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Erschöpfung

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Zeitverfall als Lebensgefühl

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                                                                                                                  „...denn das ist alles noch wie ohne Schluss...“

                                                                                                                                                          Rainer Maria Rilke

 

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Als Jean-Victor Poncelet 1839 in einem Hörsaal der Metzer Ecole militaire Menschen und Metalle zu Verwandten erklärte - unter dem Blickwinkel ihrer "fatigue", ihrer Erschöpfung -, war die Tragweite dieses Vergleichs kaum absehbar. Und doch konnte Leben von nun an als kontinuierlicher Verschleiß unter massiven Druck- und Spannungsverhältnissen verstanden werden. Was im Zeitalter der Eisenbahnen und Stahlbauten an Streckgrenzen und Ermüdungsbrüchen, an Schwingfestigkeit und Risswachstum getestet und erforscht wurde, ist seitdem immer auch als ein Belastungsprotokoll jenes Rohstoffs Mensch zu lesen, der in den Materialschlachten und Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs seine Feuerprobe zu bestehen hatte und in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts einer massenhaften Vernichtung zugeführt wurde.

    Abnutzungsprozesse unter Kontrolle zu halten verlangt nach Experimenten und nach Statistik, der Poncelets Zeitgenosse Adolphe Quételet zum Rang einer künftigen Leitwissenschaft verhalf. Durchforstungen sämtlicher Gesellschaftsbereiche auf der Suche nach idealtypischen Normalverteilungen und nach dem Mittelmaß des "Homme moyen" waren die Folge, flankiert von einer Flut anthropometrischer Arbeiten. Bis schließlich Frederick Winslow Taylors zeitmechanistische Zerlegungs- und Normierungsmanie das Instrumentarium von Experiment und Statistik zu einem Extrem an Funktionalismus ausgereizt hatte. Mensch und Material geeint unter dem Qualitätssiegel Elastizität und Flexibilität, die Welt selbst eine riesige Taylor-Maschine.

    Statistische Nivellierung und steter Verschleiß zersetzen auch das Zeitempfinden der Moderne. Als Dauerbefindlichkeiten von Ermüdung und Stress schreiben sie die Aktualität Poncelets diagnostisch fort und stimmen als ursprüngliche Operationsbegriffe der Science des matériaux darauf ein, wie sehr sich die Oberflächen- und Tiefenzerrüttungen von Material und Leben gleichen. Was wäre denn vom Triumph der Ingenieurwissenschaften her der Einzelne anderes als ein Werkstück im Ermattungsprozess seiner Biographie - material under stress?

Messungen zur Arbeitseffizienz 

© Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Zweitausendeins 1981

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Transzendenz(los)

 

Wenn Peter Sloterdijk Subjektivität als die "Anstrengung-die-ich-bin" von einer Fron der Haltungs- und Durchhaltepositionen her denkt(1), wäre ebenso schlüssig vom Subjekt als Spannungsdispositiv zu sprechen, von seiner Gespanntheit und Verspanntheit, seiner Über und Abgespanntheit und seinem Eingespanntsein, schließlich von seinen Methoden des Entspannens und Ausspannens. Übermäßige Anspannung als eine Art Dauerstrangulation, auf die die Stress-Symptomatik ihrer lateinischen Etymologie nach verweist, bedarf krampflösender Mittel. Das Strikte und Stringente, das Straff-Angezogene und Zusammenschnürende, das Zügeln und Zähmen in der Schule der Selbstdisziplin braucht Lockerungen, um nicht abgehalftert zu werden.

