Und Troja brennt noch immer
Arbeit am Mythos in Liza Lims Oresteia
Von Johannes Bauer
Der Schmerz soll uns an uns erinnern. An ihm werden wir uns später,
wenn wir uns wiedertreffen, falls es ein Später gibt, erkennen.
Christa Wolf, Kassandra
Die Orestie des Aischylos. Ein Stoff aus dem alten Griechenland von vorrangig akademischem Interesse? Dass das Drama vom Krieg um Troja, von der Ermordung des Königs Agamemnon, von Orest, dem Muttermörder, und der Seherin Kassandra brisante Urszenen der Menschheitsgeschichte verhandelt, steht für die australische Komponistin Liza Lim außer Zweifel. Gegen die hohe Enteignungsgeschwindigkeit von Erinnerung und Erfahrung erkundet Lims Oresteia von 1993 den Mythos als Abstieg in die Katakomben der Zivilisation.(1)
Wie aber gelangt Musik auf den Grund der Kultur? Und was heißt überhaupt Kultur? Was Grund? Dazu Goethe 1781 in einem Brief an Lavater: «Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.»(2) Dem Blick in die «seltsamen Irrgänge», «mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist», wird eine wundersame Klarsicht zuteil: «Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche».(3) Darunter als «Grund» schiere Konfusion, so, als wären «nirgends (...) Ordnung und Form das Ursprüngliche», sondern als wäre ein «anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden».(4) Sicher ist nur, um auf den Grund zu kommen, müssen die Decksteine des ‹moralisch-politischen› Überbaus angehoben werden.
Wie sich dieses Anheben in Lims Oresteia anhört, demonstriert bereits ihr Beginn: ein zwischen dreifachem Piano und Mezzopiano gedämpfter Grund aus Stöhnen und Schreien. Ein musikalischer Katafalk von «mysteriösem Timbre», sofern sich dem Verlangen nach Berechenbarkeit und Eindeutigkeit die polymorphen Lautvariationen des Atmens, nach Lust oder Qual nicht zu scheiden, ins Unheimliche verlieren: «gasping cries of pleasure/pain – indecipherable sobbing/laughter». Aus dieser Substruktion lösen sich erste Artikulationssplitter, silbische Pulverisierungen in der Dämmerungszone zwischen Laut und Wort: jenes «otototoi popoi da», mit dem Kassandra in die helle Nacht prophetischer Ekstase gleitet. Dass die Komponistin dieses Stammeln aus der Orestie des Aischylos übernehmen kann, verbündet neue Musik und antikes Schauspiel im Gespür für das somatische Fluidum der Sprache. War doch der griechischen Tragödie über die Rituale des Totenkults ein breites Repertoire an Verzweiflungsgesten geläufig. Vom Zerreißen der Kleider über das Zerkratzen des Gesichts und das Ausraufen der Haare bis hin zu Faustschlägen auf Brust und Erde, begleitet von Ausbrüchen und Interjektionen des Entsetzens, des Ekels, des Jammers.
Die Ausdrucksvielfalt des Atmens plädiert für die Physis, die erdet, was die Idee der Sprache an stofflichen Stimm- und Schriftschlacken allzu schnell zur Reinheit des Begriffs destilliert. «Croaking, choking, sputtering, stuttering, squeezed nasal sounds»: die Atemgeräusche, die Lims Oresteia wie eine Naturmetapher der menschlichen Gattung kontrapunktieren und im Puls von Ein- und Ausatmen in das je einzelne Dasein als Lebens- und Todeschiffre hineinreichen, werden als Sprachschatten zu einer mächtigen Schattensprache, die mit den Erzählungen um die Belagerung Trojas zugleich die Bastion des okzidentalen Rationalismus einkreist. Gegen dessen Mentalreservate macht Lim die Gestehungskosten der Sublimierung hörbar: Sprache wird auf den Körper hin dekomponiert, um mit der Sprache des Körpers den Körper der Sprache zum Sprechen zu bringen.
