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Johannes Bauer, Orpheus redivivus (2017), Acryl auf Papier)

Vom Text der Zivilisation

SWR 2001

Claudio Monteverdis Orfeo
und Liza Lims Oresteia

Die Orestie des Aischylos: ein unzeitgemäßer Sagenstoff aus dem alten Griechenland? Ein Stoff von vorrangig akademischem Interesse? Die australische Komponistin Liza Lim kommt zu einem anderen Ergebnis. Ihrer Oresteia von 1993 geht es um unvermindert brisante Urszenen der Menschheitsgeschichte. So versteht sich Lims »memory theatre« auf der Basis des antiken Dramas als ein Theater der Erinnerung und der Erkenntnis. Und als eine Arbeit am Mythos: als eine Arbeit an der Karte des kollektiven Gedächtnisses - gegen die zunehmende Enteignungsgeschwindigkeit des Vergessens. Der Gang in die Nacht der Sinne wird zu einer Spurensuche im Labyrinth von Gier, Gewalt, Verrat und Wahnsinn. Aber auch zu einem Abstieg in die Katakomben des Bewusstseins, hellhörig für das Verfemte und Verdrängte menschlicher Existenz, für die Träume, Ahnungen und Verblendungen. Komponiert werden solche Erkundungen mit der ganzen Bandbreite stimmlicher Artikulation, in die sich die Ästhetik des schönen Tons aufhebt. Dieser Luxus an Mitteln ermöglicht Lims Musik ein Höchstmaß an Tiefenschärfe: der Text der Zivilisation öffnet sich im Wechselspiel von Nähe und Ferne auf verborgene Lesarten hin, auf Abgründiges, auf Wundmale und Ekstasen. Mehr noch: der griechische Mythos verwandelt sich ohne übereilte Anbiederung und ohne philologisches Distanzgebaren in einen Spiegel der Gegenwart.

Seit Monteverdi hat das Musiktheater immer wieder Themen des klassischen Altertums aufgegriffen. Fragt sich nur, worin die Unterschiede zwischen den Anfängen der Oper und ihrer Spätphase in der Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos liegen. Was bedeutet es, dass sich Monteverdis Orfeo dem grausamen Tod seines Helden verweigert, während Lims Oresteia auf die Rituale eines »Theaters der Grausamkeit« setzt? Was ist bei Lim aus dem Ideal einer Stimme geworden, die im Orfeo selbst noch die exzentrische Bahn der Leidenschaft auf das Vernunftgebot des klaren Sprechens und reinen Singens hin ausrichtet? Und was bedeutet die Entfesselung des Körpers in der Neuen Musik für die klassische Operntradition? Fragen, die im Versuch einer Antwort einiges zum Befund und zum Verständnis des archaischen Unterbaus der Moderne beitragen können.

Johannes Bauer, Odyssee /Nekyia (2017), 53,3 x 45 cm, Acryl auf Papier

A      Wie tief muss Musik schneiden, um auf den Grund der Zivilisation zu gelangen? So tief?

 

Bspl. 1: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 20, 2´15´´–3´02´´] [0´47´´]

 

B       Oder verlangt der Abstieg in die Katakomben der Zivilisation andere Schnitttechniken? Schärfere?

 

Bspl. 2: Lim, Oresteia [Tr. 2, 3´25´´–4´06´´] [0´41´´]

 

A      Und was heißt überhaupt Zivilisation? Was Grund?

B       Vielleicht kann uns fürs Erste Goethe weiterhelfen. »Glaube mir«, schreibt er 1781 an Lavater,

A      «unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.»

B       Früh schon hatte Goethe

A      «in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche (...); aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt und eine desto schrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht.»

B       Man erkennt hier den Blick in einen «Grund», in dem, wie der Philosoph Schelling es formuliert, immer noch

A      «das Regellose (liegt), (...) und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden».

B       Eines allerdings ist sicher: um auf den Grund zu kommen, müssen die Decksteine angehoben werden. Wie sieht es also aus, dieses Anheben der Decksteine in Claudio Monteverdis Orfeo und Liza Lims Oresteia? Wie hört es sich an?

 

Bspl. 3: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 2, Tr. 11, 0´43´´–2´15´´] [1´32´´]

 

A      Claudio Monteverdi, Orfeo, fünfter Akt. Orpheus, der Sänger, der Heros, in auswegloser Lage. Orpheus, nach seiner Hadesfahrt, nach der misslungenen Befreiung Eurydikes aus der Unterwelt, dem Selbstmord nahe.

B       Uns interessiert hier der Triumph des heroischen Subjekts, das für einen Augenblick die Weltordnung außer Kraft setzt, das Gesetz von Leben und Tod, das im Moment des Triumphs aber, beim Versuch der Rückführung Eurydikes, umso tiefer stürzt. Wie komponiert Monteverdi dies alles?

A      Zunächst einmal ist im fünften Akt kaum noch etwas von jener Souveränität zu spüren, die den Gesang des Orpheus vor Charon auszeichnet. Nichts von jener virtuosen Vokalrethorik des «Possente spirto», das im dritten Akt das Tor zur Unterwelt öffnet.

 

Bspl. 4: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 6, 0´00´´–1´15´´] [1´15´´]

 

A      Im fünften Akt dagegen unterliegt der Vokalpart des wahnsinnsnahen Orpheus Schwankungen in der Deklamationsgeschwindigkeit. Die melodischen Linien wirken zusammenhangsloser, das modale Zentrum beginnt beunruhigend zu irisieren. Verzweifelt am Leben, ein Frauenhasser zuletzt, wird Orpheus eher vom Gesang gesprochen, als dass er den Gesang steuern würde.