    Vom Ausspannen ist auch am Ende der Bach-Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort die Rede. Was hier allerdings den Jenseits-Trost im Angesicht des Todes zur Sehnsucht nach Befreiung durch eine göttlich-gütige Instanz steigert - "Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus" - bricht sich verstörend an der Selbstaktivierungsverpflichtung heutiger Prozeduren des Ausspannens im Rahmen sogenannter Frei- und Auszeiten. Bei Bach konnte das Transzendenz-Versprechen noch Tod und Seligkeit vereinen und im hochdissonanten, tritonusdurchsetzten Schlusschoral der Kantate als Überschreiten einer ebenso vertrauten wie ungeheuren Grenze anklingen lassen. Gut 200 Jahre später dann derselbe Choral, textlos allerdings, in Alban Bergs Violinkonzert: ein erschütternd transzendenzloser Verweis auf die Transzendenz. Ohne den finalen Übergang in vergänglichkeitsresistente Ewigkeitsbereiche der Verklärung verlieren sich Sterben und Tod im bloßen "Aufhören" eines bruchstückhaften Einzellebens. Arnold Schönbergs kompositionstechnische Unterscheidung zwischen "Schließen" und "Aufhören" hat demnach mehr als nur ein musikalisches Problem zur Sprache gebracht.(2)

    Abgedichtet gegen jeden Transzendenzbonus entbehren Leben und Tod den Sicherungsgrund eines doppelten Bodens. "Aufhören" wird zur letzten Etappe der Erschöpfung in modernen Industriegesellschaften, nicht selten zum verwalteten Warten auf Ableben und Ende. Was Altern in einem ökonomisch mobilisierten und anonymisierten Sozialgefüge heißt, ist zumindest dem Hörensagen nach bekannt. Altern handelt von verbrauchten Verbrauchern, die nur noch verbrauchen, nur noch brauchen, unheimisch in Heimen, erschöpftes Material, um mit Poncelet zu sprechen. Der säkularen Rechtfertigungstheologie von Produktion und Arbeit zufolge Abtrünnige, Nutzlose, deren Lebens-erfahrung zur Konkursmasse belanglos beliebiger Biographien enteignet wird: chancenlos gegenüber der Übermacht einer Informationsindustrie des Immer-schon-und-genauer-Bescheidwissens mit ihrem Experten- und Studienwahn nach Maßgabe der Statistik Quételets. Der Tod - ein Entsorgungsproblem; "Staub und Asche", von denen in Bachs Kantate die Rede ist, eher eine Angelegenheit des ökologischen als des theologischen Ressorts.

    Und doch, wie weit, wie offen könnte der Horizont einer neuen Freiheit irdischer Belange nach dem Tod Gottes und seit dem Fehlen eines letzten Beobachters sein - um das Schwinden der Transzendenz mit Nietzsche und Luhmann zu formulieren: Der Horizont einer Freiheit, die in ihren Möglichkeiten verstellt bleiben muss, solange sich das subjektivierte Ich weiterhin und vorrangig als eine hochgespannte Willensmonade zu verstehen hat. Ihr Metier sind Zeitkontingente des Nutzens, die selbst noch dem letzten Rest an Muße sein Muss als Stressvermeidungsstress abverlangen. Zum Privileg wird eine Zeit, die trotz ihrer Verwertungsabstinenz nicht als Verlust empfunden würde. In einer mit zu viel Produktions und Konsumsinn beschwerten Welt leidet Leben unter dem Mangel, das Unwägbare und Grundlose ohne Angst und eben auch außerhalb der Kunst zulassen zu können. Mit dieser Zeitspur einer immanenzgesättigten Endlichkeit aber wäre eine erste Befreiung vom Joch der gottererbten und die Einzelregie eines jeden Lebens übermächtig beschwerenden Handlungs- und Zielsetzungseffizienz möglich: zumal derjenigen, jederzeit Herr seiner Lebenslagen sein zu müssen, ohne doch das Dilemma meistern zu können, Unberechenbares in Berechenbares aufzulösen.