Tagesrest Kultur
Lim setzt auf ein «Theater der Grausamkeit», das die Worte taumeln lässt und Satz und Urteil im verbalen Niemandsland zwischen Schrei und Schweigen zerreibt. Oft treibt der pneumatische Fundus – Hauchen, Wimmern, Röcheln, Stöhnen – irritierende Entgrenzungen aus dem Innern der Sprache hervor, nach Luft ringend, stimmlos, gepresst. «Briser le langage pour toucher la vie»(5): Artauds Appell der Überschreitung liefert die Devise auch für das Oresteia-Projekt. Zermürbt es doch die Abstraktionen und Projektionen eines Erkenntnissensoriums, das syntaxgestützt und wie unter Zwang unentwegt dem Instrumentarium der Kausalität und dem Satz vom Grund zuarbeitet. Formt Sinn sich über die Statuten der Grammatik, dann weitet – der auf Widerspruchsfreiheit konditionierte Verstand würde sagen: dann verdunkelt sich die Bedeutung, sobald das logische Gitter des Begriffs bricht. «Stuttering, disintegration of sentence»: Sprache muss von ihrer Sinntaufe erlöst werden, um wieder sprechen zu können. Sie muss, dionysisch gedacht, in ihren Konventionen sterben, um neu geboren die Besatzungspräsenz von Regelsätzen zu unterlaufen. Vorbei der Triumph einer vernunftgeleiteten Contenance, die den Schrei des Leidens und der Leidenschaft lange genug in der Klarheit und Makellosigkeit von Wort und Ton beruhigen konnte. Basieren syntaktische Ausgewogenheit und Konsistenz der musikalischen und verbalen Sprache selbst noch im Lodern der Affekte auf dem Repräsentationscharakter abendländischer Kunst, zerfließt mit dessen Niedergang die epische Ordnung aus Erzählung und Entwicklung ähnlich der Parataxe der Oresteia in eine Konstellation von Momenten ohne Rang- und Zeitfolge: «Cassandra's Dream Song / Memory spills from the split skulls of Clytemnestra and Agamemnon / Cassandra – The banquet / The furies. The (funeral) procession / Clytemnestra's ghost / Apollo's masque / Athena's trumpet».
Es scheint, als wollte Lim zum Schmelzen bringen, was die Funktionalitätsdoktrin der Neuzeit an ästhetischer und kognitiver Sensibilität vereist hat. Dass die normative Logik und die seelenkundliche Rückführung des Unbekannten auf Bekanntes eine Allianz zur Festschreibung des Realitätsprinzips unterhalten, zur Bindung der Abweichung an das Erklär- und Beweisbare, provozierte Kafkas Satz «Zum letztenmal Psychologie!».(6) Ein Regulativ mit Parallelen bei Marinetti, Artaud, Cage oder Heidegger, dem die Psychoanalyse als Abweg des «vorstellenden Denkens», seiner Sicherungs- und Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit galt. Wie freilich die Fusion von Sinn und Norm – eine Fusion des Willens zur Wahrheit mit dem Willen zur Macht – durch Detonationen der Semantik außer Fassung gerät, zeigt die zweite Episode der Oresteia. Sie besinnt sich auf Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert wurde, um der Flotte der Achäer das Auslaufen nach Troja zu ermöglichen. Wird das Entsetzliche zunächst noch mit militärischem Zweckkalkül ratifiziert – «the war-effort wants it, the war-effort gets it» –, erhitzt sich die Parole wenig später zur Hysterie einer Propaganda, deren Wortturbulenzen wie von der Furie des Kriegs aufgeputscht wirken. Kurz danach, als ein Herold das verbrannte Troja heraufbeschwört, läuft die Sentenz vom «empire gone putrid» irre stotternd aus der Bahn. Als wäre schon der Versuch, sich der Ruinen von Trojas «dahingefaultem Reich» in Aussagesätzen zu entsinnen, ein Einverständnis mit dem Horror.
Zivilisation reflektiert sich im Mythos als zerstörerisch, weil, modern gesprochen, ihre Schrecken der Lethargie der Erfahrung und der Amnesie des Bewusstseins verfallen. Deshalb setzt Lims «memory theatre» auf die Kraft der Mnemosyne: als Mutter der Musen und der Künste auch die von Poesie und Musik, die nicht vergessen können. Mnemosyne, memoria, memory tragen die Arche und mit ihr das Archiv eines Gedenkens, das den Weltlauf nach vorn erinnert, vor allem in Kassandras divinatorischer Gabe, der Antike und Gegenwart über die Wucherungen des Ungeheuren und Monströsen verwechselbar werden. Hat Troja jemals zu brennen aufgehört? Auch durch die Oresteia weist jene Hoheits- und Blutfarbe des Purpurs den Weg, die Klytaimnestra im Agamemnon des Aischylos mit Macht und Untergang besetzt und Lim in den «Carpet»-Sequenzen zu einem Epizentrum des Grauens staut: grundiert vom Pochen und Klopfen der Rototoms, als wäre die Bühne zum Sarkophag geworden, mit den Akteuren als lebendig Begrabenen, die gegen die Wände ihres Kerkers schlagen. Im Bann der tödlichen Spirale aus Gewalt und Gegengewalt versiegelt sich das Labyrinth der Oresteia mit der Frage, ob das Ereignis Homo sapiens womöglich nichts weiter sei als ein vom animalischen Triebreservoir her sich speisender Maelstrom mehr oder weniger dicht aufeinanderfolgender Gräuel; ein nach Nietzscheanischer Lesart düsterer Alptraum mit dem Tagesrest Kultur.
