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  Fragment

        Torso

 Bruchstück

Neue Musik - Modelle des Offenen

DeutschlandRadio Berlin (2004)

Bspl. 1: Luigi Nono, Fragmente – Stille, An Diotima für Streichquartett (LaSalle Quartett)

                                      

A         «Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.»

B         In der Götzen-Dämmerung hat Nietzsche formuliert, was rund 90 Jahre zuvor mit der frühromantischen Kritik an Vermittlung und Mitte, an Zentrum und Zen­tralismus die Geschlossenheit von Sinn und Form auch im Bereich der Ästhe­tik zu brechen begann. System und Organismus wurden als Totalitätsfantasien auf ihre Abwehrmanöver dem gegenüber durchschaut, was anders war als die Synthese einer runden Einheit, nachdem Hegel zum letzten Mal und gleich­sam ex cathedra das Ideal des Ganzen gegenüber der Vereinzelung der Teile zum Vollkommenen aufgewertet hatte. Auch Hegel konnte die Emanzipa­tionstendenzen des Einzelnen gegenüber dem lückenlosen Diskurs der Ver­mittlung nur als Putsch des Partikularen und mit Symptomen des Verfalls und der Krankheit diagnostizieren.

Doch rügt bereits Friedrich Schlegel an der «schlechthin verwerflichen [...] systematischen Form», sie halte zu unnachgiebig am «fixierten ð¢í» fest, an der «beharrenden Endlichkeit» also, und verhindere damit die Verflüssigung zum Offenen. Und Hölderlin, von dem sich Luigi Nonos Streichquartett Frag­mente – Stille. An Diotima inspirieren ließ, greift zur gleichen Zeit den Starrheits- und Herrschaftsvorwurf gegenüber monistischen und monotheisti­schen Hierarchiemodellen auf, wenn er fordert:

A         Es ist die «erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, dass keine Kraft monarchisch sei im Himmel und auf Erden».

 

Bspl. 2: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima

 

B         Wann und warum aber wird der Gedanke des Fragments virulent? Und vor al­lem: was war zerbrochen und was sollte gebrochen werden?

Es ist kaum verwunderlich, dass die Begriffe vom «Bruchstück» und vom «Fragmentarischen» zentral in einem Initialtext der frühen Moderne aufschei­nen, nämlich in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Men­schen von 1795. In einem Text also, der darauf reagiert, wie sich inmitten zu­nehmend unberechenbarer Konkurrenz- und Marktdiktate die Ideen von hu­manem Fortschritt und mündiger Gesellschaft zu entzaubern beginnen. Dass mit dem Konkurs jener transhistorischen Vernunft, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln konnten, Kontinuität in die isolierten Eigenzeiten des Ichs, seine Fantasien und Gegenwelten, und in die Zeit des funktionalistischen Weltgetriebes zerbricht, sieht Schiller mit illusionsloser Schärfe. Er vergleicht den modernen Staat mit einem «kunstreichen Uhrwerk»,

A         «wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein me­chanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung ge­schieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben [...], sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrie­ben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält.»

B         Natürlich schreibt sich Schillers Diagnose im Zeichen des Verlusts vom Organis­musgedanken der griechischen Antike her. Wie groß deshalb die Diffe­renz seines Urteils zu Fragmentreflexionen des zwanzigsten Jahrhunderts ist, verdeutlicht George Batailles nietzscheanisches Credo in L´Expérience inté­rieure:

A         «Sich nicht mehr als ganzen wollen ist für den Menschen das höchste Ziel (...), befreit (...) vom Bedürfnis, nach dem Vollkommenen zu schielen».

B         Endgültig verdächtig geworden waren inzwischen die Totalisierungs- und Run­dungsgesten mit ihren Sicherheitsrenditen und Risikoverweigerungen – hieß das Risiko nun Zufall, Verausgabung, Chaos oder Subversion. Und es ist ge­rade die Kunst der Moderne, die diese Desillusionierungsarbeit forcieren wird.

 

Bspl. 3: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima

 

B         Frangere: brechen, zerbrechen, aufbrechen – aus dem Ganzen ausbrechen. In Luigi Nonos Streichquartett bedeutet Fragmentierung die Sprengung eines die Jahrhunderte hindurch geschlossenen, durch und durch vermittelten musi­kalischen Diskurses und bezieht sich darin auf Hölderlins Unterhöhlung der hypotaktischen Syntax und ihrer Folge-Hierarchie von Haupt- und Nebensät­zen.

A         «Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten an­gehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.»

B         Hölderlin thematisiert hier den Wendekreis der Sprache in Richtung einer Locke­rung und Dekonturierung von Vermittlung und Synthesis. Denn erst wenn der Kitt der diskursiven Logik porös wird, kann sich das Werk dem öff­nen, was nicht in der Idee der Geschlossenheit aufgeht. Dem also, was das Werk ausschließen muss, um die Idee der Geschlossenheit etablieren zu kön­nen.