 

 

Schwergewichte

 

Ihrer göttlichen Schöpfungspotenz nach ist Zeit noch in ihrer rein innerweltlichen Variante dazu prädestiniert, die sinnstiftende Kontinuität von Produktion und Arbeit zu verbürgen. Als Vita activa organisiert sie unentwegt Gründungen und Begründungen auf der Basis ökonomischer und logischer Gründe bis hin zu jenem Akt der Selbstinstitutionalisierung, ständig zum Erregungs- und Erlebnisgrund seiner selbst werden zu müssen. Logik- und technikgestützt wird Zeit im Namen eines letzten Universalgrunds der Verwertung zu einer Instanz, der jede Grundlosigkeit zu einem Faktor des Nutzlosen verkommt.

    Dennoch zeigen sich immer wieder Erschütterungen, die diesen Zeit-Asphalt über dem Fundament einer dichten Kausalität rissig werden lassen. Kurzbelichtet und ereignishaft bricht etwas Grundloses auf, das vermuten lässt, die einzig als sinnvoll legitimierten Gründungspraktiken der Selbstbehauptung könnten womöglich selbst die Ursache der allseits beklagten Sinnentleerung sein. Chronische Erschöpfung ließe sich demnach auch als die Überanstrengung verstehen, Grundloses zu verdrängen, zumal in seiner skandalösen Form des Nutzlosen. Von keiner Konvention gestört gibt Erschöpfung dem Erschöpften Nachricht vom eigenen verletzlichen Naturgrund und von der Verfallszeit befristeten Lebens. Ein psychosomatischer Ruin, dessen mittlerweile eingebürgerter Befund vom "Burnout" seiner technizistischen Färbung wegen erneut Poncelets Brisanz beweist. Was aber könnte die Apathie des Ausgebranntseins anderes meinen, als dass im Zug beschleunigter Autokinese der Antrieb eines Lebens, um im Bild zu bleiben, seinen Vitalbrennstoff vorzeitig verbrannt hat? Die Ration an Sinn reicht als Wegzehrung nicht mehr aus, um die Zumutungen des Realitätsprinzips in einer transzendenzlosen Welt des Nur-einmal-Lebens widerstandslos zu ertragen. Werden die inneren und äußeren Kampfkünste der Funktionalität täglich darauf trainiert, Versagung nicht als Versagung zu erfahren, sondern als den nötigen Einsatz im Spiel um Erfolgschancen, dann verzeichnet der dysfunktionale Zustand des Ausgebranntseins solche asketischen Umwertungen des Lebens als lebenzerstörend. Dem Ausgebrannten erscheint die Welt als eine verkehrt absurde: Überall Anhäufungen, aber keine Fülle; überall Events, aber kein Ereignis; überall Kommunikation, aber kein Gespräch; überall zerlebte Zeit, aber keine gelebte, überall Gleichförmigkeit, aber keine Dauer, überall Erosionen, aber kein Eros. Burnout: der lautlos gedehnte Zusammenbruch in einer Arena hektischer Produzenten und Konsumenten, in dem gelebtes Leben, in Zahlen aufgerechnet, das Hinfällige und Vergängliche seiner Aktivitäten spürt.

    Die Bürde, existentialistisch gesprochen, sich selbst wählen zu müssen, jedenfalls mit sich selbst auszukommen, veranlasste schon Nietzsche zur Metapher von der "schwersten Last": "Selbstkenner! Selbsthenker! [...] du wirfst dich nicht ab von dir...".(3) Überall zu viel Regiearbeit, zu viel Meisterung, zu viel Akkumulation. Nicht wenige Irritationen, die die soziale Ordnung von ihren Rändern her verunsichern - neuerdings in den komatösen Trinkexzessen jugendlicher Wochenend-Desperados - sind experimentelle Aktionen, sich vom eigenen Schwergewicht zu befreien; Levitationsverfahren, in denen sich Lebenshunger und Todessucht mischen. Im Wunsch, sich selbst loszuwerden, nicht mehr Mensch sein zu müssen, sucht ein ebenso panisches wie manisches Verlangen den "Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten"(4). Verzweifelt gewollt und rauschhaft zerstörerisch soll der Ballast der Selbsterhaltung um jeden Preis abgeworfen werden, auch wenn solche Auflösungs- und Auslöschungs-verfahren selbst wieder vom Willensregime des Ego initiiert sind. Sucht und Sog werden zum inneren Amoklauf des Ich in allzu engen Verhältnissen. Enge und Angst strangulieren zu sehr, als dass sich düstere Vernichtungsrouten zu heiteren Wegen ins Offene wenden könnten. Deshalb intendieren Heideggers Rede von der Gelassenheit und diejenige Adornos von der "opferlosen Nichtidentität des Subjekts"(5) vor allem eines: die Minderung des Zwangs, durch den jedes Ich über die Akkumu-lationsmaschine Identität und die Buchungsmaschine Zeit zum Besatzer seiner selbst wird.