Vergeltungssymmetrien
Lim begreift den Mythos nicht als Monolith, sondern als Mosaik, gebrochen durch Geschichte: eine Sicht, die die Exzesse der Spezies Mensch ernstnimmt. Zivilisation wird zum Ausnahmezustand, zur anthropologischen Bürde ständiger Überforderungen und Selbstüberforderungen. Weil die Katastrophen des 20. Jahrhunderts trotz oder gerade wegen ihrer technokratischen Dämonie mit den Erinnyen der Vorzeit in Wechselrede stehen, ist der griechischen Stimme Gewicht beizumessen. Sie wiegt umso schwerer, je mehr der elektronische Reproduktions- und Simulationszauber mit dem Entzug von Natur auch den von Welt zu erzeugen droht – bis hinein in das Abstraktwerden des Sozialen, dem Extrem zur hellenischen Polis.
Unbekümmert um die Entzauberung des Mythos bekräftigt Lim dessen Aktualität: in den Tableaus der Generations- und Geschlechterspannungen, den Kriegsszenarien, den Strategien der Justiz. Gewiss, der Blutsverband und Mordverbund zwischen Agamemnon, lphigenie, Klytaimnestra und Orest wären nach heutigem Rechtsverständnis nicht justitiabel: zu sehr entzieht sich das Verhängnis aus Hybris, Ate und Dike, jenen nur unzureichend mit Frevel, Verblendung und Sühne übersetzten Konstanten der attischen Tragödie. Und doch ist diese Ferne zu vernachlässigen, sofern der Konflikt zwischen alten und neuen Göttern, zwischen Gesetz und Wunsch, Sitte und Verstoß, Hemmung und Enthemmung die Stadien von Mythos und Geschichte unter eine gemeinsame Kontinuität zwingt. Hatte nicht schon die Orestie des Aischylos Kritik an der Monokratie des Perikles geübt, schädlich für den Einzelnen wie für das Ganze?
Lim passiert die Schächte und Höhlungen des Bewusstseins nicht, um sich am Feuer der Leidenschaft zu wärmen, das verzehrt und schließlich gelöscht werden muss, weil wieder einmal das Drama vom Widerstreit zwischen Geist und Natur aufgeführt wird. Ihre Oresteia ist kein Läuterungsunternehmen als Vollzug ethischer Autonomie. Erst dadurch aber gewinnt die Komposition eine von christlicher Moral freie Nähe zur Antike: als rituelles Theater in einer entritualisierten Öffentlichkeit. Die Passionen zu sublimieren, ohne ihren Aufruhr ein für allemal unterdrücken zu können, beschreibt die Not aller Souveränitätsmuster. Gilt in Monteverdis Orfeo das Gesetz Apollons als eines der Mäßigung, das den Wirbel der Emotionen eindämmen soll – mit dem Ertrag der Tugend als einer Mitte zwischen den Extremen des «troppo gioisti» und «troppo piangi»; gilt außerdem, dass sich an den Höhen- und Tiefenkoordinaten der Stufung von Körper, Geist und Seele samt ihren topographischen Referenzen von Unterwelt, Erde und Himmel der Aufstieg in die Regionen stoischer Abgeklärtheit ablesen lässt, dann ist Lims Konzeption keine, die die Fahrt ihrer Helden durch die Wirrnis der Sinnlichkeit kartographiert, um in den Phasen von Verblendung, Sturz und Selbsterkenntnis das Göttliche zur Erscheinung zu bringen. Nicht mehr der auf sein spirituelles Soll hin gespannte Körper, sondern der in seinem Naturgrund gespiegelte Geist knüpft in der Oresteia als Klage und Schrei, als Stöhnen und Stammeln die Klangfäden einer Textur, deren Tönungen immer wieder wie von Tierlauten inspiriert wirken.
