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Peter Gülke

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«... immer das Ganze vor Augen»

Studien zu Beethoven

(Metzler/Bärenreiter, Stuttgart/Weimar 2000)

Gleich zu Beginn die übliche Schlussfrage: Was ist das Besondere an Gülkes Beethoven-Essays? Ist es ihre philologische Aufmerksamkeit? Sie findet sich zur Genüge auch bei anderen Autoren. Ist es die klärende Kraft des Begriffs? Auf sie setzen ebenfalls zahllose Beethoven-Kommentare. Liegt das Besondere in der Vermeidung einer Auslegungspraxis, deren Größenmaßstab die Sache leicht aus den Augen verliert? Liegt es in der Sensibilität der Deutung, wie subtil Beethovens Kompositionen Buchstabe und Geist miteinander vermitteln? Doch auch das sind Floskeln, solange man nicht selbst erfahren hat, wie Gülke argumentiert, wie er formuliert.

Über Beethoven zu sprechen ist leicht. Kaum ein Komponist, der wie er die Leitbahn seines kompositorischen Denkens offen gelegt hätte, offen legen wollte: Musik als ethisch inspirierter Diskurs. Über Beethoven zu sprechen ist aber zugleich unendlich schwer. Dann nämlich, wenn man nicht bei den Jubelbreschen und Bändigungsszenarien seiner Musik stehen bleibt. Bei jenen Gemeinplätzen der Einfühlung also, denen sich in Gülkes Buch jede Seite verweigert. Keineswegs übersieht Gülke die Strategie in Beethovens dramatischer Eloquenz: die Strategie, einkomponierte Widerstände dem Formprozess als Sinnrendite zuarbeiten zu lassen. Aber er vergisst darüber nicht die «Gestehungskosten»: die Asche des triumphierenden Phönix, der als Sturmvogel der Revolution in Beethovens Symphonien unentwegt neu und in vielfältigen Formen ersteht. So folgt Gülke Beethovens Motivfiligran nicht nur als einem Gewebe der Bündnisse zwischen Detail und Ganzem, zwischen finaler Gewichtung und sittlich-tätiger Emanzipation. Er folgt ihm auch als einem Gewebe der Trennungen und Unvereinbarkeiten, ja der «Gleichgewichtsstörungen», gegen die selbst das Satzkontinuum nichts mehr auszurichten vermag.

Solche Erkundungen sind wegen der Präzisierung ihrer Befunde auf Beethovens Gesamtwerk verwiesen. Deshalb gilt das Beethoven-Zitat, mit dem Gülke seine Essays überschreibt, auch für ihn selbst. Auch Gülke hat «immer das Ganze vor Augen». Ob er anlässlich der Skizzen zur Fünften Symphonie Einblicke in Beethovens Laboratorium der Materialprüfung gibt; ob er auf Beethovens neuartige, öffentlichkeitswirksame Kommunikationsformen zu sprechen kommt, auf die Klangrede an das große Publikum und damit auf die Strukturveränderungen im Verhältnis von Orchesterapparat und motivisch-thematischer Organisation; ob er die Desillusionierung der Zeit und der Satzhomogenität im Allegretto der Achten Symphonie thematisiert: Immer geht es Gülke um das Verständnis von Beethovens intellektuellem Habitus und dessen ästhetischer Präsenz. Somit um die bisweilen rigoros auskomponierten Charaktere eines hellwachen Citoyen, dem vornehmlich eines zuwider ist: Unmündig und in verblendeter Partikularität hinter den Belangen und Forderungen des Zeitalters zurückzubleiben. Und natürlich geht es Gülke um die Frage, welchem Übermaß an Reflexion sich Beethoven dabei zu stellen hatte; darin durchaus Hegel vergleichbar.

Hegel und Beethoven. Wie sich Beethovens kompositorisches Denken zum philosophischen seiner Zeit verhält, entschlüsselt Gülke aus der Eigenlogik der Musik, ohne die Parallelen durch voreilige Gleichheitszeichen zu neutralisieren. 1969 liest sich bereits die Motivkette eines der Essay-Titel wie ein philosophisches Begriffskompendium: Introduktion als Widerspruch im System. Zur Dialektik von Thema und Prozessualität heißt es da. Programmatisch gibt Gülke vor, was der Aufsatz meisterhaft präzisiert: das Verlockende und zu Bändigende der Freiräume und Unwägbarkeiten in Beethovens dichter, ja geradezu logisch gefügter ‹Phänomenologie des musikalischen Geistes›. Freiräume und Unwägbarkeiten bis hin zur Schwierigkeit des Anfangs und Anfangens, die auch Hegel umtreibt. Wie kann eine Philosophie beginnen, die auf die Lückenlosigkeit des Systems setzt? Wie kann eine Musik beginnen, für die die Tilgung unausgewiesener, das heißt zunächst lediglich gesetzter Momente in einer durchorganisierten Werktotalität entscheidend wird? Unter diesem Aspekt interessiert Gülke an Beethovens Kompositionen, wie in ihnen noch geringste Zufälligkeiten mit dem Anschein «bloßer Versicherungen» zum Problem werden; zum Problem vor allem für den diskursiven Bereich der Musik.

Und doch, auch wenn Gülke vom «komponierenden Hegelianer Beethoven» spricht: Beethovens Musik wird für Gülke nie zur Manövriermasse philosophischer Thesen. Stattdessen macht der Autor weit mehr die Unterschiede zwischen beiden Diskursgattungen produktiv. Die Spannung also zwischen der kausalen, dem Allgemeinheitssog des Begriffs verpflichteten Logik der Philosophie und der assoziativ verschatteten Logik der Musik mit ihrer Tendenz zum Einmaligen. Diese Spannung treibt Gülke in die Musik selbst hinein, indem er Beethovens Anstrengung verfolgt, wie denn das Besondere des musikalischen Ausdrucks mit einem verbindlichen Formkanon zu koordinieren sei. Dass sich Gülke bewusst ist, wie sehr gesellschaftliche Widersprüche als solche der Form wiederkehren, liegt auf der Hand. Einer Form allerdings, die immer schon mehr als nur Form ist. Mit Gülke begreift man jedenfalls besser, wie sich die «Entfernung vom revolutionären Einklang der Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft» in den Konflikten zwischen «Thema und Form» niederschlägt.

