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Fremde Sprache?

Zu Beethovens Neunter Symphonie
(SWR 2000)

Liegt es an ihrem universalen, an ihrem abstrakten Menschheitspathos, dass sich die Neunte Symphonie so hervorragend zu Zwecken der Repräsentation, der Legitimation und der Kommerzialisierung eignet? Als eine zurechtgehörte Erbauungsmusik der Gedenk- und Weihestunden? Macht die Alibi-Funktion des Werks nicht zur Genüge klar, dass seine Sprache fremd, wenn nicht gar unverständlich geworden ist?

Vielleicht wäre einer einschränkenden, zuversichtlicheren Antwort zuliebe die Frage anders zu stellen. Etwa so: wie kann der Traditionsschutt der Vereinnahmungen abgetragen werden, der die Neunte Symphonie überlagert und gleichsam unhörbar macht? Wäre es im Sinn einer Transparenz des Werks nicht folgerichtig, zu seinem historischen Ambiente, zu seinen Voraussetzungen zurückzugehen? Zum Reflexionsspektrum des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts etwa und zum Nachweis, wie sehr das musikalische Denken der Symphonie mit Ideen und Methoden der Philosophie Kants oder Schillers korrespondiert? Zumindest könnten dadurch die Zeitdiagnose und das Humanitätsprinzip der Komposition präzisiert werden: ihre Konfliktsignatur oder ihre programmatische Leitbahn. Begeben wir uns also zurück, um nach vorne zu kommen.

 

Bspl. 1: Rossini, Il Barbiere di Siviglia, Ouvertüre, T. 25 bis einschl. T. 47

                          (London Symphony Orchestra, Claudio Abbado)

Beethoven, Neunte Symphonie, Beginn des Finales (bis T. 29)

                           (SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen)

 

Beethoven und Rossini. Nichts als ein spannendes, ein gespanntes Nebeneinander von ernster und heiterer Musik? Just zu einem Zeitpunkt, als die gesellschaftliche Realität und ihre humanitären Ideale auseinanderzuklaffen begannen? Damals während der 1820er Jahre, als Rossini Wien in einen Belcanto-Taumel versetzte und Beethovens Neunte Symphonie schon weitgehend auf taube Ohren stieß? Sicher ging es um mehr als um die Reibung zwischen dem Ernsten und Heiteren. Es ging zumindest um die Würde der symphonischen Form selbst, um ihren ethischen Imperativ.

Beethoven, verstimmt über die Rossini-Begeisterung der Wiener, war sich über die Brisanz dieser Sucht nach dem Divertissement sehr wohl im Klaren. Seiner Ansicht nach war sie hochpolitisch, eine Ratifizierung der Abkehr von den Forderungen der Französischen Revolution. In etwa so, wie Heinrich Heine das auf den Punkt gebracht hat:

»Auf den Wogen Rossinischer Musik schaukeln sich am behaglichsten die individuellen Freuden und Leiden des Menschen; (...) alles ist hier das isolierte Gefühl eines Einzelnen. (...) Rossinis Musik war angemessener für die Zeit der Restauration, wo, nach großen Kämpfen und Enttäuschungen, bei den blasierten Menschen der Sinn für ihre großen Gesamtinteressen in den Hintergrund zurückweichen musste, und die Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten konnten.«

War Beethovens Neunte Symphonie ihrer Zeit also bereits zur fremden Sprache geworden? Hatte sich Beethoven 1824 mit einem Publikum auseinander zu setzen, das allmählich einer seelischen Taubheit anheim fiel - im Unterschied zur gleichsam bloß physischen des Komponisten? Der Ära Metternich mit der Neunten Symphonie die Stirn zu bieten, war Beethovens Absicht. Einer Epoche restaurativer Vereisung die Koordinaten von Vernunft und Freiheit einzuziehen: dazu sollte das symphonische Unternehmen bewegen. Und was hatte Beethoven dafür kompositorisch nicht alles aufgeboten.