 

Bspl. 5: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 20, 2´15´´–3´02´´] [0´47´´]

 

B       Nach dem zweiten und endgültigen Verlust Eurydikes wird die Ausdrucksregie vom Pathos der Klage regelrecht zersetzt; als würde der Schmerz das singende Subjekt ausfransen, zum Fragmentarischen hin auflösen.

A      Ob das nicht etwas zu stark formuliert ist? Zu stark, indem sich damit der Abstand zwischen Monteverdi und einer Musik aufhebt, wie sie knapp 400 Jahre später die 1966 geborene australische Komponistin Liza Lim komponiert hat: in ihrer Oresteia von 1993.

 

Bspl. 6: Lim, Oresteia [Tr. 4, 0´00´´–3´05´´] [3´05´´]

 

B       Geht man vom Kontrast zwischen Monteverdi und Lim aus, hört sich Monteverdis Musik zunächst fast idyllisch an. Vergleicht man die Ausdrucksregister von Monteverdis Orfeo allerdings immanent miteinander, wird der Verzweiflungston zu Beginn des fünften Akts schon deutlicher.

A      Nochmals also die Frage: wie tief ist kompositorisch zu schneiden, um auf den Grund der Zivilisation zu kommen? Oder, anders gefragt: droht sich Monteverdis Orpheus am Ende tatsächlich in die Nacht des Wahnsinns zu verlieren?

B       Sicher ist es zunächst der Wendekreis des heroischen Subjekts, der Monteverdi fasziniert. Genauer: der Umschlag von Autonomie in Autismus; vom Bewusstsein der Allmacht in Zerrüttung und Einsamkeit. Schließlich verstummt im fünften Akt des Orfeo selbst noch das Echo als einziger akustischer Spiegel des Narziss. Nicht nur die Natur versteinert dem einstmals selbst Felsen erweichenden Sänger zur natura morta, auch der Gesang erstarrt zu einem gnadenlos in sich geschlossenen Monolog. Selbst von der Musik vermag Musik nicht mehr getröstet zu werden.

 

Bspl. 7: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 19, 3´49´´–Tr. 20, 1´04´´][2´12´´]

 

A      Kann aber Monteverdis Musik überhaupt so etwas wie Wahnsinn ausdrücken? Schließt nicht die syntaktische Unversehrtheit von Monteverdis Musik und Sprache den delirierenden Gestus von vornherein aus?

B       Ob Monteverdis Musik und Sprache gar so konsistent ist, sei zunächst dahingestellt. Machen wir uns lieber klar, dass der Orfeo von 1607 aufs Engste jenen weltliterarischen Gipfelwerken benachbart ist, in denen der Wahnsinn des modernen Individuums ebenso früh wie exemplarisch thematisiert wird. Shakespeares König Lear nämlich und Cervantes' Don Quichotte, beide 1605 erschienen. Und war nicht auch der vom Wahnsinn geschlagene, umherirrende, zuweilen internierte Dichter Torquato Tasso, von Monteverdi überaus geschätzt, eng mit Mantua verbunden? Nämlich ein Schützling des gleichen Herzogs Vincenzo I., der 1590 Monteverdi an den Hof der Gonzaga geholt hatte?

A      Demnach stünde Orpheus im fünften Akt genau an dem Punkt, an dem der Don Quichotte des Cervantes und Shakespeares  Lear zu ihrer Fahrt im Irrgarten des Wahnsinns aufbrechen. Wäre,

B       ja wäre da nicht Apollon. Apollon also, der dem Hoffnungslosen Rettung durch Sublimierung verheißt. In Maximen, die da lauten:

A      «Ewigen Ruhm (...) verdient nur der, der sich selbst besiegt»; nur die ‹himmlischen›, unvergänglichen Freuden gewähren das Glück von «diletto e pace», von «Freude und Frieden», nicht aber der ‹vergängliche› Genuss ‹irdischer› Leidenschaft. Und vor allem: Ìçãå`í à¢âàí: nichts zu viel! Zu große Freude, zu tiefes Leid; das «troppo gioisti» und «troppo piangi»: sie sind nach Apoll die Extreme, deren Überwindung zum «immortal vita», zum «ewigen Leben» führt.

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Bspl. 8: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 21, 2´24´´–3´14´´]  [0´50´´]

 

B       Werden demnach bei Monteverdi die maßlosen «affetti» von Liebe und Leidenschaft dem Maß einer rigorosen Affekt-Ökonomie unterworfen?

A      Maß nimmt diese Ökonomie vor allem schon am Arbeitsethos der protestantischen Ethik und ihrer Pflicht des Aufschubs als einer besonders raffinierten Art der Selbstverleugnung. An einer Ökonomie, die Arbeit als göttliche Sinnstiftung begreift und als das beste Mittel gegenseitiger Anerkennung.

B       Und als ein Mittel zur Bewältigung der Einsamkeit des Individuums in einer Welt schwindender verbindlicher, gar göttlicher Wahrheiten. Einer Welt, die ihrerseits gerade infolge schwindender Wahrheiten so etwas wie das Bewusstsein von Individualität erzeugt: in all seinem Glanz, aber auch in all seiner Ohnmacht.

A      Deshalb ist die Rettung, die Apollon gewährt, eine Rettung, die das Subjekt aus sich heraus nicht zu Stande bringen kann.

B       Apollon also. Er ist es auch, der in Liza Lims Oresteia eine zentrale Rolle spielt. Nun aber gerade als eine subjektauflösende, zerstückelnde, polyphone Macht, eingezogen ins Binnenszenarium der Psyche. Eine radikal veränderte Perspektive von Subjektivität und Individualität somit, die Lim vornehmlich am Beispiel der Seherin Kassandra demonstriert. Und eine Perspektive, die bis ins Innerste der Faktur hineinreicht.

