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Unhörbares, Unsichtbares

Neue Musik und Naturwissenschaft

DeutschlandRadio Berlin (2004)

​Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit in unterschiedliche «Eigenzeiten» auflöst; dass die Quantenmechanik auf Daten verwiesen ist, die eine strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Verständnis von Prozessen erlaubt, die vormals dem blinden Zufall zugeschlagen wurden: Solche Umwertungen der Neuen Naturwissenschaft finden ästhetische Parallelen auch in der zeitgenössischen Musik. Schon in den Fünfzigerjahren konnte deshalb Karlheinz Stockhausen kompositorische Ereignisse mit Begriffen der Gegenwartsphysik kommentieren und von «statistischer Zeitwahrnehmung», von «Feld» und «Quantelung» sprechen. Bedeutet indes die Nähe Neuer Musik zur Naturwissenschaft lediglich eine methodische Nutzung mathematisch-physikalischer Verfahren? Oder hat die Ähnlichkeit der Arbeit mit Mikrobereichen der Struktur und offenen Systemen etwas mit der Wahlverwandtschaft von Erkenntnismodellen zu tun?

 

A         Müsste man ein Charakteristikum für den Pluralismus der Neuen Musik ange­ben, es läge wohl im Eindringen der Kompositionen in akustische und struktu­relle Mikrobereiche. So wie in der Teilchenphysik die einheitsstiftende Wirkung der Schwerkraft ihre Absolutheit einbüßt, so relativiert sich auch in der Musik des 20. Jahrhunderts die scheinbar naturgegebene Konstante der Funktions­harmonik. Und mit ihr die Gravitationsgesetze, die die musikalische Grammatik auf die Makroordnung einer homogenen Zeit hin ausrichten. Newtons «abso­lute, wahre und mathematische Zeit», die «gleichförmig» dahinfließt, ist ihrem Totalitätsanspruch nach auch ästhetisch passee. «Statistische Formvorstel­lung» heißt ein Zentralbegriff, der Karlheinz Stockhausens Musik der Fünfzi­gerjahre bestimmt und damit jenes Prinzip der Wahrscheinlichkeit aufgreift, das die Quantenmechanik vom Determinismus der klassischen Physik unter­scheidet. «Statistische Formvorstellung»: in ihr geht es – was die Intensitäten von Tonhöhe, Dauer, Klangfarbe, Dynamik oder Geschwindigkeit anbelangt – um Skalierungen wie «durchschnittlich, vorwiegend, ziemlich, insgesamt oder annähernd» und um «Grade der Dichte von Tongruppen».

 

Bspl. 1: Karlheinz Stockhausen, Punkte [Tr. 13, 0´06–1´17] [1´11]

 

A         Auch wenn Stockhausen seine frühen Arbeiten mit Begriffen der zeitgenössi­schen Physik kommentieren und von «Mikro- und Makrozeit», von «Feld» und «Quantelung» sprechen konnte: die Frage bleibt, ob die Nähe der Musik zur Naturwissenschaft mehr besagt als eine bloß methodische Nutzung mathema­tisch-physikalischer Verfahren; ob also die Ähnlichkeit im Umgang mit statisti­schen Kalkülen und offenen Systemen tatsächlich etwas mit der Verwandt­schaft von wissenschaftlichen und ästhetischen Erkenntnismodellen zu tun hat. Und wenn ja, wie wäre diese Verwandtschaft zu sprechen?

​Bspl. 2: Giacinto Scelsi, Trio à Cordes, 3e mouvement [CD 1, Tr. 7, 0´00–2´44] [2´44]

 

A         Giacinto Scelsis Streichtrio und ein Kommentar dazu:

B         Wir müssen mit der «Substanz von Scelsis Musik zurechtkommen». «Anhalts­punkte wie Thema, Kontrapunkt, Harmonie, Einführung und Entwicklung scheinen dabei nicht relevant zu sein». Es gilt also «Dimensionen zu erstellen, innerhalb welcher eine analytische Wahrnehmung möglich wäre. Die Physik stand zu Anfang dieses Jahrhunderts vor derselben Schwelle. Beim Versuch, das extrem Kleine zu analysieren, [...] erwies sich die traditionelle Physik als unzulänglich». «Ein neuer Weg [...] zeigte sich mit der Quantenmechanik». «Vielleicht könnte» dieser «neue Weg» auch darin «ergiebig sein, Scelsis Mu­sik Begriffen zu unterziehen wie Orbitus [...], Quantensprünge von einer Bahn in die andere [...], Probabilität als eine statistische Annäherung an das Ge­schehen» [...] oder «Interferenz als die Hinzufügung eines Turbulenzelements mit nicht voraussagbaren Resultaten». Demnach können im dritten Satz von Scelsis Streichtrio «die vorübergehend auftauchenden Dis in Takt 11-13 als Interferenzbeispiele angesehen werden, wobei ab Takt 19 die Note sich klar als ein anderer Orbitus bestätigt. In Takt 13 und 48 führt die Geige schnelle Quantensprünge von einer Bahn in die andere aus [...]. Der Wechsel von B- und Dis-Bahnen stellt eine gewisse Anziehungskraft her, [...] gegen welche das Dis ab Takt 56 wie eine andere Art Interferenz erscheint und in den letzten Takten wie ein schwebendes Elektron endet, welches anwesend ist, aber kei­nen wirklichen Einfluss ausüben kann».

A         Was sich im zweiten Teil dieses Kommentars ereignet, ist gelinde gesagt eine Klitterung, ein kurzschlusshaftes Verschmoren zweier Begrifflichkeiten, der musik- und der quantentheoretischen, ohne Rücksicht auf ihren spezifischen Erfahrungs- und Erkenntnishorizont.

Musik indes ist zunächst ein eigenständiges Medium der Reflexion. Selbst wenn Cages Atlas Eclipticalis im Titel auf Astronomie anspielt: seine Komposi­tion liefert keine klingende Himmelskunde mit roten Riesen und schwarzen Lö­chern. Eine 1:1-Übertragung astrophysikalischer Begriffe auf die Musik wäre ebenso konkretistisch wie absurd. Dient Cage die Auswahl von Sterngruppen doch lediglich als Instrument, stellare Positionen grafisch in Noten umzuset­zen. Dass sich über das Motiv der Konstellation Bezüge einer mittelpunktslo­sen Parataxe zwischen Musik und Kosmos ergeben, ist ein anderes Problem.

 

Bspl. 3: John Cage, Atlas Eclipticalis [Tr. 2, 8´03–9´20(ab 9´16 ausbl.)] [1´17]

 

A         Natürlich steht außer Zweifel, dass es Gemeinsamkeiten zwischen Neuer Mu­sik und moderner Naturwissenschaft gibt. Allein schon aufgrund zeitgleicher Bewusstseinsressourcen. Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit in unterschiedliche «Eigenzeiten» auflöst; dass die Quantenmechanik mit Werten arbeitet, die strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Begreifen von Verläufen verlangt, die vormals dem blin­den Zufall zugeschlagen wurden: solche Umwertungen und Leitgedanken der modernen Naturwissenschaft finden ihre ästhetisch variierten Parallelen auch in der Musik. In Cages Atlas Eclipticalis etwa besagt Gleichzeitigkeit die Zeit­gleichheit unterschiedlicher Eigenzeiten der Interpreten und Klänge; auch in Atlas Eclipticalis unterbindet die nicht im Geringsten voraushörbare Musik jede Spur eines prophetischen Hörens, allein schon, weil jede Aufführung der Sub­stanz nach unwiederholbar ist; und was den Zufall anbelangt: er ist in der Aus­einandersetzung mit Cage das Reizthema schlechthin. Musik und Naturwis­senschaft: Vergleichbarkeit von Wahrnehmung, von Erkenntnis also, keine Gleichheit.

Unhörbares, Unsichtbares: was könnte den Weg der Musik und der Wissen­schaft in den Mikrobereich besser charakterisieren? Den Weg ins Innere der Materie, den Weg ins Innere der Töne?

​Bspl. 4: Gérard Grisey, Jour, contre Jour [Tr. 5, 19´30(aufbl.)–21´30(ab 21´25 ausbl.)] [2´00]

 

A         Der Weg ins Innere von Mikrostrukturen bedeutet zunächst das Poröswerden von Sinnorganisationen und Ordnungsdichten auf der Makroebene. Der Bruch der Musik mit dem syntaktischen Sprachcharakter und mit dem, was Adorno «qualitativ artikulierte Zeit» nannte; die Relativierung naturwissenschaftlicher Entwürfe auf kausal determinierter Basis: in beidem zeigt sich ein Wendekreis des Denkens und der Wahrnehmung. Geschlossene Konzeptionen, die sich auf Notwendigkeit gründen, werden auf Offenheit hin gesprengt: im Fall des formal durchhörbaren, gleichsam mitzukomponierenden Organismus des mu­sikalischen Werks ebenso wie im Fall des fundamentalen Konstruktionsni­veaus von Welt und Kosmos im Universum der klassischen Physik.