Schon die traumatische Wucht des Eröffnungssatzes suchte ihresgleichen. Beethoven komponiert hier einen Koloss aus Ansätzen, Verwerfungen, Umschichtungen, Verdichtungen und Auflösungen. Eine Bühne antagonistischer Strukturen, die dem Allegro maestoso einschreiben, was im Denken des deutschen Idealismus um das Politikum der »Entzweiung« kreist: um das Drama von Freiheit und Notwendigkeit, um den Widerspruch zwischen »dem individuell ersehnten Leben und der objektiv sich vollziehenden Gewalt«. Außergewöhnlich ist die Heftigkeit, mit der Beethoven das Publikum auf das Vernunft- und Moralpostulat des Finales hin ausrichten will. An dieser Heftigkeit lässt sich der Grad der Verhärtung ablesen, mit dem es die Neunte Symphonie zu tun hatte. Kein Wunder, dass einem solchen Konzept der Erschütterung die Höhepunkte des ersten Satzes gleichfalls zur Verhärtung gerinnen. Zur Starrheit antithetischer Skalen unter Ausschluss eines thematischen Symbols der Versöhnung.

 

Bspl. 2: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 236 (aufbl.) bis T. 252 (ausbl.)

 

Den Gedanken Goethes, dass »alles Tragische« auf einem »unausgleichbaren Gegensatz« beruht, setzt der Konfliktgipfel der Durchführung bis in kleinste Motivzusammenhänge um. Die Zweiwertigkeit der spiegelsymmetrisch verzahnten Auf- und Abstiegsfiguren wird als Sinnbild von Entzweiung und Zwiespalt zum Ausdruck objektivierter Verzweiflung. Der Antagonismus des gesamten Satzes verdichtet zur Summe tragischer Unversöhntheit.

Und dann die Reprise. Keine Emphase der Ankunft. Keine Spur von der souveränen Geste beethovenscher Repriseneinsätze. Eher wandelt sich hier der fruchtbare Augenblick von Erinnerung und Wiederkehr zur furchtbaren Diktatur der Gegenwart. Auch hier bestimmt von der Ökonomie der Entzweiung. Gespalten nicht nur die Streicher und Holzbläser, gespalten in Konfrontationen und Gegenläufigkeiten auch die motivischen Verläufe. Die Hypothek der Durchführung, das Scheitern ihrer Versöhnungsarbeit: im Resultatcharakter der Reprise schärft sie sich zum tragischen Fazit.

 

Bspl. 3: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 297 (aufbl.) bis T. 338 (ab T. 337 ausbl.)

 

Mit dem Symptom des Getrennten und Unversöhnten, greift Beethoven einen philosophischen Grundgedanken seiner Zeit auf. Ihr wurde die Not der »Zerrissenheit« zum gesellschaftskritischen Impuls. Und der Formenkreis dieser »Zerrissenheit« ist vielfältig. Die Spaltung von Fantasie und Ökonomie, Herz und Verstand, Sinnlichkeit und Sittlichkeit gehört ebenso zu ihm wie der Bruch zwischen dem Kaltsinn der Politik und dem Bedürfnis des einzelnen Lebens, zwischen Individuum und Gattung, zwischen Ideal und Wirklichkeit. Gegen diese lebenszerstörenden Polarisierungen mobilisiert der Eingangssatz der Neunten Symphonie zahlreiche Figuren des Widerstands oder, mit dem Vokabular der Beethoven-Zeit geredet, zahlreiche Figuren der Autonomie. Schon indem der Satz auf Ent-täuschung: auf das Aufheben der Täuschung über eine korrupte Gegenwart zielt, appelliert er an die ethische Stärke des Subjekts. Oder wie sollte man sonst das Ende des Allegro maestoso auffassen?

 

Bspl. 4: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 513 bis Ende

 

Nach 512 Takten ergebnisloser Versöhnungsarbeit nun also der Gestus gemeinsamen Schreitens, zunächst im Charakter eines Kondukts. Wenig später dann die heroische Steigerung dieses Epilogs. Sie setzt das Kopfmotiv des Satzes dem tragischen Prozess entgegen: mit dem Anspruch des Subjekts, des Themensubjekts nämlich. So endet des Allegro maestoso in einer Verwandlungsmusik, deren Bahn vom Pathos des Schmerzes zum Ethos der Unbeugsamkeit verläuft. Schiller würde das so beschreiben:

»Zum Pathetisch-Erhabenen werden (...) zwei Hauptbedingungen erfordert. Erstlich eine lebhafte Vorstellung des Leidens, um den mitleidenden Affekt in der gehörigen Stärke zu erregen. Zweitens eine Vorstellung des Widerstandes gegen das Leiden, um die innre Gemütsfreiheit«, die »moralische Selbständigkeit im Leiden«, »ins Bewusstsein zu rufen«.