Gleichwohl verweigert sich Lims Oresteia, die in einigen Nuancen dem No-Theater Japans ähnelt, dem Habitus einer expressionistisch gestikulierenden Musik. Sie widersteht einer Subjektmagie, deren theologische Genese und Geltung samt ihrer monotheistisch gefärbten Herrschaftsattitüde seit Nietzsche, Weber und Heidegger transparent wurden. Ebensowenig inszeniert Lim wie manche klassizistischen Verklärungen des Altertums das Glasperlenspiel einer heiteren Affäre zwischen Mythos und Historie. Bereits die Signal- und Fanfarenrudimente der Oresteia bezeugen eine Liturgie aus Gewalt und Verstrickung. Müsste man die Grundfarben der Komposition benennen, es wären die von rot, schwarz und grau, die von Blut, Tod und Asche. Lim geht es um die Hypothek des archaischen Erbes, um seine Vergeltungssymmetrien aus Verrat, Schuld und Mord, die Aischylos zum Pendant der Leichenpaare Agamemnon/Kassandra, Klytaimnestra/Aigisthos verdichtet. Mit der Kunde aus dem «Menschenschlachthaus»(7) der Atriden vertiefen sich die barbarischen Züge in der Physiognomie des Genus humanum, zumal Lim den Furor der Orestie durch matriarchale, mykenische und homerische Sagenstränge potenziert. So in der Bankett-Szene den Strang der Schlachtung und Einverleibung von Verwandten, gar der eigenen Kinder, aus Motiven der Rache, der Vertuschung von Verbrechen oder des Götterfrevels. Dadurch werden Mahl und Gelage zu Schlüsselereignissen für die Zeit des Mythos, einer vom Fressen und Gefressenwerden. Solche Emanationen des kannibalischen Kronos dem Cogito cartesianischer Prägung anzumessen, seiner Ethik und Psychologie, wäre Verharmlosung und Entstellung.
«It stinks like an abattoir drain»: Lim komponiert die Arena der Gewalt, als würde Musik an ihren Tönen und Worten wie an Innereien und Eingeweiden ersticken. Da Lim zudem die Entsühnung des Muttermörders Orest ausspart und mit ihr die beschützende Rolle Apollons, wird der Gott zum schonungslosen «destroyer». Folgt nicht das Schicksal Kassandras, die Zukunft zu schauen, ohne Gehör und Glauben zu finden, aus der Strafe Apollons an seiner Priesterin, die sich dem Begehren des Gottes entzogen hatte? Und wird sie nicht, die schönste der Töchter des Priamos, nach der Einnahme Trojas von Aias im Athena-Tempel vergewaltigt, um zuletzt dem Griechen Agamemnon als Kriegsbeute und sexuelles Freigut zuzufallen? Ein Parcours der Vernichtung, dessen maskuline Schleif- und Schändungsspuren Lims Kassandra einzig im Mond- und Sternenbezirk von Sapphos Nachtgedicht Ruhe finden lassen – nach dem Zerreißen der apollinischen «trappings of prophetess»: «Die Sterne rings um den herrlichen Mond verbergen wieder ihre strahlende Gestalt, wenn er in seiner Fülle am hellsten über die Erde glänzt».(8)
Nacht und Nächtliches
Denken wir nochmals an Orpheus im fünften Akt von Monteverdis gleichnamiger Favola in musica, an seine Verzweiflung, die zerrüttet, ohne die personale Einheit des Helden aufzulösen; denken wir an Shakespeares Lear, an Cervantes’ Don Quichotte und ihre Verrücktheit als Maske einer zweiten Identität: solche Konsistenzgarantien lassen die Erschütterung ahnen, von der eine Kassandra des 20. Jahrhunderts zu multipler Zersplitterung getrieben wird – «dismembered by her». Verfehlt wäre es allerdings, an «Cassandra's Dream Song», einer Komprimierung der Oresteia als Stück im Stück, nur das Unbehagen in einer strangulierenden Kultur zu vernehmen: das «stahlharte Gehäuse» einer weltimmanent geschlossenen Ökonomie aus dem Geist christlicher Askese.(9) Überschreitet Lims Kassandra nicht gerade in ihrer Nähe zum Wahnsinn neuzeitlicher Prägung dessen vernunftcodierte und damit psychiatrisierte Ausgrenzung? Paralyse wird zur Lyse, in der sich der Part der Entrückten – «hieratic, shamanistic» – Lautpraktiken des Schamanismus im Gewand zeitgenössischer Dekompositionsverfahren angleicht und zu einer Sprache befreit, die sich selbst spricht, indem sie die Kluft zwischen Wort und Gegenstand aufhebt. Dem Zwielicht, in dem die von der Ideensonne westlicher Rationalität geworfenen Schatten abblenden, was nicht in den Netzwerken von Logik und Konstruktion aufgeht, antworten Lims Hell-Dunkel-Mischungen mit einer Musik des Bündnisses von Tag und Nacht, von Leben und Tod wider deren ökonomieverrückte Spaltung. Und es ist dieses Clair-obscur, das die «Clairvoyance» Kassandras zu einer Epiphanie des Offenen steigert.