Seitdem die Einheit des cartesianischen Subjekts im «Cogito, ergo sum» vom Einbruch des Unbewussten gespalten wurde, gab es genügend Desillusionie­rungen organischer Ganzheitskonstruktionen – bis hin zum mathematisch strengen Beweis Kurt Gödels von der Unmöglichkeit lückenloser Systeme. Und auch ästhetisch nahmen die Verfahren zu, die homogenen Deutungs- und Organisationsfilter der Totalität um des Heterogenen willen zu demontieren.

Einst hatte der Organismusgedanke in seiner Dreifaltigkeit von Natürlichkeit, Schönheit und Wahrheit, gerichtet gegen die Künstlichkeit der Kunst und ge­gen die Aufdeckung der Genese der Werke, Kunst und Metaphysik vereint: über die Aura eines Kults des Geistes als eines Kults des Vollkommenen. Dass freilich «das Vollkommene [...] nicht geworden sein [soll]», konnotiert der Genealoge Nietzsche im Bereich des Ästhetischen mit «mythologischen» Re­likten: mit Schöpfungsfantasien und mit der «Illusion» des Kunstwerks als Schein. Solchen Phantasmagorien

A         hat die «Wissenschaft der Kunst [...] auf das bestimmteste zu widersprechen», um «die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft».

B      Nietzsches Plädoyer für die «wissenschaftliche Hingebung an das Wahre» ge­gen eine Künstlerpsychologie des «Fantastischen», «Mythischen» und des «Symbolischen» samt der «Überschätzung der Person» und des «Glaubens an etwas Wunderartiges im Genius» nimmt Tendenzen vorweg, die in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielen: zumal in der Brechung von Totalisierungs- und Ganzheitssehnsüchten.

Von der fragmentarischen Struktur als einer Subversion des Ganzen und einer Figur der Öffnung und des Offenen her aber spannt sich der Bogen zurück zu Hölderlin, dessen Korrespondenzen zwischen einer ihrem Bild nach zersplit­terten Antike und der Entzauberung des Abendlands und seiner Mythen sich als reihende Fügung in die Form seiner Lyrik hinein verlängern. Deshalb nahm Nono in seinem Streichquartett auf Hölderlins Verfahren Bezug, die Syntax zu fragmentieren und zu zerrütten: mit Methoden jener Parataxe, die Hegel noch abwertend dem Neben-, Nach- und Außereinander der Natur zuwies. Die Vermittlungsarbeit und ihre diskursive Logik zu stören, geschieht indes vorran­gig in der Absicht, gegen den Ausschluss des Naturhaften die naturhafte Basis des Geistes zu restituieren. Bei Nono in der Emanzipation der Stille und damit des Unhörbaren gegen das Hörbare, bei Lachenmann dann in der Emanzipa­tion des Materials als des unreinen, geräuschhaften Tons aus seiner knechti­schen Funktion, schließlich in Reudenbachs (Bruch)stück(en) als der dritten Komposition dieser Sendung in der Befreiung des musikalischen Diskurses zum Antidiskurs der Momente.

 

Bspl. 4: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima

 

B         Nonos Streichquartett Fragmente - Stille, An Diotima, komponiert zwischen Juli 1979 und Januar 1980, zelebriert keinen Kult der Verinnerlichung im Sinn von Rilkes «Nirgends wird Welt sein als innen», auch wenn die Musik aufgrund ihrer hauptsächlich zwischen einfachem und fünffachem Piano angesiedelten Dynamik immer wieder mystisch eingefärbt scheint. Am ehesten lässt sich der Formenkreis der Empfindung in Nonos Streichquartett wohl an der Charakteri­sierung der Fermaten durch den Komponisten zu Beginn der Partitur ablesen:

A         «Die Fermaten sind immer verschiedenartig zu empfinden mit offener Fantasie für träumende Räume, für plötzliche Ekstasen, für unaussprechliche Gedan­ken, für ruhige Atemzüge und für die Stille des ‹zeitlosen› ‹Singens›.»

B         Wenn Nono die Musik immer wieder auf langen Fermaten Atem schöpfen lässt, wird klar, wie sehr es seiner Komposition der «plötzlichen Ekstasen» auch um Suspension geht. Um den ‹ruhigen Atem› der Suspension und um den befreiten Augenblick. So als könnte die atmende Verschwendung der Zeit die atemlose Vernichtung des Jetzt im ökonomischen Furor wie in einem Spiegel entlarven. Während das herkömmliche Meisterwerk auf Geschlossen­heit zielt, interessiert sich Nonos Musik für Spuren ins Offene – entlang einer Bahn minimaler Abweichungen, Wandlungen und Zwischentöne, die gehört werden wollen: im Sinn einer sensiblen Aufmerksamkeit gegen den Funktiona­lismus präformierter Hörnormen und im Sinn eines Umbruchs von innen her, den Kant in der Maxime des «Revolutioniere dich selbst!» fasst.