 

 

Würde(los)

 

Konnte die protestantische Ethik ihren Erwerbsfuror anfangs noch mit Transzendenzprämien überhöhen, ist Arbeit mittlerweile zum rein immanenten Sinnregulativ geworden. Einer ihrer Gnadenerweise liegt im Erlangen von Kaufkraft und deren verführerisch leichter Verwechslung mit Leben. Mit der Suggestion, Kaufkraftbesitzern stünden alle Lizenzen zu, schürt der Markt die Panik des Konsums, etwas zu versäumen, ohne zu wissen was. Die Panik selbst ist das Stigma einer auf den Tag und seine Betriebsamkeit abonnierten 24-Stunden-Gesellschaft, der mit der schleichenden Vertreibung der Nacht etwas von der Scham des Menschen über die Schwäche seiner Natur aufgeht. Insistiert doch die Nacht, die schon bei Hölderlin zur "Fremdlingin" wird(6), ebenso hartnäckig wie hinderlich auf der antiaktionistischen Weltentrücktheit des Schlafs, auch wenn die technische Modellierbarkeit des Menschen daran arbeitet, biorhythmische Naturrelikte künftig flexibler zu handhaben. In ihrer Stressbedingtheit sind Schlafstörungen und Schlaflosigkeit deshalb immer auch latente Appelle zu unablässiger Wachheit. Vielleicht lässt darum der Blick zum Sternenhimmel in klaren Nächten ahnen, was an Zeitenthobenheit, was an Weite und Höhe verloren ging. In solchen Momenten werfen Horizont und Firmament dem punktualisierten Ich spiegelartig die eigene Selbstverleugnung und Würdelosigkeit zurück.

    "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."(7) Die Würde des sittlichen Charakters nämlich, die die Zeit des schrankenlosen Tauschs aussetzen soll. Gegen dessen Nivellierungsmacht die Einzigartigkeit des Sittengesetzes aufzubieten, mag aus heutiger Sicht wie ein gut gemeinter Rat aus fernen Epochen wirken, als Konkurrenz noch liberalistisch ausbalanciert gedacht werden konnte. Wer wollte indes bestreiten, dass Kants Forderung, gegen das Rivalitätsgefüge schicksalhafter Marktkräfte die Autonomie des Vernunftsubjekts zu setzen, ein Stachel der Provokation im Corps social des Wirtschaftsgetriebes bleibt?

    Allerdings war das Postulat der Subjektautonomie schon von Beginn an zwiespältig. Als Forderung bedeutete es stets auch Überforderung. Die säkulare Aufgabe, keinen geringeren als einen toten Gott zu beerben, verlangte vom subjektivierten Ich eine Zeitregie lückenloser Sinngebung. Zugleich musste das Unternehmen scheitern, die göttlichen Attribute Einheit, Allmacht und Unvergänglichkeit zur sittlichen Souveränität des Subjekts auszufalten. Wurde doch mit der Auflösung der religiösen und metaphysischen Sinnbühnen das Bewusstsein vom zufälligen, fragmentarischen Einzelleben zum Schatten jeder Existenz. Die von Kant bis Schopenhauer an die Gattung überstellten Trostkonzepte von Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit konnten daran ebenso wenig ändern wie die heutigen Esoterikmodelle von Rückführung und Wiedergeburt.

