Idylle nicht nur im abgründigen Tosca-Szenarium. Eine trügerische Idylle auch vom geschichtlichen Stand der Musik her.
B Fast schon unwahr und gerade deshalb vielleicht so verklärt. Bei all ihrem Zauber eine fast sentimental kolorierte Projektionsfläche der musikalischen Zeit und so stimmungsgebannt wie die dem Sog der Affekte ausgesetzten Liebenden.
A Ein letzter Traum vom großen Passionato; ein letzter Abschied von der Wunschlandschaft des Belkanto und – mitten im Abschied – ein Aufbruch zu neuen Ufern.
B Mag Puccinis Sommermorgen also ruhig auf die Sommernacht des Charles Edward Ives treffen.
A Und auf ihr nächtliches Feuerwerk, das in der Zeit die Räumlichkeit der Zeiten freizusetzen beginnt und Musik auf die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen hin öffnet.
B Und auf seine Gleichwertigkeit, die den Augenblick als Augenblick ernst nimmt. Gegen seine funktionale Verspannung in die Folgerichtigkeit der Folge.
A Und gegen eine Verwechslung von Zeit und Ökonomie. Eine Pluralität der Zeit demnach, die sich dem Zufälligen, Beiläufigen, Gestreuten öffnet→
B ← und dem, was Cage das Bewusstsein der Simultaneität von »Ereignissen« nennt, von denen »jedes seine eigene Zeit hat«, und die ›sich ungehindert als gleichberechtigte Zentren durchdringen‹.
Bspl. 18 + 19: Puccini, Tosca, 3. Akt
+
Ives, The Fourth of July
Musikbeispiele (Teil 1)
Bspl. 1: Giacomo Puccini, Tosca [CD 2 / Tr. 13, 2´46´´-3´56´´; 4´32´´-5´28´´][2´06´´]
(Orchestra dell´Accademia di Santa Cecilia, Maazel)
Bspl. 2: Maurice Ravel, L'Heure espagnole [Tr. 1, 0´00´´-2´14´´(ab 1´11´´ausbl.)][2´14´´][Tr. 1, 0´00´´-2´14´´(ab 1´11´´ausbl.)][2´14´´]
(Orchestre National de la R.T.F., Maazel)
Bspl. 3: Charles Ives, The Fourth of July [Tr. 3, 4´54´´(aufbl.)-6´03´´=Ende][1´09´´]
(Chicago Symphony Orchestra, Tilson Thomas)
Bspl. 4: Karlheinz Stockhausen, Gruppen für 3 Orchester [Tr. 2, 1´55´´-3´05´´][1´10´´]
(Berliner Philharmoniker, Abbado)
Bspl. 5: »Surrexit dominus vere« [Tr. 7, 0´00´´-1´34´´][1´34´´]
(Capella antiqua München, Ruhland)
Bspl. 6: Perotin, Sederunt principes [Tr. 6, 2´56´´-6´30´´ (ab 6´25´´ausbl.)][3´34´´]
(Early Music Consort of London, Munrow)
Bspl. 7: Guillaume Dufay, Vergene bella [Tr. 10, 0´00´´–1´55´´(zügig ausbl.)] [1´55´´]
(Studio der frühen Musik, Binkley)
Bspl. 8: Josquin Desprez, Mille regretz [Tr. 8, 0´00´´–2´00´´] [2´00´´]
(Hilliard Ensemble)
Bspl. 9: Franz Schubert, Winterreise (T. 29 – T. 49) [1´49´´]
(Pears, Britten)
Musikbeispiele (Teil 2)
Bspl. 1: Josquin Desprez, Missa L’homme armé sexti toni [Tr. 6, 3´23´´–6´47´´][3´24´´]
(A Sei Voci, Fabre-Garrus)
Bspl. 2: Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge a-Moll (BWV 894) [Tr. 4: 3´52´´ – 4´56´´][1´04´´]
(Jaccottet)
Bspl. 3: Johann Sebastian Bach, 5. Brandenburgisches Konzert [Tr. 4: 7´51´´–9´43´´][1´52´´]
(Musica Antiqua Köln, Goebel)
Bspl. 4: Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge g-Moll (BWV 535) [Tr. 6: 0´59´´–2´18´´][1´19´´]
(Stockmeier)
Bspl. 5: Claudio Monteverdi, Lamento della ninfa [Tr. 10 (1´27´´) + Tr. 11, 0´00´´–1´59´´]
(Tragicomedia, Stubbs)
Bspl. 6: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 [T. 292(aufbl.) – T. 319(ausbl.)] [0´53´´]
(Brendel, Wiener Philharmoniker, Rattle)
Bspl. 7: Wolfgang Amadeus Mozart, Es-Dur-Hornkonzert KV 417 [Tr. 12, ´2´58´´(züg. aufbl.)–3´11´´ (züg. ausbl.)][0´13´´] [T. 145 (züg. aufbl.) – T. 155 (züg. ausbl.)]