A      Dies zeigt sich schon am Beginn der Oresteia: einem keuchenden Atemgrund im dreifachen Piano aus gedämpftem Schreien und Stöhnen. Ein Grund von «mysteriösem Timbre», der – laut Partitur – die Unterscheidung nach Lust oder Schmerz hinter sich lässt, ohne deshalb ins Unerklärliche zu entgleiten. Mysteriös, weil sich in der Welt des Berechenbaren die Vieldeutigkeit des Atmens um den Bereich des Unheimlichen streut.

B       Aus diesem Atemgrund heraus erzeugt Lim erste Artikulationen – wie unter Geburtswehen, einer schmerzhaften Initiation gleich. «Otototoi popoi da»: Kassandras Stammellaute – pulverisierte Sprache in einer Grau- und Dämmerungszone zwischen Laut und Wort, nahe am Delirium.

 

Bspl. 9: Lim, Oresteia [Tr. 1, 0´00´´– 1´23´´] [1´23´´]

 

A      Übrigens finden sich einige der sprachlichen Entgrenzungen von Lims Oresteia bereits in der griechischen Tragödie. Ihr war über das Ritual des Totenkults ein breites Repertoire an Verzweiflungsgesten geläufig. Vom Zerreißen der Kleider über das Zerkratzen des Gesichts und das Ausreißen der Haare bis hin zu heftigen Faustschlägen auf Brust und Erde. Und natürlich kannte die antike Tragödie auch ein entsprechendes Register verbaler Ausbrüche: Interjektionen des Entsetzens, des Ekels, des Jammers. Einige jener stöhnenden und lallenden Laute also, die Lims Oresteia so virtuos auskomponiert.

B       Neue Musik und griechische Tragödie – beide gleich nah am körperlichen Grund der Sprache?

A      Zumindest in einigen Facetten. So lässt auch Aischylos den Auftritt Kassandras mit den silbischen Konvulsionen «Otototoi popoi da» beginnen.

B       Und so gleitet Kassandra auch bei Lim in die helle Nacht prophetischer Ekstase. Verspannt zwischen Schrei und Schweigen – «otototoi popoi da» – von den Rändern der Sprache her kommend und auf sie zulaufend.

 

Bspl. 10: Lim, Oresteia [Tr. 1, 0´00´´–1´23´´] [1´23´´]

 

A      Auch wenn die Zwischenwerte nicht zu überhören sind: müsste man für Lims Oresteia eine Palette der Grundfarben angeben, so wäre es die von schwarz, rot und grau, die von Tod, Blut und Asche. Noch die Sprache pulverisiert Lim immer wieder zu einer Asche von Lauten und Silben. Als Spur einer Gewalt des Sujets

B       aber auch als Spur eines dionysischen Elements der Sprache. Sprache muss von ihrer Sinntaufe erlöst werden, um wieder sprechen zu können. Sie muss in ihren Bedeutungen sterben, um neu geboren und für Ausdrucksbereiche empfänglich zu werden, die dem konventionellen Sprachgebrauch verschlossen sind. Deshalb bricht Lims Musik zusammen mit dem logischen Ausschlusscharakter der Sprache die Mauern des Bewusstseins auf, die Dinge und Welt einschließen, um das hinter diesen Mauern liegende Terrain in den Blick zu bekommen.

A      Bei Lim erzeugt die Sprache des Körpers den Körper der Sprache. Formt sich die Sinnspur durch das Gitter des Begriffs hindurch, dann verdunkelt sich der Sinnzusammenhang, sobald das Gitter des Begriffs geweitet oder zerbrochen wird. Erst jetzt aber kann Sprache auf ihren körperhaften Grund hin dekomponiert werden.

B       Und was für eine Sprache. Oft genug löst sie sich in Lims Oresteia in ein Gestöber von Lautpartikeln auf. Oft erstickt sie an sich selbst. Oder sie gerät ins Taumeln. Immer wieder werden Satz und Urteil zum Schrei zerrieben. An anderen Stellen treiben Körperlaute und Atemgeräusche wie Hauchen, Wimmern, Flüstern, Stottern, Röcheln oder Stöhnen entgrenzte Bedeutungshöfe aus dem Innern der Sprache hervor, nach Luft ringend, stimmlos, gepresst.

 

Bspl. 11: Lim, Oresteia [Tr. 3, 2´46´´(aufbl.)–5´25´´] [2´39´´]

 

A      Diese Sprachlava hängt eng mit Lims analytischer Sensibilität für die Fusion von Macht und Wahrheit, von Recht und Gewalt zusammen. Fusionen, die am besten mit einer Sprache der Detonation zu entlarven sind. Wenn in der zweiten Sequenz von Lims Oresteia an die Opferung Iphigenies erinnert wird, zu der ihr Vater Agamemnon sich gezwungen sah, um günstige Winde für das Auslaufen der griechischen Flotte nach Troja und damit in den Krieg zu erreichen, dann kommentiert der Chor das Ungeheure zunächst mit dem Zweckkalkül der Kriegslogik: «The war-effort wants it, the war-effort gets it». Bis sich das Einhämmern der Parole zu einer Hysterie steigert, in der Sprache sich überschlägt und mit ihrer Raserei zugleich den Wahnsinn von Krieg und Zerstörung aufdeckt.

 

Bspl. 12: Lim, Oresteia [Tr. 2,  1´06´´–2´10´´] [1´04´´]

 

A      Wenig später, als ein Herold das verbrannte Troja beschwört, laufen die Worte vom «empire gone putrid» irre stotternd aus der Bahn. Als wäre der Versuch, das Unfassbare von Trojas «dahingefaultem Reich» der regulären Sprache einzugemeinden, selbst nichts anderes als eine Kollaboration mit der Gewalt.