    Wenn Unendlichkeit zur Frist wird und Gnade zum Selbstmanagement, wächst nicht nur der Widerstand gegen Proviantweisheiten wie diejenige, der Weg sei das Ziel. Wenn es nur noch Richtungen gibt, stellt sich die Frage nach der Ankunft nicht mehr, ohne dass doch das Gefühl auszuhalten wäre, niemals anzukommen. Unter solchen Bedingungen gerät die Aussicht, ein Leben lang leben zu müssen, nicht selten zur Drohung. Zumal das einzelne Leben kein Bildungsroman mehr ist, erzählt von einer teleologischen Zeit, die dem Garantiefonds der Aufklärung gemäß die Vernunft der Gattung mit der des Einzelnen zur Konvergenz bringt. Eher schon ist es ein Patchwork unaufhörlicher Nachbesserungen unter dem Druck des unumkehrbaren biographischen Zeitpfeils und grundiert von der Frage, wozu das alles. Einer Frage, die um der Disziplin willen zum Schweigen gebracht werden muss und nie ganz zum Schweigen gebracht werden kann. "Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher".(8) Kein Wunder, dass sich so mancher lebensmüden Sehnsucht nach dem finalen Cut das bittere Gefühl beimischt, heillos betrogen worden zu sein. Aber von wem?

    Selbst wenn die Spur inzwischen lesbar ist, die die "Suprematie des planvollen Wollens" über die "Macht der irrationalen Triebe" hinterlässt(9): Stets noch zwingt der energetische Imperativ des Homo oeconomicus zur Verkümmerung zu vieler kreativer Potentiale. Als oberste Aufgabe im Erziehungsprozess der "Persönlichkeit" zu "aktiver Selbstbeherrschung" harmoniert Willensfreiheit als "Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur"(10) nur zu gut mit der innerweltlichen Askese Protestantischer Ethik und ihrem weltweit exportierten Erfolgsmodell abendländischer Rationalität, das das Rationale so ressourcenmächtig ins Rationelle verwandelt.

    Die Investitionen und Renditen einer auf Selbstverwertung verpflichteten Selbstbehauptung abzudämpfen erforderte eine Kunst des savoir mourir, die das Leben liebt, ohne es zum Fetisch zu machen. Wer wäre dazu dauerhaft imstande? Dass das zum Subjekt verklärte Ich niemals ganz bei sich selbst ist, hat nicht erst Heideggers Analyse vom "Sein des Daseins" als "Sorge" bewusst gemacht.(11) Anstatt jedoch diese Offenheit in der Zeit als ein Versprechen zu begreifen, wurde das Uneinholbare zu einem Skandal des Bruchs. Agieren Ich und Selbst als eine Art Perpetuum mobile verinnerlichter Disziplinierungstechniken über deren notwendiges und akzeptables Maß hinaus, unterworfen der "Mikro-Justiz der Zeit"(12), dann gerät die Freiheit des Lassens zur Farce und Heideggers "ES gibt Zeit" als Gegensatz zur rechnend verplanten Zeit des willensoptimierten Ich zum Idyll weltfremder Gelassenheit.(13)

 

 

Aufatmen

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​Senecas De tranquillitate animi beschreibt die Unentschiedenheit zwischen Vita contemplativa und Vita activa mit dem Zustand einer Seekrankheit, einer "nausea", die in Sartres Welt der Kontingenz längst zur nausée, zum veritablen Ekel geworden ist. Noch der Schwindel, der den Hauptmann in Büchners Woyzeck anlässlich zehn unverplanter Minuten überfällt, nicht anders als jenen Nikolaj Kusmitsch in Rilkes Malte, den das "Umwechseln" der Zeit in das Kleingeld von Sekunden "wie auf Deck" taumeln lässt, zitiert eine Gleichgewichtsstörung über schwankendem Grund.(14) Heutigen Zeitgenossen ist dieser Rausch des Abgründigen fremd geworden: Zeit, verräumlicht zum Bestand von Optionen, wird mehr in ihren Container-Qualitäten erfahren denn als destabilisierendes Gewoge.