Lim durchquert den Archipel der Mnemonik, seine «memory locations», mit einer Psychonautik, deren Kurs sich an den Wendekreisen von Erinnern und Vergessen orientiert und der Untiefen von Traum und Wahnsinn gewärtig bleibt. Zwar bezieht sich Lim auf Archetypen des Prophetischen und Numinosen, der Mutter- und Vaterimago oder der Geschlechterdifferenz, zumal in ihren Brechungen durch Rituale des kollektiven Gedächtnisses wie Geburts-, Hochzeits-, Begräbnis- oder Opferzeremonien. Indem sie jedoch diese Typologie durch zirkulierende Embleme des Mythos – Netz, Beil, Feuer, Bad, Bett, Sarg – verflüssigt, eröffnet sich ein Feld der Umformungen bis hinein in die Faktur der «stuttering transformation». Dennoch setzt eine solche Organisation des Oresteia-Stoffs auf keinen Zeichensturm, sondern darauf, dass der Text einer frühen Psychomachie, zum «Gedächtnistheater» fokussiert und mit sich selbst ins Gespräch gebracht, die Diagnostik gegenwärtiger condition humaine verfeinert. Ähnlich bündig stimmt sich Lims «great variety of nuance in vocal expression» auf idiomatisch verwandte Tonfälle ab, die ungeachtet ihrer Häufigkeit in der Variations- und Assonanzbreite des Komponierten jede leitmotivische Tendenz verlieren.
Je lautloser und unerbittlicher sich die Nivellierungswucht des rechnenden Denkens etabliert, umso tiefer ist kompositorisch zu schneiden. Die Ahnung, Natur beginne sich infolge ihrer wissenschaftlich-technischen Vergegenständlichung als negative Größe ins Unerfahrbare zu entziehen, wird in Lims Oresteia zum Revers der Erkenntnis, wie sehr der christliche Umbau des Abendlands antike Kosmosfülle durch das Kampfschema von Bedrohung und Bändigung ausgebleicht hat. Trotzdem seziert Lim den Mythos nicht, um erträumten, nie existenten Paradiesen nachzutrauern. Sie will die Wunde Zivilisation aufdecken, die der siebte Teil der Oresteia, «Athena´s trumpet», traumatisch verrätselt. Zwar erinnern hier Piccolotrompete und Sopran mit der Herrschaftssymbolik barocken Fanfarenglanzes an das Ende der aischyleischen Trilogie, an den Auftritt Apollons und das von Athene gestiftete Tribunal des Areopags. Suspendiert indes Aischylos den Fluch der Blutrache mit der protodemokratischen Institution freier Gerichtsbarkeit, behält Lim den drakonischen Unterbau von Polis und Politik im Blick. Anders als der Ausklang der Eumeniden und sein Hymnus auf Kult und Staat stürzt der Schluss in Lims Oresteia vom Gipfel des ‹Überirdischen› in den Abgrund. Die Trompete, zunächst «with an unearthly brilliance» zu spielen, sinkt in Takt 670 «rau» und «roh» in die Zone ihrer Pedaltöne ab, kombiniert mit dem vokalen Tiefensog auf der ersten Silbe von «FURY». «FURY», das mit großen Lettern markierte Stigma der Raserei und des Todes in Lims Oresteia nunmehr auch deren letztes Wort: Tribut an die Furien, die als eine unversöhnlich chthonische Triebmacht und konträr zu Aischylos im Ahndungs- und Rachestatus der Erinnyen belassen werden. Schließlich, nach einer «violent exhalation of breath», das Abdriften der Stimme ins pure Atemgeräusch und «al niente» ins Nichts. Damit fügen sich Anfang und Ende der Komposition über ihr pneumatisches Fundament zum Kreis, dem Sinnbild des Mythos. Wenn auch nur beinahe. Da Lim das Geschehen weder episch noch dramatisch durchstrukturiert, sondern mit leichtem Zielgefälle reiht, erzeugt sie ein Defilee der Momente und Zeichen und der Namen, die sich im musikalischen Gewebe zu narrativen Knoten schürzen: Agamemnon, Iphigenie, Apollon, Zeus, Orestes, Helena. Und sie erzeugt eine Bilanz des Unwägbaren: Präsentiert der Sopran als Coda des Stücks nochmals dessen Leitmotive, die von «memory», «dream» und «FURY», dann überlagert sich punktuell – Memento und Menetekel in einem – das Unternehmen des homo humanus mit dem des homo barbarus zur Unentschiedenheit eines Experimentum mundi, hintergründig kommentiert vom «breath noise» des finalen Takts. Hatte nicht bereits Hegel im kolonisierenden Ausgriff Europas allzu anmaßend jenen «Hauch» der «Tätigkeit» gefeiert, in dem das ‹Natürliche untergeht› und zum Material des Geistes wird?(10)