 

Bspl. 13: Lim, Oresteia [Tr. 2, 2´10´´–3´24´´] [1´14´´]

 

B       Ein Anheben der Decksteine demnach auch auf dem Gebiet der Sprache. Das bringt uns wieder zum Motiv des Wahnsinns zurück. Und zum Motiv, dass auch der Wahnsinn geschichtlich gebrochen ist. Welten etwa liegen zwischen der Diagnose des Wahnsinns als Wahnsinn, das heißt seiner Interpretation als Krankheit um 1600, und dem manisch-göttlichen Ergriffensein seiner antiken Physiognomie, geschweige denn seinem modernen klinischen Formenkreis.

A      Können mithin der Wahnsinn von Monteverdis Orpheus und der von Lims Kassandra überhaupt miteinander verglichen werden?

B       Vergleichbar sind sie zumindest als Phänomene der Abweichung, als Stadien des Deliriums. Sofern man Delirium, der Medizin des 17. Jahrhunderts entsprechend, als eine Abweichung von der «lira» versteht, von der Furche, vom gebahnten Weg. Delirium folglich als ein «de lira ire», als ein Verlassen der geraden Linie.

A      Trotzdem. Mag der Monolog im fünften Akt von Monteverdis Orfeo auch an die Grenze der Zerrüttung führen: die personale Einheit des Protagonisten bleibt gewahrt. Im Gegensatz zur Bewusstseinsspaltung Kassandras bei Lim. Während der Wahnsinn bei Shakespeare und Cervantes sich zur Maske einer zweiten Identität formt, zersplittert Kassandras Identität in multiple Facetten: «dismembered by her».

 

Bspl. 14: Lim, Oresteia [Tr. 3, 9´23´´–10´45´´] [1´22´´]

 

A      Ist der zivilisatorische Druck so angestiegen, ist das Leben so tödlich geworden?

B       Mit solchen tragischen Komponenten sollten wir vorsichtig sein. Ebenso gut könnte man sagen: während bei Lim der Wahnsinn Kassandras die Aura einer Entgrenzung des Subjekts annimmt, bedeutet die Zerrüttung des Orpheus bei Monteverdi primär eine Schmach. Zumindest vom Libretto her. Nämlich eine charakterschwache Abweichung vom Ideal der Sublimierung, das den körperlichen Verlust Eurydikes mit der Zähmung der Leidenschaft rechtfertigen wird.

A      Ewigkeit ist eben nur um den Preis des Triebverzichts zu haben.

B       So jedenfalls lautet das Gesetz des Gottes der Contenance, das Gesetz Apollons. Ein Gesetz der Mäßigung

A      und ein Gesetz des Vaters, durch das der Gott dem gedemütigten Orpheus, der dem Mythos nach Apollons Sohn ist, die nötige Rettung zubilligen kann. Selbstverständlich spielt hier das Tugend-Ideal der Platon- und Aristoteles-Renaissance eine Rolle.

B       Tugend verstanden als die goldene Mitte zwischen den Extremen

A      und als eine stoische Überwindung der Leidenschaften. Die apollinische Balance soll sicher über den Abgrund und durch die Hölle der Sinnlichkeit geleiten, von der im Schlusschor des Orfeo die Rede ist. Sicherheit im Dienst des paternalen,

B       des patriarchalen

A      Regelwerks der Zivilisation. So wird die Himmelfahrt des Orpheus zum feudalen Gnadenakt, ebenso göttlich wie fürstlich.

B       Und deshalb kann in Ponnelles Züricher Orfeo-Inszenierung Apoll auch in der Gestalt des Großherzogs von Mantua auftreten, um das aus seiner Bahn geschrittene, selbstherrliche Individuum wieder in die Ordnung des fürstlichen Staatswesens einzubinden. – Aber zurück zur Sublimierung. Was bedeutet es, dass Orfeos ängstlich-bange Frage nach einem Wiedersehen mit Eurydike von Apoll mit der ungemein verführerischen Wendung beantwortet wird:

A      «In der Sonne und in den Sternen wirst du ihre schöne Gestalt erkennen». «Nel sole e nelle stelle vagheggerai le sue sembianze belle».

 

Bspl. 15: Monteverdi, Orfeo [Harnoncourt: CD 2, Tr. 32, 2´57´´–3´27´´] [0´30´´]

 

B       Bedeutet Apolls schmeichelhafte Dolce-Wendung eine Verführung zum Verzicht?

A      Oder artikuliert sie den Schmerz des endgültigen Abschieds?

B       Oder beides?

A      Oder noch viel mehr?

B       Sicher ist nur, dass die Himmelfahrt des Orpheus zum Läuterungsunternehmen und Apoll zur Läuterungsinstanz wird.

A      Zu einer Instanz, die hinter ihrer antiken Maske das christliche Antlitz nur schwer verbergen kann. War doch das sonnenhafte Changieren von Christus und Apollon schon lange ein Topos der christlichen Kunst.

B       Und der geläuterte Orpheus als vernichteter und wieder auferstandener Heros selbst eine bekannte Christusparallele.

A      Ein Phönix, der zum Himmel aufsteigt.

 

Bspl. 16: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 21, 4´02´´–5´12´´] [1´10´´]

 

B       Fragt sich nur, was wir mit der Asche dieses Phönix machen. Mit der zu Asche geläuterten Sinnlichkeit. Oder mit dem Feuer der Leidenschaft, das brennt und verzehrt und erstickt werden muss. Erstickt, weil wieder einmal die alte Tragödie vom Widerstreit zwischen Geist und Natur aufgeführt wird, drapiert zum Triumph wahrer Ewigkeit über schale Vergänglichkeit.

A      Unbestritten ist das eine Dimension des Orfeo. Hindurchgegangen durch die Zerstörungsmacht von Lust und Schmerz bis hin fast zum Identitätsverlust, eröffnet sich für Orpheus der Aufstieg: «Saliam cantando al Cielo»: «Singend steigen wir zum Himmel empor».