Systeme, deren instabile Anteile eine Dynamik des Chaotischen und Gere­gelten in diversen Mischungsverhältnissen fluktuieren lassen: ihnen begegnen wir auch in den auf wahrscheinlichkeitstheoretischen Verfahren basierenden Kompositionen des griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis. Und was vorab den technischen Kalkül seiner Arbeiten anbelangt: Wie viele Komponisten begrüßt auch Xenakis die Möglichkeit, über die Anwendungen naturwissenschaftlicher Methoden einen hohen Grad an Komplexität zu errei­chen, und zwar mit einem minimalen Aufwand an Mitteln, etwa dem der Gene­rierungspotenz zellulärer Automaten.

B         «Angenommen wir haben ein Gitternetz auf dem Bildschirm, mit vertikalen und horizontalen Linien, die zusammen kleine Quadrate, das heißt Zellen, bilden. Diese sind zu Beginn leer. Es ist nun die Aufgabe des Komponisten [...] sie auszufüllen». «In Übereinstimmung mit der Regel, die man aufgestellt hat, er­weckt die ausgefüllte Zelle, sagen wir, eine oder zwei angrenzende Zellen zum Leben. Im nächsten Schritt wird jede Zelle wiederum einen Ton oder zwei Töne erzeugen. Die Regel hilft das ganze Gitter auszufüllen. Das sind die zel­lulären Automaten. Es sind sehr einfache Regeln, mit denen sehr große Flä­chen strukturiert werden können»: «ein iterativer, dynamischer Prozess, der zu sehr reichhaltigen Ergebnissen führt».

 

Bspl. 5: Iannis Xenakis, Ioolkos [Tr. 4, 0´00–1´24 (ab 1´19 ausbl.)] [1´24]

 

A         Die Vielfalt mathematischer Operationen, die Xenakis kreativ in Musik umsetzt, sensibilisiert für die Statistik von Massenphänomenen, deren Sprache Natur und Kultur in gleicher Weise sprechen: das Zirpen der Zikaden ebenso wie die Geräuschcluster der Industriegesellschaft. Statistik meint hier die Organisation von Prozessen im Spannungsfeld zwischen regellosen Turbulenzen und de­terministischen Gesetzmäßigkeiten. Xenakis komponiert die Macht von Struk­turen zwischen Statistik und Einzelfall aus: in einer Vernetzung deterritorialisie­render und reterritorialisierender Kräfte ohne feste Trennschärfe. Komponieren wird zum Ereignisraum von Steuerungsprozeduren, die nicht mehr jedes De­tail, sondern Möglichkeiten organisieren. Der Habitus des alles beherrschen­den Autors, der jedem Ton als Einzelton seinen unverrückbaren Ort zuweist, hat sich zur Abkehr vom Subjektmonopol gewandelt. Diese Abkehr sprengt auch die finale Zielfixiertheit zugunsten ständiger Symmetriebrüche, die die Macht der Zeit spüren lassen und sich ihr zugleich widersetzen. Symmetrie­brüche, die die Schichtung und Folge gelenkter und offener Aktionen assozia­tiv zwischen naturhaften Eruptionen und gesellschaftlichen Konfliktszenarien changieren lassen. Vor dem Horizont moderner Angst- und Gewalterfahrung bricht sich musikalische Technik im fortgeschrittensten Stand der Naturwis­senschaft, um gerade dadurch das Archaische, das Ekstatische und Ver­drängte im Triebgrund der Zivilisation freizulegen.