Widerstand, Selbständigkeit, Autonomie aber bedeuten Freiheit und Freiheit wiederum das »Bewusstsein unserer moralischen Natur«. Ein Bewusstsein allerdings, das wie im Eröffnungsallegro der Neunten Symphonie erst

»in einem gewaltsamen Zustande, im Kampfe« entsteht, wobei der »Sieg (...) nicht früher als am Ende (...) zu erlangen« ist.

Dass der erste Satz der Neunten Symphonie die Stimmen seiner Schlusstakte zum Tutti-Konsens bündelt, gleicht einer Anspielung auf den Kollektivsingular der menschlichen Gattung. Auf die Gattung im Sinn eines kollektiven, aber einheitlich vernunftgeleiteten Subjekts. Betont wird die Kraft der Solidarität gegenüber der Ohnmacht privatisierten Schmerzes. Dass dies jedoch erst im letzten Augenblick und am äußersten Rand des Satzes geschieht, formuliert die Musik zum Postulat, die »Prosa der Welt« zu durchdringen: mit der »Macht der Vereinigung«. Eine hegelsche Umschreibung für Schillers Leitmotive der »Sympathie« und der »Freude«.

 

Bspl. 5: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 513 bis Ende

 

Zeitgenössische Besprechungen des Scherzos aus Beethovens Neunter Symphonie betonen fast durchweg den »Humor« dieses Satzes. Da ist die Rede vom »stets trippelnden Thema«, vom »humoristischen Schlag der beiden F-Pauken«, ja sogar von einer Szene der italienischen Commedia dell' arte. Und wieder die Frage: war die Sprache Beethovens seiner Zeit bereits so fremd geworden, dass das Bedrohliche und Hintergründige dieses Scherzos biedermeierlich entschärft werden musste? Hatte man kein Ohr mehr für das Getriebene dieser Musik? Oder sind - umgekehrt - die katastrophengeschulten Ohren unserer Zeit taub geworden gegen den komödiantischen Zug dieses Satzes?

 

Bspl. 6: Neunte Symphonie, 2. Satz, Beginn bis T. 150

 

Auffällig ist, dass sich im Gesamtverlauf der Symphonie allein das Scherzo gegen das ethische Repertoire des Werks abdichtet. Einzig das Scherzo präsentiert keine imperativischen Fanfaren, keine postulierenden Signale, die auf das Ethos des Finales verweisen würden. Und selbst der Posaunenstoß zu Beginn des Trios erfüllt weniger Appell-Funktion als die Markierung eines Szenenwechsels. Jedenfalls verrät der perpetuum-mobilehafte Irrlauf des Satzes mehr von Zwang und Unrast als von der Freiheitsidee der praktischen Vernunft. »Possen«, die Charakterisierung, die Beethoven dem Scherzo in den Finalskizzen zuordnet, taucht bei Kant nicht zufällig im Zusammenhang mit der »geschäftigen Torheit« einer moralfernen Zivilisation auf. Abgesehen vom arkadisch aufgelichteten Trio kreist der Scherzo-Hauptteil mit jener ›Macht der Sinnlichkeit‹ und ›Getriebenheit‹ in sich, die Schillers Ästhetische Erziehung dem »physischen« Zustand zuschreibt.

Schillers Ästhetische Erziehung und ihr Zivilisationsmodell. Vieles spricht dafür, dass Beethovens Neunte Symphonie diesem Modell folgt, demzufolge

»der Mensch in seinem physischen Zustand bloß die Macht der Natur (erleidet); er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen«.