 

Bspl. 17: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 21, 4´02´´–5´12´´] [1´10´´]

 

B       Orpheus, ein Auserwählter. Einer, an dem erst die Fallhöhe von Verblendung und Sturz und der dunkle Grund von Opfer und Tod das Göttliche zur Erscheinung bringt.

A      Blind vor Leidenschaft sein, um sehend zu werden, heißt die Devise. Eine frühe Form des Prinzips «Durch Nacht zum Licht». Denn erst in der Katastrophe schlägt die Nacht der Leidenschaft in den Tag des wahren, sinnlichkeitsentrückten Bewusstseins um.

B       All dies hat mit dem Glanz und dem Elend des frühen Subjekts in einer Welt zunehmender Autonomiegebote zu tun. Und mit den ersten Exilen von Einsamkeit – mögen auch Orpheus' Abstieg in die Unterwelt, sein Wiederaufstieg zur Erde, das Herabsteigen Apolls vom Himmel, endlich das gemeinsame Auffahren in die hohen Sphären die innere Landschaft des Menschen nahezu verlässlich durchqueren. Das heißt die Regionen von Körper, Geist und Seele, die sich in der Topographie von Unterwelt, Erde und Himmel spiegeln.

A      Die Aufklärung indes, mit der Apollon die Anmaßung ins rechte Maß zurückführt, ist dem Tag geschuldet: am Ende einer Fahrt in die Nacht der Sinne.

B       Dennoch ist Monteverdis Musik mehr als nur ein Manifest zur Läuterung der Passionen im Prozess der Selbsterkenntnis. Mit ihrer Irrfahrt durch den Sturm der Affekte formuliert sie zugleich das Drama von Liebe und Tod und das von der Desillusionierung der Träume. Und sie macht bewusst, was sich im Licht von Renaissance und Aufklärung allmählich alles zu verdunkeln begann, um in der taghellen Nachtblindheit der Moderne und im Funktionalismus des Lebens schließlich konturlos zu werden: vornehmlich die soziale Einbindung von Schmerz und Tod. Ohne Rituale und öffentliche Räume lassen Schmerz und Tod erst in ihrer Tabuisierung erkennen, was ein solches Tabu für das Leben bedeutet. Wenn dagegen im zweiten Akt von Monteverdis Orfeo der Tod jäh in die Lust der pastoralen Idylle einbricht, bleibt die Intensität des Ausdrucks dieselbe, nämlich eine des leidenschaftlichen Chiaroscuro – eben weil die Sphären nicht zerrissen sind.

 

Bspl. 18: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 1, Tr. 9, 0´00´´–Tr. 10, 0´38´´] [3´29´´]

 

B       Von hier aus ergeben sich grundlegende Korrespondenzen zu Lims Clair-obscur; zu ihren Mischungen von Hell und Dunkel und zu ihrer Musik eines Bündnisses von Tag und Nacht, von Leben und Tod, gegen deren ökonomieverrückte Spaltung. Wie Monteverdi formuliert ja auch Lim ein Stück Zivilisationskritik. Schon indem ihre Musik kein Stimmgeräusch als zu unrein ausschließt. Damit nimmt sie die Ausgrenzungsgewalt des Zivilisationsprozesses ein Stück weit zurück. Zu Gunsten des im Namen von spiritueller und technischer Reinheit Tabuisierten, des körperhaft Unreinen und geräuschhaft Unterirdischen.

A      Steht diese Rehabilitation des Verfemten nun aber nicht doch in einem unüberbrückbaren Kontrast zur Klarheit der verbalen wie der musikalischen Sprache bei Monteverdi? Seine Praxis hebt ja gerade auf den Vorrang des Worts ab, auf den Geist der Sprache. Das verständlich gesungene Wort – eine Offenbarung der Vernunft, selbst wenn das Wort im Feuer des Affekts auflodert. Übrigens zeigt sich diese Hochschätzung des Worts auch darin, dass das Orfeo-Libretto bei der Aufführung von 1607 an das Publikum verteilt wurde – zum Mitlesen. So reguliert in Monteverdis Orfeo ein apollinisches Prinzip selbst noch der Sprache den Affekt. Noch im Strudel der Verzweiflung hat Sprache die Affekte magnetisch zu binden. Und nur innerhalb dieser Ordnung des klaren Worts können sich Abweichungen ergeben.

B       Und doch wird auch Monteverdis Orfeo von einem unhörbaren, unterirdischen Lärm grundiert. Vor allem in der Stille und Einsamkeit des fünften Akts.

A      Und was sollte das für ein Lärm sein?

B       Wahrscheinlich ist es der Lärm vom erstickten Aufruhr der Leidenschaft.

A      Trotzdem. Selbst wenn sich die Naht zwischen Ich und Welt aufzulösen beginnt: Monteverdis Orpheus muss nicht röcheln, nicht stöhnen, nicht schreien.

B       Muss er nicht oder darf er nicht? Auf alle Fälle umkreist Monteverdis Geometrie der Passionen ein Areal der Wunden. Trotz, ja gerade wegen ihrer Souveränitätsmuster ist Monteverdis Orfeo eine Fahrt über den Styx des Bewusstseins.

A      Und doch endet der Orfeo nicht dionysisch-anarchisch, nicht tragisch.

B       Zumindest nicht vordergründig. Gleichwohl erfolgt das Erscheinen Apollons entgegen jeder Subjektpotenz von außen her, nach dem Deus-ex-machina-Prinzip. Und endet der Orfeo nicht mit der berühmten «Moresca», jenem seinem Ursprung nach zutiefst heidnischen Tanz? Mit einer hochgradigen Verstörung des Läuterungskonzepts also?

 

Bspl. 19: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr.23 (ganz)] [1´00´´]

 

B       Erinnern wir uns:

A      «Es ist kein Zeichen von einem großen Herzen, der Leidenschaft zu dienen».