 

Bspl. 6: Iannis Xenakis, Jonchaies [Tr. 6, 11´01(aufbl.)–15´03] [4´02]

 

A         Mit dem Phänomen der Eigenzeiten zersplittert die Relativitätstheorie jene Ganz­heit, die Newtons «absolute Zeit» über das Prinzip der Gravitation für immer und für alle Bereiche konsolidiert zu haben glaubte. Gab die «absolute Zeit» nicht allen Ereignissen das Maß ihrer Gleichzeitigkeit vor, ohne doch zugleich aufgrund der zeitsymmetrischen Naturgesetze mehr zu sein als ein bloßes Ornament? Versprach nicht der Determinismus, aus der Gegenwart heraus jeden möglichen Zustand der Zukunft berechnen zu können? Jeden­falls lief der mechanistische Sinngenerator in Laplaces Essai philosophique sur les probabilités von 1814 auf Hochtouren:

B         «Eine Intelligenz, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt alle in der Natur wir­kenden Kräfte sowie die gegenseitigen Lagen der sie bildenden Elemente kennte und überdies umfassend genug wäre, um diese Größen der Analysis zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen des größten Weltkörpers wie des leichtesten Atoms erfassen; nichts würde ihr ungewiss sein, und Zukunft und Vergangenheit wären ihrem Blick gegenwärtig. Es lässt sich eine Stufe der Naturerkenntnis denken, auf der sich der ganze Weltvor­gang durch eine mathematische Formel darstellen ließe, durch ein System von Differenzialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Ge­schwindigkeit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäben.»

A         Gegenüber dem «laplaceschen Dämon» – und wäre nicht auch zu sagen: ge­genüber dem ‹beethovenschen Dämon› – lassen Neue Physik und Neue Mu­sik solche Exaktheitsvorstellungen und Allmachtsfantasien nicht mehr zu. Ort und Geschwindigkeit sind im atomaren und subatomaren Bereich nicht gleich­zeitig mit beliebiger Genauigkeit zu messen. Mit der Konsequenz, dass die Ungewissheit gegenwärtiger Zustände sich nunmehr auch auf die Berechen­barkeit künftiger Zustände auswirkt. Dies scheint für makroskopische Ressorts nur so lange ohne Interesse zu sein, solange übersehen wird, wie sehr sich Änderungen der Mikroebene zu unkalkulierbaren Turbulenzen der Makro­ebene aufschaukeln können. Mit dem Ende des Determinismus und mit der Sensibilität für minimale Faktoren werden austarierte Ordnungen zur Aus­nahme. Von nun an hat die Intention einer ebenso exakten wie universalen Entscheidbarkeit und Berechenbarkeit etwas mit der selektiven Kontrolleffi­zienz des messenden Subjekts zu tun, das in der Prinzipienharmonie der Na­turkausalität seiner göttlichen Spur innezuwerden glaubt; vergleichbar den Konstrukteuren auratisch geschlossener Werkorganismen in der funktions­harmonischen und syntaktischen Musik. In der global vernetzten Welt indes liegt die politische Brisanz der Systemfragilität auf der Hand, mögen die Kon­zepte von Ökonomie und Politik auch nach wie vor makroskopisch vergröbert sein, nicht ganz unähnlich den makroakustisch geeichten Ohren gängigen Hörbewusstseins.

 

Bspl. 7: Gerald Eckert, Nachtschwebe [CD 2 / Tr. 1, 10´59(aufbl.)–12´23] [1´24]

 

A         Nachtschwebe: Ein Orchesterstück von Gerald Eckert, komponiert 1997/98 und zweifellos beeinflusst von Theorien der Chaosforschung, die sich mit der Auswirkung kleinster Unwägbarkeiten auf die Balance eines Systems befas­sen.

B         «Einer der formalen Aspekte» meines «Orchesterstücks Nachtschwebe ist der Zustand der ‹Schwebe›. Dabei meint ‹Schwebe› im engeren Sinn einen Gleichgewichtszustand, der allgemein gefährdet ist und sich äußerst labil ver­hält». «Auf musikalische Strukturen übertragen durchdringt dieser Aspekt die formalen Strukturen und die Klangästhetik des Werkes, z. B. die Generierung einer Klanglichkeit, deren [...] brüchige und instabile Formen Unvollständigkeit – im Sinne des fehlenden Gleichgewichtes – implizieren». «Auf der Struktur­ebene generierte ‹Schwebezustände› erzeugen auf musikalischer Ebene Dehnungen und Kontraktionen, es entstehen verschiedene Grade von Nähe und Entfernung, von Distanzen, sowohl bezogen auf harmonische Strukturen, als auch auf die Ausdehnungen der mikrozeitlichen Momente. Diese Mikro­strukturen bilden die in sich nicht starren und geschlossenen Zeitgefüge, die [...] auf Kommendes verweisen und Zurückliegendes – reflexiv – aufdecken».