Präziser lässt sich der pädagogische Gang der Neunten Symphonie nicht skizzieren. Ein Läuterungsprozess, der nach dem Epochenbefund des ersten Satzes den zweiten Satz, also das Scherzo, dem »physischen« Zustand korrespondieren lässt, den dritten dem »ästhetischen« und den vierten endlich dem »moralischen«. Dass Beethovens Neunte Symphonie sich an Schillers Kartographie der menschlichen Gattungsgeschichte ausgerichtet hat, liefert wohl auch die einleuchtendste Erklärung für die Änderung der überkommenen Satzfolge: für die Umgruppierung des langsamen Satzes an die dritte Stelle der Gesamtform, also zwischen den »physischen« Charakter des Scherzos und den »moralischen« des Finales.

Als Ausdruck des unfreien »physischen Zustands« hält das Scherzo die Hörer in einem Objektstatus, der eine »freie«, »autonome« Position diesem manischen Satz gegenüber nicht zulässt. Zahlreich sind die Übereinstimmungen des Scherzos mit jenen Attributen, die Schiller dem »physischen« Stadium zuschreibt. At-tributen wie denen des »Bizarren«, des »Heftigen und Wilden«, der »raschen Übergänge« und »grellen Kontraste« etwa. Ins Zentrum von Beethovens Molto vivace führen vor allem Schillers Charakteristika des »Überraschenden« und des ›Zufälligen‹, das »kein Gesetz achtet« und den Sog des »Zeitlichen« spürbar werden lässt. Dann nämlich, wenn der orgiastische Rhythmus, der den Satz in Gang hält, plötzlich und gegen jede musikalische Logik leer läuft und in einer Generalpause zum Stillstand kommt. Vergleichbar auslaufenden, abbrechenden und erneut anhebenden Rotationen perforiert diese mechanisierende Wirkung den Zusammenhang auf leere Zeit hin. Eine momenthafte Zerrüttung; eine Plötzlichkeitserfahrung der frühen Moderne und zugleich eine Entbürdung von formender Regie. Dass sich der Rang eines Komponisten danach bemisst, inwieweit er den tonsprachlichen Fundus von Formelhaftem zu entbinden weiß, vergisst Beethoven im Umkreis dieser Zeit- und Sinnrupturen bewusst. Unbekümmert um das Vermittlungssoll kompositorischer Logik nähert sich die Musik der Schablone an. Ästhetische Zeit verrinnt in die empirische.

 

Bspl. 7: Neunte Symphonie, 2. Satz, T. 9 (der Whlg. des ersten Scherzoteils) bis T. 176

 

Beethovens Aufsplittern des Formkontinuums und der Hörkontinuität antwortet auf das Schwinden der Tradition, zumal auf die der Ziele von 1789. Dass der Verlust historischer Kontinuität nicht mehr guten Gewissens ästhetisch verschleiert werden kann, dämpft den Anspruch der Musik, Zeit ungebrochen zu organisieren. Mehr noch bedeuten solche Störungen der Zeitordnung Irritation von Sinn. Eine Irritation, die mit einem Kollaps der Form als der Garantin von Einheit und Stabilität die Apathie des Publikums aufsprengen will. Wenn das Auslaufen und Wieder-Anrollen der Motiv-Bewegung den Taumel des Satzes auf sein Kalkül hin durchschlägt, wird ein Ineinander von Trieb und Getriebe hörbar, als wollte Beethoven die Motorik wie die Erstarrung der restaurativen Gesellschaft freilegen und ihre unfreie Geschichte unterbrechen.

 

Bspl. 8: Neunte Symphonie, 2. Satz, T. 93 (der Whlg. des ersten Scherzoteils) bis T. 176

 

Der erste Satz von Beethovens Neunter Symphonie setzt seine Themen und Motive der »reißenden Zeit« eines Dramas aus. Anders der dritte. Er behandelt seine Themen nicht als Objekt, als Material. Das Adagio molto e cantabile verschwendet mit der Reihung seiner Variationen Zeit eher, als sie einer zielgerichteten Effizienz zu unterwerfen. Frei von motivisch-thematischer Arbeit nimmt der Satz kontemplative Züge an. Eine Nähe zu jenen Sphären, die um 1820 immer noch als Gegenwelt zur Niederung profaner Geschäftigkeit galten: zu den Sphären von Natur und Religion.