Mit ihrer Operation am offenen Herzen der Kultur widerspricht Lim dem Gesetz der Verwertung, dem zufolge Schmerz kein profitables Produkt abgibt. Ihn mit dem Ziel einer politischen Dynamik öffentlich zu machen, verletzt das Effizienzgebot, mit dem sich die Menschheit als Symptom und Ursache ihrer eigenen Nutzungs- und Vernutzungsobsessionen dem Recycling von Produzieren und Konsumieren unterwirft: einem industrialisierten Zyklus des Daseins, der zunehmend alle Energie aufsaugt und sich mythisch auflädt. Und sind wir zudem – der Aufklärungsseite der Idee vom animal rationale nach – mittlerweile nicht alle Profiteure einer Disziplinierung, die durch verinnerlichte Verwaltungsroutinen in die Weltbewältigungsapathie des «Schmerzlosen» einübt?(11) Wie könnte die Intention eines «memory theatre» das Gedächtnis der Zivilisation anders als eines des Schmerzes fassen, den noch der Roman eines jeden Ichs kennt, sobald die Wünsche und Sehnsüchte im Kältestrom der Gesellschaft gefrieren? Deshalb wohl muss Lims Oresteia auf die Askese protestantischer Ethik, die sich immer raffinierter als Leben drapiert, mit dem Grauen der Nacht des Aischylos antworten, aber auch mit dem sapphischen Zauber des Nächtlichen, damit sich das Orphische über die Musik hinaus nicht vollends im Regime des Tags und seiner Geschäftigkeit verliert und mit dem Orphischen die Stimme, «die nicht befiehlt, sondern singt».(12)
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Anmerkungen
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1 Obwohl das Oresteia-Projekt in Zusammenarbeit der Komponistin Liza Lim mit dem Regisseur Barrie Kosky und der Choreogra-
phin Shelley Lasica realisiert wurde – mit weitreichenden Auswirkungen auf die Bühnenversion – geht es im vorliegenden Essay
primär um Lims Musik. – Die Partitur der Oresteia, deren Libretto auf der Orestie des Aischylos, auf Sapphos Mondgedicht und
dem Agamemnon-Drama Tony Harrisons basiert, ist bei Ricordi erschienen, die Einspielung mit dem Elision Ensemble unter San-
dro Gorli bei Dischi Ricordi.
2 Johann Wolfgang von Goethe, Briefe, Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, hg. v. Erich Trunz, Hamburg 1968, Briefe Bd. 1,
S. 365.
3 Goethe, Dichtung und Wahrheit, Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 285.
4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Frankfurt am Main
1975, S. 54.
5 Antonin Artaud, Le Théatre et son Double, Paris 1966, S. 12.
6 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 1992, S. 81.
7 Aischylos, Orestie, in: Aischylos, Tragödien und Fragmente, hg. v. Oskar Werner, München und Zürich 1988, S. 73.
8 Sappho, Lieder, München 1976, S. 24 (Übstzg. J. B.).
9 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Gütersloh 1984, S. 188.
10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe Bd. XII, Frankfurt am Main
1970, S. 108.
11 Friedrich Hölderlin, Mnemosyne, in: Hölderlin, Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt am Main 1984, S. 199.
12 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971, S. 160.
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