B       So die Botschaft Apollons an den verzweifelten Orpheus, die «Freuden der Ewigkeit» gegen die Flüchtigkeit des sinnlichen Augenblicks zu setzen. Und flüchtig wie ein sinnlicher Augenblick lässt auch noch der schmerzhaft kurze Zauber der «Moresca» das Leben als Schaum erscheinen. Weit mehr aber irritiert dieser Tanz das Ziel der Läuterung.

A      Die Himmelfahrt des Orpheus bleibt also geerdet?

B       Sie bleibt geerdet, weil das Oben an das Unten gebunden bleibt. Mag die «Moresca» auch das Gebot der Läuterung wie mit einem letzten sinnlichen Trost versüßen: ihrem tänzerisch bacchantischen Sog, ihrer Körperlichkeit kann die Idee der Sublimierung nur schwer standhalten. Es ist, als würden die apollinischen Attribute von Leier und Bogen zerschlagen, deren straff gespannte Saiten und Sehnen selbst etwas Strangulierendes an sich haben.

 

Bspl. 20: Monteverdi, Orfeo [Harnoncourt: CD 2, Tr. 34 (ganz)] [0´46´´]

 

A      Das Unternehmen Zivilisation: von Monteverdi wird es in Richtung einer Naturgeschichte des Geistes reflektiert. Und von Lim?

B       Ihre Oresteia kann nicht davon absehen, dass dem abendländischen Rationalisierungsprozess seine Natursedimente über weite Strecken lediglich nach dem Zwangsmuster von Bedrohung und Unterwerfung in den Blick kamen.

A      Mit diesem Memento wird Musik bei Lim wie bei Monteverdi zu einer Arche des Bewusstseins. Zumal sich auch noch einer der Gründe für die Gewalt- und Zerstörungseruptionen in Mythos und Geschichte aus dem Vergessen herleitet. Aus dem Vergessen als dem Gegensatz zu Mnemosyne und Eros, den Kräften von Eingedenken und Wiedererkennen.

B       Kräfte, auf denen Lims Konzept eines «memory theatre» basiert. Nicht umsonst ist «Mnemosyne» im Mythos die Mutter der Musen und der Künste. Die Mutter von Poesie und Musik, die nicht vergessen können.

A      Mnemosyne, Eingedenken aber auch verstanden als jener Prozess der Bewusstwerdung, den Lims Musik mit einem Höchstmaß an Tiefenschärfe in Szene setzt, bis die Arbeit am Mythos den Text der Zivilisation auf neue Lesarten hin öffnet.

B       Und indem Lim mit avanciertesten Mitteln den verwischten, vernarbten, zum Teil unkenntlich gewordenen Spuren des archaischen Erbes im Zivilisationsterrain nachspürt, bricht sich dieses Erbe im Erfahrungsraum moderner Angst- und Katastrophenerfahrungen. Geschichte offenbart sich als Mythos mit anderen Mitteln.

A      Lims Oresteia zeigt, dass es im Mythos der Orestie um brisante Urszenen der Menschheit geht. In der Geschichte vom Krieg um Troja also, von der Ermordung des siegreich aus Troja heimkehrenden Königs Agamemnon durch seine Gemahlin Klytaimnestra oder in der Geschichte von der Tötung der Seherin Kassandra, die Agamemnon als Kriegsbeute und sexuelles Freigut zufiel. Schließlich in der Geschichte von der Blutrache des Orest an seiner Mutter Klytaimnestra und der Entsühnung des Mörders. Von diesem Material her arbeitet Lims «memory theatre» an einer Karte des kollektiven Gedächtnisses – gegen dessen hohe Enteignungsgeschwindigkeit.

B       Lim geht es um das unerledigte Erbe aus dem «Schlachthaus» des Mythos, wie das schon bei Aischylos heißt. Um seine aktuelle Hypothek in den zwischen Geburt und Tod verspannten Geschlechter- und Generationskonflikten und den Szenarien von Macht und Krieg. Deshalb seziert Lim das Gefüge des Mythos: seine Vergeltungssymmetrien und -serien aus Gier und Mord, Verrat und Gegenverrat.

A      Und sie weitet diese Symmetrien über Aischylos hinaus aus, indem sie frühere Stränge des Mythos einbezieht. So in der Bankett-Szene das Motiv der Schlachtung und Einverleibung von Blutsverwandten, oft der eigenen Kinder, aus Gründen des Götterfrevels, der Vertuschung oder der Rache. Damit werden Mahl und Gelage in Lims Oresteia zu Schlüsselsequenzen für die verschlingende Zeit des Mythos, einer vom Fressen und Gefressenwerden. Komponiert wird dies alles in einer musikalischen Sprache, die an ihren Tönen und Worten wie an Innereien und Eingeweiden zu ersticken droht. Und noch etwas: Lim komponiert hier eine Kassandra, deren Ekstase Zeit entsiegelt: in den Zeitstaus, Zeitrissen und Zeitkorridoren wird die Prophetie des Grauens auf Gegenwart hin durchlässig, werden Vergangenheit und Gegenwart verwechselbar.

 

Bspl. 21: Lim, Oresteia [Tr. 3, 0´00´´–2´50´´(ab 2´47´´ausbl.)] [2´47´´]

 

B       «It stinks like an abattoir drain» – «Es stinkt wie der Abzugsgraben eines Schlachthauses»: Kassandras Diagnose der Gräuel des Atridenhauses gibt die Richtung für die Spurensuche in der Krypta des Bewusstseins vor, hellhörig für die Träume und Wünsche des Unbewussten und seine Schubkräfte von Lust und Zerstörung.