Nach den ersten beiden Sätzen lässt der Adagio-Satz aufatmen. Er hat etwas mit jener »freien Stimmung« zu tun, in der für Schiller »das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig ist«; im Sinn eines »mittleren Zustands« zwischen dem »physischen« und dem »moralischen«. Schiller nennt ihn den »ästhetischen«. Dieser »ästhetische Zustand« ermöglicht jene »freie Betrachtung«, mit der wir in die »Welt der Ideen« treten, ohne doch »darum die sinnliche Welt zu verlassen«. In solch »liberalem Verhältnis« zur Welt hebt sich die »Gewalt« des »physischen« Stadiums auf. Und damit auch die des Scherzo-Satzes der Neunten Symphonie.

 

Bspl. 9: Neunte Symphonie, 3. Satz, Beginn bis T. 24 (ausbl.)

 

Dennoch: der »ästhetische Zustand« bringt »keinen einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck« zur Ausführung, sondern eröffnet lediglich ›Möglichkeiten‹ des Übergangs. Deshalb kommt auch dem Adagio der Neunten Symphonie nur eine Durchgangsfunktion zu. Zu sehr verleitet die freie Stimmung des Satzes zu Projektion und Gedankenflucht. Ein Satz, der seine Themen nicht durch Phasen der Bewährung hindurchtreibt, kommuniziert mit der Innerlichkeit des isolierten Ich. Isoliert, weil es den Blick für die Belange der Gattung verloren hat.

Bedenken, der Adagio-Satz könnte zu sehr ins Idyllische abgleiten, finden sich bei Beethoven selbst. In einer Notiz zur Einleitung des Finales kommentiert er das Adagio-Zitat schlicht als »zu zärtlich«. Vor allem aber reflektiert die Musik diesen Sog zum Stimmungshaften: gegen Ende des Satzes, im Monolog einer Bläserpartie, die allmählich an Richtung verliert und den symphonischen Gemeinsinn zugunsten eines Privatsinns der Empfindsamkeit aufgibt. Das Adagio droht in ziellosem Kreisen zu stagnieren. Die formende Regie zieht sich zurück, die labyrinthische Sequenz entgleitet dem Satzgefüge und trübt sich schwermütig ein. Ohne prägnante Erinnerungsfiguren an den Satzverlauf, ohne ein Zusammenhang stiftendes Motivgefüge läuft die rezipierende Aufmerksamkeit ins Leere.

 

Bspl. 10: Neunte Symphonie, 3. Satz, T. 83 bis T. 98 (ab. T. 97 ausbl.)

 

Die kontemplative «Anschauung« macht uns «unfrei«, sofern das Subjekt »keinen anderen Inhalt als den des angeschauten Objekts« hat, um endlich überwältigt von der Autonomie dieses Objekts seiner eigenen verlustig zu gehen. So oder so ähnlich würde Beethovens Bläserepisode in einem philosophischen Text ihrer Zeit kommentiert werden. Beethoven streift hier die Nähe der Kontemplation zur Melancholie mit ihrer Weigerung, vor- und weiterzudenken, und ihrer Aufkündigung des »Interesses für die Außenwelt«. Nach dem Bläser-Einschub wirkt die arkadische Klang- und Seelenlandschaft jedenfalls wie ins Vergangene entrückt, vom Idyllischen ins Elegische. So wird die Bläserepisode zur Zeitachse des Satzes. Trotz ihrer Rückkehr zur Grundtonart B-Dur zeigt die darauf folgende 12/8-Variation Spuren einer Verflüchtigung. Die Musik wird zum Abgesang, bis massive Tutti-Fanfaren Protest und Einspruch gegen einen Satz zu Gehör bringen, der als selbstgenügsames Idyll die ethische Leitbahn der Symphonie verdunkelt.

 

Bspl. 11: Neunte Symphonie, 3. Satz, T. 108 (aufbl.) bis T. 123 (ausbl.)