A         Eckert geht es um die Stabilität und Fragilität eines offenen Systems, mag des­sen Offenheit auch einem geschlossenen, jederzeit wiederholbaren Werk­organismus eingebunden bleiben. Gleichwohl wird die Musik schon deshalb nicht zu einem ästhetischen Ableger der Systemtheorie, als sie die Erinnerung an die expressive Subjektrhetorik wachhält, ohne sie rhetorisch auszukosten. Im Phasenraum der komponierten Energien verschattet sich der vormals so enge musikalische Bezug zwischen Ausdrucksgestus, Sprachcharakter und Subjektspur, während die Prozessdynamik umgekehrt wie schemenhaft ver­wischt wirkt. Musik wird zur «Schwebe» von Ereignissen, die nicht mehr in ei­ner durchhörbaren Ordnung zu verorten sind. War Zeit in der klassischen Phy­sik wie in der tonalen Musik die Kraft einer geregelten, wenn auch individuell zu meisternden Scheide- und Kombinationskunst, wird sie nun zu einem Me­dium des Unwägbaren: in eins erzeugt und aufgesaugt von den Fliehkräften divergenter Kraftlinien, komplex im Ausfiltern von Energieniveaus.

 

Bspl. 8: Gerald Eckert, Nachtschwebe [CD 2 / Tr. 1, 12´24–14´27] [2´03]

 

A         Offene Systeme also. Musik hat es jetzt mit der Polyakustik von Zeit- und Raum­gefügen und mit einer Unschärferelation zu tun, die der Komponist Peter Ablinger bildhaft am Phänomen wirbelnder Schneeflocken beschreibt:

B         «Direkt vor meiner Nase sind es jeweils nur wenige Flocken, die herunterfal­len, ich kann jedenfalls einzelne Flocken isoliert längere Zeit verfolgen». «Im Mittelgrund kann ich die Flocken nur mehr in Gruppen und Strukturen wahr­nehmen, wohl noch bemerkend, dass sich diese Strukturen aus einzelnen Flo­cken zusammensetzen». «Als Nächstes nehme ich die Überlagerung selbst wahr; eine netzartige Struktur, die einzelne Richtungsabweichungen nicht mehr erkennen lässt, sondern – ganz im Hintergrund – nur mehr die Sugges­tion des Fallens. Ich sage Suggestion, denn wäre nicht der Hintergrund von diesem Fallen ständig übermalt, ich könnte auch denken [...], es ist nur mehr eine stehende, aber flimmernde, pulsierende Fläche.»

 

Bspl. 9: Peter Ablinger, Weiß / Weißlich [Tr. 6(ganz=0´40) + 7 (0´00-0´35)(ab 0´30 ausbl.)] [1´15]

 

A         Mit der Naturwissenschaft ihrer Epoche teilt Neue Musik den Abschied von intui­tiven Zeitvorstellungen. Wenn Zeit und das Bewusstsein von ihr stets auch Produkte der Sprache sind, dann bricht gegenwärtiges Komponieren gängige Zeitmodelle als eine besonders hartnäckige Sorte verstandesmäßiger Hypno­tisierung: Modelle wie das vom augenblickssummierenden Kontinuum oder das kausaler Linearität. Stattdessen sensibilisiert Musik heute für die Energie des Unberechenbaren. Dass das Irreduzible zeitgenössischer Kompositionen dem Zeitaspekt nach auf eine Komplexität verweist, bei der das kausal trai­nierte und am voraus- und durchhörbaren Werk geschulte Bewusstsein ins Leere läuft, ist dafür ein erstes Symptom.

 

Bspl. 10: Michael Reudenbach, Szenen , Standbilder [CD1 / Tr. 10, 3´58–5´58] [2´00]

 