A      Es leuchtet ein, dass sich eine solche Lesart von Zeit und Geschichte nicht an den Einbahnstraßen von Sinn und Moral orientieren kann. Lim vertont die Orestie nicht in Form einer dramatisierten Nacherzählung. Für sie wird der Mythos zu einem Kraft- und Resonanzfeld der Zeichen und Aktionen im Spiegel des Heute

B       und zu einem Tableau der Wechselwirkungen von Schuld und Gewalt, die sich immer wieder zu dem aufschaukeln, was die Physik eine Resonanzkatastrophe nennt: zu einem Schwingungsgleichklang der Gewalt mit katastrophischen Folgen.

A      Zurück zu Monteverdi. Bei ihm hängt die syntaktische Konsistenz der musikalischen und verbalen Sprache eng mit dem Repräsentationscharakter der Musik zusammen. Das heißt mit dem Charakter des Festlichen, des Erzählens und der Erbauung, wie ihn kürzelhaft schon die Eröffnungsfanfare des Orfeo verdichtet. Eine fünfstimmige Trompeten-Toccata, feierlich-zeremoniell, eine Reverenz zugleich an den Großherzog von Mantua, mit feudal-kriegerischem Herrschaftskolorit und einer Signalwirkung, die auf das kommende Spektakel hinlenken soll.

 

Bspl. 22: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 1, Tr. 1, 0´05´´–1´37´´] [1´32´´]

 

B       Fanfaren, oder was davon übrig geblieben ist, können allerdings auch anders klingen, zumal am Ende eines Stücks. Etwa so:

 

Bspl. 23: Lim, Oresteia [Tr. 7 (ganz)] [1´58´´]

 

B       «Athena's trumpet», «Athenas Trompete» überschreibt Lim das Ende ihrer Oresteia-Komposition. Es ist ein Ende, das mit den hohen und hellen Valeurs von Sopran und Piccolotrompete wie aus weiter Ferne vom barocken Glanz zehrt. Einem Glanz, auf den auch die Vortragsanweisung anspielt: «With an unearthly brilliance», «mit überirdischer Brillanz». Gleichzeitig verweist diese Hoheitssymbolik auf den Schluss der Orestie des Aischylos, wenn der von den Furien gehetzte Muttermörder Orest auf den Rat Apollons hin nach Athen flüchtet, um dort von seiner Blutschuld entsühnt zu werden: durch die Rechtsinstitution des Areopags; jenem von der Göttin Athene aus freien Bürgern versammelten Gerichtshof, der den Mythos der Blutrache aufhebt.

A      Auch hier interessiert Lim wieder ein Tableau, das den blutigen Grund des Rechts nicht außer Acht lässt. Deshalb vor allem verläuft dieses Finale von der Höhe des ‹Überirdischen› in abgründige Tiefe. Ablesbar an den instrumentalen und vokalen Fallkurven. So sinkt etwa die Trompete, nun als «rau» und «roh» charakterisiert, mit «halbem Ventil» in die Zone der Pedaltöne unterhalb des Grundtons des Instruments ab. Kurz zuvor hatte bereits die Singstimme ihre lange Abwärtsbewegung auf der ersten Silbe von «FURY» begonnen. «Fury», das furienhafte Leitmotiv der Raserei in Lims Oresteia, nunmehr auch das letzte Wort der Komposition. Endlich dann, nach einem heftigen, gewaltsamen Ausatmen, ein Abdriften der Stimme ins pure Atemgeräusch und «al niente» ins Nichts. Damit schließt sich Lims Oresteia über den gemeinsamen Atemgrund von Anfang und Ende zum Kreis, der Grundfigur des Mythos.

B       Mit dem Unterschied freilich, dass bei Lim der komponierte Prozess der Bewusstwerdung die mythische Kreisform aufbricht und Musik zur Zäsur wird. Am deutlichsten wohl, wenn der Sopran in «Athena's trumpet» die Leitmotive von «memory», «dream» und «FURY», von «Eingedenken, Traum und Raserei», signalhaft präsentiert und zugleich silbisch demontiert: als Postulat, als Memento und als Menetekel.

 

Bspl. 24: Lim, Oresteia [Tr. 7 (ganz)] [1´58´´]

 

A      Als ginge es um den «Hauch» der Zivilisation, von dem Hegel spricht: nicht anders wirkt das Atemgeräusch am Ende von Lims Oresteia – ein hintergründiger Kommentar zum Projekt Menschheitsgeschichte auf der Bühne eines «Theaters der Grausamkeit»; ohne Verklärung und ohne Fatalismus.

B       Zumal im Motiv des Atmens kommt diese Hintergründigkeit zum Tragen. Im Atemgeräusch, das Lim der menschlichen Gattung wie zur Erinnerung an den eigenen Naturgrund einzuschreiben scheint und das doch zugleich in die individuelle Existenz hineinreicht wie keine Sprache sonst. Atmen als Einspruch von Leben.

A      Atmen aber auch als das Pendant von Ersticken und Tod. In diesem Spannungsfeld wird bei Lim der Sprachschatten des Atmens zu einer mächtigen Schattensprache, die in den archaischen Unterbau der Moderne hinabreicht.

B       Es wäre unsinnig, Monteverdis Orfeo und Lims Oresteia nach Maßgabe eines Fortschritts der Kunst gegeneinander auszuspielen. Wesentlicher ist die Korrespondenz beider Werke über die Zeit hinweg. Offenbart Monteverdis Musik die Gestehungskosten der Sublimierung – darin ein Gedächtnistheater eigener Art –, wird Lims Musik zum «memory theatre», weil sie unter dem Sujet der Gewalt nicht zerbricht. Sie gibt dem Triebpotenzial der Zivilisation eine körperhafte Sprache und damit mehr als einen bloßen Reflexionstribut.