 

Die stimmungswidrig in den Variationsfluss einbrechenden Tuttisignale der Coda werden zum Gattungsappell, der den kollektiven Anspruch und das Gebot tätiger Weltpräsenz zur Besinnung bringt. So wie Schillers »ästhetischer Zustand« einer der Vorbereitung und des Durchgangs ist, so drängt auch Beethovens Fanfarenappell zum »moralischen« Zustand des Finales. Wie schwer freilich der Abschied vom arkadischen Idyll fällt, macht das Ende des langsamen Satzes deutlich: der schmerzliche Gestus seiner Dur-Moll-Wechsel mit ihrer Gefühlsambivalenz zwischen Erwartung und Erinnerung. Durchzogen überdies von Seufzermotiven wie aus Wehmut darüber, dass Arkadien nicht Elysium ist.

Die Natur »umgebe dich wie eine liebliche Idylle, (...) bei der du Mut und neues Vertrauen sammelst zum Laufe und die Flamme des Ideals (...) in deinem Herzen von neuem entzündest«. Trotzdem führe uns der Dichter der Moderne »nicht rückwärts in unsre Kindheit, sondern (...) vorwärts zu unsrer Mündigkeit«. »Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, (...) welche (...) den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt«.

 

Bspl. 12:    Neunte Symphonie, 3. Satz, T. 149 (aufbl.) bis zum Ende des Satzes

            +  Neunte Symphonie, 4. Satz, Beginn bis T. 30 (ab T. 28 ausbl.)

 

Die Tuttifelder zu Beginn des Finales überziehen die Hörer mit dissonantem Ungestüm, als sollten Mauern aus Gleichgültigkeit und Harthörigkeit zum Einsturz gebracht werden. Eine Klangkaskade, um ein »ganzes Zeitalter in die Schranken« zu fordern, und ein schockhafter Kontrast zur Seelenlandschaft des dritten Satzes. Bestürzend noch immer die zeitdiagnostische Schärfe dieses Beginns. Sie findet man auch bei Schiller, der die in den »Individuen« zersplitterte »Gattung« in ihrer Entfremdung entlarvt. Dass mit der Verkümmerung des Einzelnen im arbeitsteiligen Getriebe »allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt« wird, wird zum Symptom der Epoche.

»Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus«, »anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen«; ein bloßer »Abdruck seines Geschäfts«.

Schillers Zeitkritik von 1793 hatte sich für Beethoven rund 25 Jahre später nur noch verschärft. Eine mehr und mehr vom Industrialismus, vom Geldfetisch und von Konkurrenz dominierte Gesellschaft, gestützt auf Militär und Beamtenschaft, stabilisiert durch Überwachung und Zensur des Metternich-Regimes: diese Szenerie ist beim Finale der Neunten Symphonie mitzuhören. Vor allem bei seinem von Wagner als »Schreckensfanfare« empfundenen Beginn: Memento einer negativen Wirklichkeit und Signal zur Umkehr in einem.

In der Alla marcia-Partie des Finales nun demonstriert Beethoven ein Musterbeispiel, wie sich der realistische Blick auf die Zeitumstände mit dem idealen Schwung der Neunten Symphonie kreuzt.

 

Bspl. 13: Neunte Symphonie, Finale, T. 331 bis T. 374 (ab T. 367 ausbl.)

 

Noch einmal setzt Beethoven das marschhafte Idiom bekenntnishaft in Szene: im Namen republikanischer Öffentlichkeit. Schon die »Türkische Musik« erinnert mit ihrem Instrumentarium von Großer Trommel, Becken und Triangel an die Freiluftmusik der Französischen Revolution. Mag der marschhafte Aufbruch des Alla marcia auch gegen den Tritt laufen: der Ansporn des Tenors, »Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen« lässt einen strahlenden, zielgewissen Durchbruch erwarten.

 

Bspl. 14: Neunte Symphonie, Finale, T. 359 (aufbl.) bis T. 448 (ab T. 444 ausbl.)

 

Doch es kommt anders. Während des folgenden Fugatos zersetzen die aneinander sich abarbeitenden Stimmen mit der thematischen Substanz auch die Basis ihrer Antriebskraft. Das marschmäßig rhythmisierte Thema der Freude, das motivisch verdichtet das Fugato wie eine ethische Leitidee durchziehen sollte, wird bis zur Eintaktigkeit aufgerieben.