(Civil, Academy of St. Martin-in-the-Fields, Marriner)
G-Dur-Klavierkonzert KV 453
[Tr. 6, 4´44´´(züg. aufbl.)–5´05´´] [0´21´´] (T. 160 – T. 170)
(Serkin, London Symphony Orchestra, Abbado)
Bspl. 8: Wolfgang Amadeus Mozart, C-Dur-Klavierkonzert KV 503 T. 206 (züg. aufbl.)–T. 213 (ab T. 211 ausbl.) [0´18´´]
(Brendel, Academy of St. Martin-in-the-Fields, Marriner)
Bspl. 9: Franz Schubert, Klaviersonate B-Dur (D. 960) [Tr. 4, 7´38´´-8´08´´] [0´30´´] (T. 490, 2. Viertel, – T. 511) (Brendel)
Bspl. 10: Joseph Haydn, Symphonie Nr. 100
[Tr. 8: 4´30´´(zügig aufbl.)–4´45´´(ab 4´40´´ausbl.)][0´16´´][T. 292 (zügig aufbl.)– T. 311(ab T. 304 ausbl.)]
(Academy of St. Martin-in-the- Fields, Marriner)
Bspl. 11: Berlioz, Symphonie fantastique
[Tr. 4, 5´27´´(züg. aufbl.)–7´23´´] [1´56´´] [T. 114(züg. aufbl.) bis zum Ende des Satzes)]
(London Classical Players, Norrington)
Bspl. 12: Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie [Tr. 2, 13´13´´–14´10´´] [0´57´´]
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen)
Bspl. 13: Franz Schubert, 9. Symphonie [Tr. 2, 0´00´´–1´48´´ (ab 1´41´´ ausbl.)] [1´48´´][Tr. 2, 0´00´´–1´48´´ (ab 1´41´´ ausbl.)] [1´48´´]
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen)
Bspl. 14: Franz Schubert, Winterreise [Tr. 1, 0´00´´–1´20´´(ab 1´16´´ ausbl.)] [1´20´´]
(Haefliger, Okada)
Bspl. 15: Gustav Mahler, 1. Symphonie [T. 70 (zügig aufbl.) – T. 117 (ab T. 115 ausbl.)] [3´09´´]
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen)
Bspl. 16: Anton von Webern, Orchesterstücke opus 6 [T. 27 (aufbl.) – T. 40] [1´40´´]
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen)
Bspl. 17: Ludwig van Beethoven, 5. Symphonie [Tr. 4, 9´37´´(aufbl.) – 10´47´´] [1´10´´]
(SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen)
Bspl. 18: Giacomo Puccini, Tosca [CD 2 / Tr. 13, 3´44´´(aufbl.)-5´28´´][1´44´´]
(Orchestra dell´Accademia di Santa Cecilia, Maazel)
Bspl. 19: Charles Ives, The Fourth of July [Tr. 3, 5´32´´-6´03´´=Ende][0´31´´]
(Chicago Symphony Orchestra, Tilson Thomas)