A         Ein anderes Symptom für die Energie des Unberechenbaren liegt darin, dass Werke Neuer Musik nicht mehr formalisierbar sind. Nehmen wir ein Extrem: In Kompositionen des methodischen Zufalls hinterlässt die Musik nicht einmal mehr eine grafische Spur – in Form einer Partitur etwa –, von der aus sich der Weg der Komposition und der Ort des Hörens bestimmen ließe. Das kompo­sitorische Konzept der Musik lässt sich nicht komprimieren, außer – fragmen­tarisch – durch weitere Aufführungen, die ihrerseits wieder auf weitere Auffüh­rungen ad infinitum verweisen: Vergleichbar jenen Formationen des determi­nistischen Chaos, deren Struktur einzig durch den womöglich unendlichen Ablauf des Systems fassbar wird. Wie bei der Musik variabler Formen kann die volle Beschreibung des Systems allein durch die Realisierung des Systems erfolgen. Zudem ist jede avancierte zeitgenössische Komposition insofern komplex, als sie, mathematisch gesprochen, nicht reduzierbar, nicht in einer allgemeinen Nomenklatur stenographierbar ist. Im Unterschied zur Musik der dur-moll-tonalen Epoche, die, wenn auch nicht dem Gehalt so doch der Faktur der Werke nach, auf der Metaebene eines verbindlichen Analyseinstrumenta­riums zu skizzieren ist: auf der Metaebene der Harmonie-, der Kontrapunkt-, der Rhythmus-, der Motivlehre.

Dass eine Klaviersonate Beethovens per Harmonielehre formalisierbar ist, heißt natürlich nicht, Beethoven habe reduktionistisch komponiert. Und doch ist die Formalisierbarkeit einer Musik nicht äußerlich, die in ihrer Genialität et­was von Muster und Puzzle, etwas von der Beherrschbarkeit eines jeden De­tails und eben darin etwas vom laplaceschen Dämon an sich hat. Erst von der Neuen Musik her werden die Ausschlussverfahren der tonalen Musik hörbar: als Ausschluss des Chaotischen, des Zufalls, des Unreinen oder positiv formu­liert: als Konzentration auf den affektiven Sprachgestus, seine Symbolik, seine Zeitkonsistenz. Erst das Neue in der Musik wie in der Naturwissenschaft eröff­net den Diskurs darüber, was die klassischen Modelle sagen können und was sie verschweigen müssen. Auch wenn die Musik der tonalen Ära ein ungeheu­res Repertoire an Innovation und Experiment aufweist: ihre Art der Codierung berührt sich ein Stück weit mit der klassischen Physik und ihrer Rückführbar­keit komplexer Zusammenhänge auf fundamentale Gesetze.

Erinnern wir uns. Der Weg in die Tiefenstruktur führt über das Infragestellen etablierter Basisverständigungen. Für die neuere Hirnforschung beispielsweise heißt das, jene Sinnagenturen im Mikrokosmos des Gedächtnisses zu analy­sieren, die mit der Erzeugung von Kausalität und Kohärenz, mit der Erzeugung von Zeitstrukturen also, unser Bild von Wirklichkeit formen. Wie arbeitet das Gehirn als selbstreferenzielles System? Und welche Konsequenzen hat die Einsicht in den Konstruktivismus unserer Wahrnehmung für eine Theorie des Subjekts als kulturelles Konstrukt?

Vergleichbare Sondierungen der Tiefenstruktur finden sich auch im zeitgenös­sischen Komponieren. War Musik die Jahrhunderte hindurch eine hohe Schule des Gedächtnisses, thematisiert sie nun das Gedächtnis selbst: seine Vernet­zungsarbeit, seine Zeitfenster, seine Leerstellen. Der ‹große Maßstab› in Morton Feldmans späten Kompositionen etwa verflüchtigt das Sensorium von Gegenwart, Erinnern und Vergessen zum Nullsummenspiel «verfälschter As­soziationen». Zeit und Identität beginnen zu oszillieren. Musik versiegelt sich gegen die subjektive Innerlichkeitsform eines Gedächtnisses, das sich seiner erst in einer «disorientation of memory» bewusst wird.

Natürlich ist Feldmans Musik kein neurobiologischer Versuch, auch wenn sie die Ordnungsfilter des Gedächtnisses durchsiebt und erkennungsdienstliche Hörgewohnheiten außer Kraft setzt. Sofern jedoch Feldmans jeder industriali­sierten Zeitempfindung zuwiderlaufende Stücke Form als ein zerleg- und be­herrschbares Terrain deformieren und transformieren und damit das Weiße des Gedächtnisses zirkulieren lassen, führen sie ins Innere des Zeitsinns. Ge­dächtnis reimt sich auf Genese. Es zehrt sich auf, indem es sich erzeugt. Mu­sik, so der Komponist, wird «abstrakt».