    In diesem Zeitcontainer dominiert das Gebot der Kompression. Begrenzte Speicherkapazitäten sollen durch Komprimierung, vor allem durch Zeitmodulationen des Gleichzeitigen, immer größere Informations- und Handlungsmengen bewältigen. Eine Anforderung, die Mensch und Maschine in der Datengesellschaft wohl am stärksten einander angleicht. Und wie der maschinellen Leistungsfähigkeit Daten-Überläufe und verlustbehaftete Kodierungen Grenzen setzen, so erschöpfen die menschliche Kondition Überlastungen des Kurzzeitgedächtnisses, Wahrnehmungsverzerrungen und Lethargien, in denen Kompression in Depression umschlägt. Zudem verspannt die Kompression einer simultan und instantan vernetzten Welt die Eigenzeit des Ichs in eine globale Hyperchronologie, die im Weltäther universaler Kommunikation die Fähigkeit abverlangt, sich einzulassen, ohne sich aufzugeben, durchlässig zu bleiben, ohne auf Filter zu verzichten. Sieb und Filter gehören zum Fading, zu einem ständigen Ein- und Ausfädeln zwischen Ich und Welt, das hohe Summen an Lebensenergie abzieht. Der fortwährende Wechsel zwischen Besetzungs- und Abwehrenergien inmitten der Informationsbedrängnisse und Kommunikationszudringlichkeiten sowie die Abstimmung zwischen der synchronen Weltzeit und den asynchronen Eigenzeiten des Ichs verpflichten darauf, mit vorgegebenen Geschwindigkeiten kompatibel zu sein, mag auch das Tempo, zu dem sich die Einzelgeschwindigkeiten aufsummieren, eine parasitäre Zeit erzeugen, die Leben aussaugt.

    Dem Versuch, in diesem Zeitsog den befreiten Augenblick und seine Oasen des Aufatmens planbar zu machen, korrespondiert aktuell eine Flut von Glücksratgebern. Sobald jedoch die knappe Ressource Sinn mit der knappen Ressource Glück nach der Vorgabe von Zeitplanern verrechnet wird, sind alle Getriebene. Zeitverdichtung wird zur Zeitvernichtung und trennt Zeit von Erfahrung. "Alle Welt bewundert die Hafeneinfahrt von New York. Aber [...] die Wolkenkratzer, diese gewaltige Architektur, sind dazu gemacht, bei hundertzwanzig Stundenkilometern gesehen zu werden, und wenn Sie am Fuß dieser Bauwerke stehenbleiben und sie ein wenig näher studieren wollen, dann wird eine Stunde viel zuviel Zeit sein, um Betrachtungen darüber anzustellen."(15) Was Paul Valéry an einer Welt der glatten Oberflächen diagnostiziert, benennt das Seelenlose im hastigen Vorbeigleiten von Menschen und Dingen und das Verhängnis einer unter Zeitdruck und Zeitnot zerriebenen Empathie, die zu ohnmächtig ist, um die Aufrüstung der Beschleunigung durch eine Entrüstung der Sinne zu entschleunigen. Prousts Mémoire involontaire, die Epiphanie bei Joyce, das Ereignis bei Heidegger sind daher Versuche, das Jetzt solchen Schnelligkeitsekstasen und ihrem tagesaktuellen Begleitschwarm aus sprachlichen und bildlichen Massenklischees und Klischeemassen zu entziehen: in einem Moment der Entrückung. Und es sind Versuche, Transzendenz immanent zu denken: als eine Überschreitung des profanierten Hier und Jetzt und als eine säkulare Variante der Offenbarung, um dem Normalen auf Unverfügbares hin zu entkommen.