 

Bspl. 15: Neunte Symphonie, Finale, T. 485 (aufbl.) bis T. 525, erstes Viertel (ab T. 518 ausbl.)

 

Kurz vor dem endgültigen Verschleiß dann die Entrückung des Freudenthemas - oder was davon übrig geblieben ist - nach h-Moll, in die Ferne. Im Pianissimo und buchstäblich in letzter Minute. Oder sollte man besser sagen: in höchster Not? Ihrer Verbürgtheit entzogen steht für einen Augenblick die sittliche Signatur des gesamten Satzes auf dem Spiel.

 

Bspl. 16: Neunte Symphonie, Finale, T. 520 (aufbl.) bis T. 540 (ab T. 538 ausbl.)

 

Schließlich eine ruckartige Weitung zum Fortissimo-Tutti des »Freude, schöner Götterfunken«. Eine Euphorie der Wiederkehr in D-Dur. Allerdings, kein Phönix ohne Asche: dem Auflösungsfeld kann die Musik nur noch unter Aufbietung einer massiven Beschwörungsrhetorik standhalten.

 

Bspl. 17: Neunte Symphonie, Finale, T. 526 (aufbl.) bis T. 550 (erstes Viertel) (T. 546 ausbl.)

 

Zudem kommt eine weitere Beschwörungs-, eine Legitimationsrhetorik ins Spiel. Dass der Beginn des Alla marcia der vorangehenden Variation mit ihrer Verklärung des göttlichen Namens scharf, gar blasphemisch kontrastiere, ist eine Täuschung. Im Gegenteil: zumal die göttliche Aura ist es, die den Appellcharakter des »Alla marcia« aufs Entschiedenste bekräftigt.

 

Bspl. 18: Neunte Symphonie, Finale, T. 321 bis T. 340 (ab T. 337 zügig ausbl.)

 

Obzwar durch eine Generalpause getrennt, ergeben sich gerade über die Generalpause hinweg vielfältige harmonische und motivische Bezüge. Bezüge zwischen der von sakraler Hoheitssymbolik bestimmten oberen, göttlichen Region und der zum geschichtlichen Naturgrund säkularisierten unteren des Marsches. Die Generalpause markiert zwar einen Umschlag, einen Ort der Verwandlung, aber eben nur in engem Bezug zur göttlichen Sphäre. Von dieser Sphäre aus wird der krude Ton zu Beginn der Marsch-Sektion belebt und zum geschichtlichen Triebgrund aufgeladen.

Gott und Geschichte, Ethos und Konkurrenz, Perfektibilität und Fortschritt: philosophische Grundmuster schon der Aufklärung. Und auch bei Kant finden sich die Motive Beethovens an einer prominenten Stelle seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht: die Motive von der bildenden Kraft des Antagonismus und von der regulativen Gottesidee, dem Schlussstein der Konstruktion des Sittlichen.

Der »Antagonismus in der Gesellschaft«, die »ungesellige Geselligkeit der Menschen«, mit der »Neigung, sich zu vergesellschaften« und zugleich »sich zu vereinzeln«, stellt »das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen« in den menschlichen Vermögen »zu Stande zu bringen«. »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht«.

Fluchtpunkt dieser Vollendungsvision bleibt die Zuversicht, die »Zwietracht« werde am Ende doch die »Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung«. Kant interpretiert den gesellschaftlichen Antagonismus zum Motor des kulturellen Fortschritts, mit dem Ziel einer Verwandlung der Gesellschaft in ein »moralisches Ganzes«. Wobei gerade diese Zweckgerichtetheit die »Anordnung eines weisen Schöpfers« vermuten lässt, jene göttliche Instanz eben, die Beethoven unmittelbar vor Beginn des Alla marcia postuliert. Denn

»ohne einen Gott (...) sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung«.

Auch wenn die göttliche Instanz das irdische Treiben im Sinn einer regulativen Idee überhöhen soll: mehr noch kommt es darauf an, die göttliche Transzendenz in die weltliche Immanenz der Geschichte einzuholen; der Geschichte also die Kraft göttlicher Vernunft als säkularen Endzweck zuzubringen. Befördert durch die Rivalität der Individuen in der ökonomischen Arena – der Triebkraft der Annäherung an eine »vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung«. Diese Verstrebung von Transzendenz und Geschichte komponiert Beethoven aus.