​Bspl. 11: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 2 / Tr. 1, 8´07–11´20 (ab 11´15 ausbl.)] [3´13]

 

A         Konstruktivistisch gleichsam verschiebt Feldmans Komponieren den musikali­schen Sinn gegen den Sinn, indem es Musik daran hindert, syntaktisch zu ge­rinnen. Mit dem Verwischen solcher syntaktischen Sinnspuren im Modulieren von Mikrovarianten aber bricht Musik mit den Integrationsleistungen des Ge­dächtnisses auch die Kontrolle des Ohrs. Sie dekonturiert den rezeptiven Or­tungssinn in einer Weise, die an die Unschärfe des Beobachtens im quanten­physikalischen Kosmos erinnert. Hören nähert sich einem ungedeckten Ge­schehenlassen, einem Zuhören an, das «auftauchen» lässt, statt das Kompo­nierte ständig auf das Einheitsverlangen der «produktiven Einbildungskraft» zu recodieren.

A         Es war kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als Sigmund Freud die «großen Kränkungen» thematisierte,

B         die die «Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden» musste. «Die erste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist». «Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur ver­wies». «Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Grö­ßensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in sei­nem Seelenleben vorgeht».

A         Stand indes nach diesen Kränkungen nicht noch eine weitere an? Eine Demüti­gung nicht nur durch, sondern für die Wissenschaft selbst? Erkennt­nisse wie die in Einsteins Relativitätstheorie, dass es keinen vor allen anderen ausgezeichneten Bezugspunkt der Zeit gebe, oder die von Gödels Unvollstän­digkeitstheorem, dem vielleicht wichtigsten logischen Beweis des letzten Jahr­hunderts, dem zufolge kein mathematisches oder logisches System zugleich vollständig und konsistent sein kann, da es immer Aussagen enthält, deren Wahrheitswert mit Mitteln des Systems weder bewiesen noch widerlegt wer­den kann; des Weiteren all die nicht hintergehbaren Grenzen von «Wahr­scheinlichkeit» und «Unbestimmtheit» in der Quantenphysik und Systemtheo­rie, kurz: das Offene der nachklassischen Naturwissenschaft – ist dies alles nicht auch als eine «Kränkung» zu begreifen? Oder, um auf die Musik zu kommen, der Bruch mit der homogenen Zeit, mit dem affektiven Erlebnisstrom, mit dem subjektzentrierten Sprachcharakter: liegt darin nicht ebenfalls ein Af­front gegen die Intuition und den Narzissmus des Gefühls und der Selbstbe­stätigung?

Und doch wäre es zu sehr nach der Direktive instrumenteller Vernunft ge­dacht, hier mit der Figur des Verlusts, gar der Kränkung zu argumentieren und zu übersehen, wie erst jetzt das Unverfügbare zu einer gesellschaftlichen Pro­duktivkraft werden kann: Gegen das universal verfügende Integrationsideal der Wissenschaft, das das Abweichende und Vieldeutige mit statischen Universal­gesetzen in Schach hält; und gegen ein ästhetisches Gebot, das das Nicht-Li­neare auf Linie bringt und komplexe Randbedingungen auf Null einebnet.

Der Suche nach der Weltformel zum Trotz beweist Denken die Grenzen der Formalisierbarkeit des Denkens und entdeckt dabei, dass noch die strengste Logik auf intuitiven Voraussetzungen basiert. An ihrem Extrem stoßen Ratio­nalität und Konstruktion in Wissenschaft und Musik auf ein Rauschen, das den mathematischen und musikalischen Idealisierungsverfahren selbst inhärent ist. Und wie die Naturwissenschaft das Unberechenbare nicht mehr ausschließlich auf das Konto einer unscharfen Mess- und Kontrollapparatur verbuchen kann, so sensibilisiert auch der Gang der Musik in den Mikrobereich der Klänge und Strukturen für unentscheidbare Hörsituationen in einer Polyakustik des Ver­schiedenen und dessen Gleichzeitigkeit. Mit einer solchen Abrüstung der Subjektideologie stellen sich Musik und Naturwissenschaft gleichsam mit offe­nem Visier dem, was anders ist als sie, und was vielleicht mit einem Ernst­nehmen von erster und zweiter Natur zu umschreiben wäre.