    Weitgehend immun gegen die Strategien der Verfügbarkeit werden insbesondere die Randqualitäten von Nischen- und Zwischenbereichen zu Distanzrefugien des Innehaltens, so, wie Unerreichbarkeit im Betrieb der Erreichbarkeit zunehmend den Begriff einer souveränen Zeit vermittelt. Deshalb auch das Interesse neuerer philosophischer Publikationen am Neutrum, an der Lücke, am Zaudern. Fehlende Zwischenbereiche, einschließlich solcher des gleitenden Übergangs, verstärken den Härtefaktor einer Welt, die immer noch mit zu vielen polaren Wertigkeiten im Schatten des Erkenntnisbaums von Gut und Böse arbeitet, allen voran mit der ökonomieverrückten Spaltung von Leben und Tod. Nicht nur das Zwielicht so mancher blauen Stunde wird mit elektrischer Grelle überblendet. Dimmer indes ersetzen keine Dämmerung.

    Den Zauber des Augenblicks zu spüren und ihn, um alltagstauglich zu bleiben, zugleich abblenden zu müssen, lähmt auf Dauer und trägt zu jener allgemeinen Erschöpfung bei, in der die Welt zum Surrogat verdampft. Und dabei ginge es doch einfach nur darum, atmen, aufatmen zu können. Überall so viele Möglichkeiten und so viel Wirklichkeit. Freilich: was wäre dem Argument zu entgegnen, gelebte Eigenzeiten außerhalb der reglementierten Zeitbudgets würden eine Gesellschaft extremer Arbeitsteiligkeit umgehend in einen letalen Zeitinfarkt stürzen? Spricht hier das Realitätsprinzip zugleich mit der Stimme der Hoffnung, erst nach einer global absehbaren Durchkapitalisierung könnten sich neue Wege ins Freie, ins Offene zeigen? Wenn ja, dann bliebe bis dahin wenigstens die Zuversicht, dass wir als mobile Platzhalter im Maelstrom der Informationen, der Deformationen und Transformationen zumindest noch wehmütig werden können oder zynisch oder beides - und dies beim Lesen einiger alter Verse des chinesischen Tao-Meisters Ch’eng Hao mit ihrer Zeit-Utopie der Immanenz, so nah und doch so fern:

       "Nichts ist zu tun, nichts drängt; / Rot scheint die Sonne durchs Ostfenster. / Ich schlafe."(16)

 

         Johannes Bauer, Aurora im Osten (2011), 100 x 70 cm, Acryl auf Leinwand

Anmerkungen

 

 

 1 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt/Main 1989, S. 196.

  2 Arnold Schönberg, Harmonielehre, hg. v. Josef Rufer, Wien 1966, S. 148.

  3 Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Mün­chen/Berlin/New
    York 1980, Bd. 6, S. 390f.

  4 Gottfried Benn, Kokain, Gesammelte Werke I, hg. v. Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1960, S. 52.

  5 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, Frankfurt/Main 1973, S. 277.

  6 Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in: Hölderlin, Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/Main 1984, S. 114.

  7 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. VII, S. 68.

  8 Bertolt Brecht, Hauspostille, Gegen Verführung, in: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main 1982, Bd. 8, S. 260.

  9 Max Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I, Hamburg 1975, S. 135.

10 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., Bd. VII, S. 210.

11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 180ff.

12 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/Main 1977, S. 230.

13 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1976, S. 5, passim.

14 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Main 1982, S. 136ff.

15 Paul Valéry, Zur Theorie der Dichtkunst, Frankfurt/Main 1975, S. 60.

16 Ch’eng Hao, Vollendung, in: John Blofeld, Der Taoismus oder Die Suche nach Unsterblichkeit, München 1994, S. 114.

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