 

Bspl. 19: Neunte Symphonie, Finale, T. 325 (aufbl.) bis T. 550 (ab T. 545 ausbl.)

 

Wie Geschichte in das Alla marcia eindringt, zeigt die modulatorische Unrast des Fugatos und seine Dynamik der Reduktion zur Genüge. Die martialische Rasanz der gegeneinander geführten und einander verfolgenden Stimmen entfaltet sich zum ästhetischen Gleichnis des liberalistischen Wirtschafts- und Konkurrenzgefüges. Mit dem Enthusiasmus des »Laufet, Brüder!« als der ihr gemäßen Losung. Allerdings zeigt Beethoven, dass dem Emanzipationsgedanken Kants, Herders oder Schillers so ohne weiteres nicht mehr zu trauen ist. Dem Gedanken also vom »Antagonismus der Kräfte« als dem »großen Instrument der Kultur«, das »die Gattung zur Wahrheit« führen soll. Zu sehr hatten Profitstreben und Gewinngier bereits den Kampfplatz der individuellen Privatinteressen okkupiert, als dass die Hoffnungschiffre »Elysium« noch mit der Sicherheit der Ankunft zu verkünden gewesen wäre.

Bis zuletzt ging Beethovens Wunschproduktion von einem Einheitsbegriff der Person aus, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Mittlerweile sind solche Voraussetzungen unhaltbar geworden. Das heroische Subjekt der klaren Konflikte und Postulate ist passee. Wo wären im gegenwärtigen »Abstrakt des Ganzen«, wie Schiller das schon 1795 nannte, das Subjekt; und wo sein Widerpart, die Gesellschaft? Wo das Allgemeine und wo das Individuelle? Wer heute das Wort Subjekt oder, eine Etage tiefer, das vom Individuum in den Mund nimmt, muss der Verspannung dieses Subjekts in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechnung tragen, die einander nicht nur durchdringen, sich überlagern und widersprechen, sondern schizophrene Bewältigungs- und Entlastungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen.

Was aber kann multiplen Psychen, die gelernt haben, widersprüchlichste Denk- und Handlungsweisen unter einen Hut zu bringen, noch die Direktive moralischer Autonomie bedeuten? Was die Einheit der Gattung? Vom historischen Kern der Neunten Symphonie einmal abgesehen: dass in ihr etwas mehr komponiert ist als das Gedankenarchiv der Philosophie ihrer Zeit, resultiert allein schon aus dem Unterschied zwischen der argumentativen Logik des Begriffs und der affektiven der Musik. Auch wenn dieses Mehr heute vielleicht nur noch darin liegt, das funktional durchtrainierte Ego wenigstens für Augenblicke zu verunsichern.

Beethovens Neunte Symphonie – ein Zeugnis der Zerrissenheit und des Widerstands in einer Gesellschaft gefesselter Alltäglichkeit damals wie heute. Vielleicht wäre auch das eine Möglichkeit der Auseinandersetzung - über die Distanz hinweg. Eingelöst wird sie in Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis, wenn eine Textur aus bedrohlichen Signalen schließlich die Final-Fanfare der Neunten Symphonie freigibt. Wirkt Beethovens Appell, vom katastrophischen Kontext abgeschwächt, darin eher wie ein nachdrücklich werbendes Postulat, mit besänftigender Wirkung auf die Musik: beunruhigend wird das Beethoven-Zitat als tönender Spiegel. Als ein Spiegel, in dem Gegenwart auf Vergangenheit antwortet. Doch auch das wäre weiter nicht sonderlich irritierend. Antwortende Spiegel kennt man schließlich aus dem Märchen. Beklemmend wird es erst, wenn der Spiegel selbst beginnt Fragen zu stellen – etwa die, was denn wohl die Gegenwart vor Beethoven bedeutet.

 

Bspl. 20: Zimmermann, Photoptosis  (SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ernest Bour)

                                   (Ausschnitt mit Beethoven-Zitat)

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