Gülkes Buch schüchtert nicht ein. Im Gegenteil: es ist spannend zu lesen. Spannend, weil es der Musik Beethovens so inspiriert und dicht am Material folgt, dass sich das übliche Dilemma musikalischer Erläuterungen gar nicht erst stellt: das Dilemma zwischen gedanklicher Deutungsbeliebigkeit und analysetechnischer Verbissenheit. Stets orientiert sich Gülke auf spekulativem Terrain am Kompass des notierten Werks. Nur ist der immer schon nach dem Meridian des komponierten Geistes ausgerichtet. – Keinerlei Einwände demnach? Auch nicht im Sinn jener mittlerweile zum guten Ton des Rezensionsgeschäfts gehörenden Fragen nach dem Blinden einer Epoche? Nach dem also, was Beethovens Werk nicht erfahrbar ist, wogegen es taub bleibt? Eine Antwort auf solche Fragen gibt Gülke mit der Kategorie des Ernstfalls, die eine Konstante beethovenschen Komponierens ausmacht. Dass Beethoven musikgeschichtlich die «Phalanx der Humorlosen eröffnet», wie Gülke betont, bedeutet nichts anderes als den vom ästhetischen Erkenntnischarakter her verlustreichen Ausschluss einer spielerischen, ironischen, spirituellen Heiterkeit aus der Musik. Als könnte und dürfte der aus den Fugen geratene Weltlauf kompositorisch nur noch unter dem Blickwinkel ethischer Opposition oder mit tragischem Heroismus reflektiert werden: im Vertrauen auf die Ressourcen des Negativen, die die Fron der motivisch-thematischen Arbeit dem absoluten Geist der Musik als Idee von Wahrheit und Freiheit zubringen soll.

Gülke macht daher gerade im heroischen Regelkreis beethovenschen Komponierens Lücken ausfindig und verstehbar. Ungedeckte Gedanken in Form jener Peripherien des Tastenden, des Unbestimmten und Ungewissen, die zunehmend ins Innere der Musik dringen. Dabei setzt Gülke das analytische Stethoskop hautnah am Pulsieren der Satzenergie an. Jeder Takt wird abgehört, um die Impulse zu orten, die die Vermittlungsdichte lockern – bis hin zum Ausmaß oasenartiger Abweichungen, in denen die Musik Ökonomie und Stringenz unterläuft und ihren reflexiven Kontrapunkt mitkomponiert. Oasen, in denen die robespierre- und napoleonhafte Physiognomie Beethovens auf Hölderlin verwandte Züge hin durchlässig wird. Oasen zudem, in denen sich das Diktatorische beethovenscher Partituren auf eine Sprache jenseits von Arbeitsethos und Gattungspathos hin öffnet. Nicht selten wird dabei das Werk selbst zum offenen Ohr, dem – wie in der Pastorale – bislang unerhörte Töne vernehmbar werden: die von Vögeln gar, die ‹in die Musik hineinzwitschern›. Und Gülke lässt es sich nicht nehmen, hier von einer «Deckung von Natur und Kunst» zu sprechen, einer Wunschlandschaft mit der «stillen Glückseligkeit Siegfrieds, der plötzlich die Sprache der Vögel versteht».

Und etwas wie siegfriedhaftes Verstehen fällt auch Gülkes Lesern zu. Ein Verstehen jenes Naturgrunds in Beethovens Musik, den die Sublimierungsarmatur seiner Kompositionen nicht verdrängen kann. Mag das beethovensche Skalpell der Konstruktion oft genug radikale Schnitte durch den Organismus der Sätze und Werke legen; mag dieses Skalpell immer wieder äußerst manipulierbare Motiv-Kalküle aus dem tonalen Sprachrepertoire herausschneiden, um sie der Formtotale umso müheloser implantieren zu können: Gülke zeigt, dass Beethovens Diskurs ohne die Reflexion zivilisatorischer Gewalt- und Opferarsenale nicht zu denken ist. Der Widerstand, den die Themen mitunter ihrer Verarbeitung entgegensetzen, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes wäre die Hinterfragung selbst noch der emanzipatorischen Dramaturgie der Symphonien durch die Musik: Als könnte die Rhetorik der Postulate und Appelle allzu leicht mit Überredung, mit Zwang verwechselt werden.

So lesen sich Gülkes Untersuchungen auch wie eine Karte der gegenläufigen Wege und exzentrischen Bahnen in Beethovens kompositorischem Labyrinth. Kann man von einem Beethoven-Buch mehr verlangen? In einer Zeit zumal, in der die gängige Konzertpraxis zur Liturgie der Gewohnheit verkommt? Zum Goutieren von Meisterwerken nach dem Kult von Devotionalien, die eher devot als hellhörig machen? Musste für Kafka ein Buch «die Axt sein für das gefrorene Meer in uns», dann ist Gülkes Buch eines, das das Eis tradierter Rezeptionsklischees aufsprengt. Auch darin im Pakt mit Beethoven und dessen Spätwerk, das die Winterwüste restaurativer Erstarrung zum Schmelzen zu bringen hoffte. Und mit ihr die Seelen-Arktis in den Herzen des Publikums – über alle klassischen Normen hinaus.

 

 

(Johannes Bauer)

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