         Und, wie gesagt, es sind gerade Lims Verschiebungen an den Grenzen der Sprache, die die Musik zu einer Archäologie des Verschütteten schärfen. Zu einer Archäologie, die die Oberfläche der Welt aufraut, bis sie rissig wird und einen Blick auf das freigibt, was Goethe die «unterirdischen Gänge, Keller und Kloaken» genannt hatte. Sicher: es sind schärfere Schnitte als bei Monteverdi, die Lims kompositorisches Skalpell durch den Körper des Mythos zieht. Schnitte, die den Muskel- und Sehnenapparat seines Aktionsradius sichtbar machen und seine Wundherde und Schmerzzentren wie in einer Operation am offenen Herzen der Zivilisation freilegen. Und doch – mögen die Schnitte bei Lim auch schärfer geworden sein: mit gleicher Schärfe ist zu sehen, wie bei Monteverdi der Affekt die Ordnung des Logos aus dem Gleichgewicht zu bringen droht.

A      Außerdem, selbst wenn im Hintergrund von Monteverdis Orfeo ausgefeilte Symmetrien Regie führen: vom barocken Zentralaffekt und von der tonalen Funktionsharmonik her wirkt die Musik des Orfeo geradezu exotisch. Statt einer hierarchischen Organisation ein eher rhapsodischer Diskurs mit knappen akkordischen Zielgefällen.

B       Eben dieses reihende Modell aber wirkt wie ein Modell der Konstellation. Wie der Kontrapunkt einer stellaren Streuung der Struktur in ihrer Spannung zur apollinischen Idee des Orfeo: zur Idee von Läuterung und Charakterstärke also, orientiert am Zentralismus von Sonne und Tag. Bis in Orfeos Nacht und Verzweiflung nach dem Tod Eurydikes die stellare Struktur schließlich selbst zum Wort drängt und das Funkeln der Sterne beschwört, das den Glanz und die Sonne Apolls überstrahlt und für Augenblicke versinken lässt.

 

Bspl. 25: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 1, Tr. 10, 7´07´´–9´28´´(rasch ausbl.)] [2´21´´]

 

B       Auch bei Lim tritt Kassandra in die Stern- und Mondsphäre ein. Hier nun allerdings mit demonstrativer Bühnenpräsenz, am Schluss der Gastmahl-Szene. Und nachdem sie wie in Rage den apollinischen Bann gesprengt und mit den «trappings of prophetess» den Ornat des Sehertums zerrissen hatte. Und nur hier, hier im matriarchalen Mond-Bereich von Sapphos Nachtgedicht, wirkt Kassandra zum ersten und einzigen Mal wie zur Besinnung und Ruhe gekommen.

         «Zwar die Sterne bergen ihr lichtumstrahltes Antlitz,

          Um den herrlichen Mond versammelt,

          Wenn er, voll geworden, am hellsten funkelt über die Erde.»

 

Bspl. 26: Lim, Oresteia [Tr. 3, 10´14´´–12´34´´(=Ende] [2´20´´]

 

B       Monteverdis «Favola in musica», Lims «Gedächtnistheater» – sie machen vor allem eines klar: dass das Gedächtnis der Zivilisation vorrangig eines des Schmerzes ist. Eines Schmerzes, den noch bis in den Bereich des Individuellen hinein eine jede Geschichte des Ichs kennt, sobald die Wünsche und Sehnsüchte im Kältestrom der Gesellschaft untergehen.

A      Die Spannung zwischen dem Ideal des Kultur-Über-Ichs und dem «Leitfaden des Leibes» bestimmt auch die beiden Fassungen des Orfeo und damit das Problem, wie denn der tragisch-bacchantische Schluss des Textbuchs von 1607 und der der Apotheose des Orpheus in der Partitur von 1609 zueinander stehen. Eine eindeutige philologische Klärung ist unmöglich. Vielleicht, weil das Problem alles andere als nur philologisch ist. Mag deshalb die folgende Einspielung Gabriel Garridos auch fragwürdig sein: indem sie den Schlusschor und die «Moresca», die christlich gefärbte Sublimierungsidee und die bacchantische Lebenslust ineinandertreibt und miteinander verzahnt, bringt sie die Spannung zwischen Wunsch und Gesetz vermutlich nachhaltiger zum Ausdruck als die interpretatorisch gängige Reihung von Chor und Tanz.

B       Und wenn der Chor der Hirten am Ende den «glücklichen» Orpheus preist, entrückt in den Himmel, «wo es kein Leiden gibt»; wenn sich dann auch noch die Sublimierungsleistung mit biblischem Pathos feiert –

A      «Und wer unter Schmerzen säet,

         Erntet die Frucht der vollen Gnade /

         E chi semina fra doglie,

         D'ogni grazia il frutto coglie» –

B       dann, ja dann holt die tänzerische Verve in Monteverdis Orfeo den verklärt entsinnlichten Körper wieder zurück auf die Erde.

A      Und wie Liza Lims Oresteia so stellt auch der Orfeo des Claudio Monteverdi die provokante Frage, ob sich womöglich das Ideal der Askese immer raffinierter und lautloser als Leben drapiere.

B       Und wie die Oresteia spricht auch der Orfeo vom Wunsch und von der Hoffnung, der Zauber der Nacht und der Leidenschaft möge sich nicht vollends in der Geschäftigkeit des Tags und seinem mächtigen Regime verlieren: damit Orpheus die Stimme bleibt, die «singt und nicht befiehlt».

 

Bspl. 27: Monteverdi, Orfeo [Garrido: CD 2, Tr. 16 (ganz)] [2´48´´]

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Interpretationen

 

Monteverdi, Orfeo:  Gardiner (ARCHIV PRODUKTION 419 250-2)

         Garrido (K617 066)

         Harnoncourt (TELDEC 2292-42494-2)

         Rogers/Medlam (EMI 7 64947 2)

Lim, Oresteia:  Elision Ensemble, Sandro Gorli (Dischi Ricordi CRMCD 1030)

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