 

Bspl. 12: Isabell Mundry, no one [Tr. 2, 2´30(aufbl.)–3´52] [1´22]

 

B         «Die Zwölftontechnik zusammenzudenken mit dem Kindergefühl vor der But­terfly im Grammophon: darum müsste musikalische Erkenntnis ernsthaft sich mühen.»

A         Ein Aphorismus Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1929. Und heute? Beset­zen Reflexion und Emotion im funktional zersplitterten Leben nicht weiterhin extreme Pole wie einst schon in Schillers Zeitdiagnose von 1795? Das Ghetto der Neuen Musik und die Inflation einer Musik des Sich-Fühlens und -Spürens, des großen wie des vermeintlichen Passionato könnten dafür sprechen. Oder sind mittlerweile sämtliche komponierten Klänge Signale im kalten Äther eines Weltbewusstseins, dem zufolge, so der französische Biochemiker Jacques Monod,

B         «der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen muss. Er weiß nun, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen».

A         «Bye-bye Butterfly» also? Wohl kaum. Und das nicht nur aufgrund der Assozia­tion zu jenem vielberedeten Schmetterlingseffekt, dem gemäß kleinste Ursachen größte Wirkungen haben können. Eher schon aufgrund der Bindung von Musik und Naturwissenschaft an den Sinn- und Bewusstseinsstand ihrer Zeit, über den beide – nicht zuletzt im Medium der Technik – aufeinander be­zogen sind und über sich hinausweisen, in Richtung einer anderen Wahrneh­mung, eines anderen Denkens: Naturwissenschaft, indem sie erkennt, dass ihre Rationalität die Intuition und den Faktor der Grenze nicht zum Verschwin­den bringen kann; Musik aber, indem sie weiß, dass Intuition ohne Reflexion, ohne die Resonanz zum aktuellen Stand der Rationalität einem nostalgischen Gefühlslieferantentum und der Provinzialität zufällt.

 

Bspl. 13: Pauline Oliveros, Bye Bye Butterfly [CD 2/ Tr. 3, 4´03–6´40(ab 6´35 ausbl.)] [2´37]

 

 

​Musikbeispiele

Bspl.   1: Stockhausen, Punkte       [Tr. 13, 0´06–1´17] [1´11] (Stockhausen-Verlag CD 2)

 

Bspl.   2: Scelsi, Trio à Cordes        [CD 1, Tr. 7, 0´00–2´44] [2´44] (SALABERT SCD 8904-5)

 

Bspl.   3: Cage, Atlas Eclipticalis      [Tr. 2, 8´03–9´20(ab 9´16 ausbl.)] [1´17]  (WERGO WER 6216-2)

 

Bspl.   4: Grisey, Jour, contre Jour  [Tr. 5, 19´30(aufbl.)–21´30(ab 21´25 ausbl.)] [2´00] (ACCORD SACEM 201952)

 

Bspl.   5: Xenakis, Ioolkos              [Tr. 4, 0´00–1´24 (ab 1´19 ausbl.)] [1´24] (col legno WWE 20504)

 

Bspl.   6: Xenakis, Jonchaies           [Tr. 6, 11´01(aufbl.)–15´03] [4´02] (col legno WWE 20504)

 

Bspl.   7: Eckert, Nachtschwebe       [CD 2 / Tr. 1, 10´59(aufbl.)–12´23] [1´24] (col legno WWE 2CD 20055)

 

Bspl.   8: Eckert, Nachtschwebe       [CD 2 / Tr. 1, 12´24–14´27] [2´03] (col legno WWE 2CD 20055)

 

Bspl.   9: Ablinger, Weiß / Weißlich  [Tr. 6 (ganz)+7 (ab 0´30 ausbl.)] [1´15](Maria de Alvear World Edition 0008)

 

Bspl. 10: Reudenbach, Szenen , Standbilder [CD1 / Tr. 10, 3´58–5´58] [2´00] (col legno WWE 2CD 20055)

 

Bspl. 11: Feldman, String Quartet (II)  [CD 2 / Tr. 1, 8´07–11´20 (ab 11´15 ausbl.)] [3´13](hat[now]ART 4-144)

 

Bspl. 12: Mundry, no one                [Tr. 2, 2´30(aufbl.)–3´52] [1´22] (WERGO WER 6542-2)

 

Bspl. 13: Oliveros, Bye Bye Butterfly  [CD 2/ Tr. 3, 4´03–6´40(ab 6´35 ausbl.)] [2´37] (Ellipsis Arts CD 3672)

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