 

Bspl. 5: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima

 

B         Eine andere Facette in Nonos Kunst der Andeutung und leisen Überredung zeigt sich darin, dass sein Streichquartett Zitate und damit selbst wiederum Fragmente aus Hölderlin-Gedichten als Subtext in die Partitur einlässt und über ihre Unhörbarkeit ein subtiles Spiel der Abwesenheit in der Anwesenheit entfaltet. Eine hintersinnige Metapher für die verkannten Möglichkeiten des Jetzt und Hier einer Zeit, in der sich Wirklichkeitsterror und Weltverlust ergän­zen. Gleichwohl illustriert die Musik die Zitatfragmente Hölderlins nicht. Sie repräsentieren vielmehr, so Nono,

A         «schweigende ‹Gesänge› aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln», ge­gen die Intention, «‹entschieden der Hoffnung das Lebewohl›» zu sagen. «Die Ausführenden mögen sie ‹singen› ganz nach [...] dem Selbstverständnis von Klängen, die auf ‹die zarten Töne des innersten Lebens› hinstreben.»

B         So wird Nonos Musik der Stille selbst zum offenen Ohr für leiseste Resonan­zen und Echos – und zum Resonanzboden für Unhörbares, Überhörtes, Uner­hörtes; im Vertrauen auf die Imaginationskraft des Gehörs und auf die «Exterio­risierung eines Maximums von Interiorisierung», wie Nono das 1983 in seinem Genfer Vortrag zum Streichquartett formuliert hat.

Nono weiß um den Sog des Sinns und versucht deshalb anstelle seiner ab­strakten Negation eine Art obsessiver Erosion von Bindungs- und Verbin­dungsstrategien. Indem die Partien der Stille denen des Klangs gleichberech­tigt sind, steigern sie das Eigenleben der gereihten Momente in einem diskon­tinuierlichen Kontinuum, das eher auf Assonanzen und Korrespondenzen setzt als auf stringente Vermittlung, eher auf prälogische Gedankenflucht als auf strenge Entwicklung und damit weniger auf die Unterwerfung der Zeit als auf ihren losen Gang. Der gleitende Diskurs in Nonos Streichquartett entgleitet und lässt entgleiten; auch wenn die Absicht, die Direktive des Ganzen frag­mentarisch zu brechen, fraktale Brechungen erzeugt, die sich schließlich zur Selbstähnlichkeit der Struktur als einer unentwegten Wiederkehr von Stille, Haltetönen und expressiv-gestischen Figuren entäußern – inmitten des Wech­sels, um mit Hölderlin zu sprechen, zwischen einer «reißenden» und «bleier­nen» Zeit.

 

Bspl. 6: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima

 

B      Stabilisierte die Organismusidee des traditionellen Werks als geschlossenes System die Omnipotenz des Formgedächtnisses, dann bricht die fragmentari­sche Struktur diese Omnipotenz, indem sie die Grenzen des Sinns auslotet. Wie weit kann, ja muss man gehen, bis der Sinn des Ganzen und der Teile zerfällt? Schon Aristoteles definierte ja den Begriff des Organismus unter der Prämisse äußerster Notwendigkeit:

A      «Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil um­gestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.»

B        Von solchen Konstruktionsidealen, denen zufolge jedes Detail unverrückbar durch die «Idee des Ganzen» bestimmt ist, hat sich die Neue Musik weitge­hend verabschiedet. In ihren variablen Formen können Teile wegbrechen, ver­schwinden oder umgruppiert werden, sie können unhörbar, unspielbar bleiben, ohne dass das Ganze aus den Fugen geraten müsste.

Das Offene zumal musikalischer Fragmentstrukturen liegt darin, dass die frakturhafte Reihung ihrer Momente nicht begrenzt scheint. Sie läuft auf den Horizont des Approximativen zu – ohne Anfang, ohne Ende, ausschnitthaft und nachdrücklich in jedem Augenblick. Musikalische Fragmentstrukturen nei­gen zu Formen,

A        «die immer schon angefangen haben und unbegrenzt so weiter gehen könn­ten».

B       Diese Kennzeichnung Karlheinz Stockhausens verweist auf die Nähe zwi­schen komponierten Torsi und dem, was Stockhausen schon 1960 als «Mo­mentform» charakterisiert hat. Das Momenthafte und Jetztzentrierte der musi­kalischen Fragmentform treffen sich mit einer Musik, die

A        «sofort intensiv» ist «und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetz­ter ‹Hauptsachen› bis zum Schluss durchzuhalten» sucht.

B         Auch fragmentarische Formationen tendieren dazu, jeden ihrer Momente zum Mittelpunkt zu machen, um den Augenblick als Augenblick gegen dessen funktionale Verspannung in die Folgerichtigkeit der Folge ernst zu nehmen. Darin gleichen sie Strukturen, in denen

A         «nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird, sondern als ein Persönliches, Selbständiges, Zentriertes, das für sich bestehen kann».

B         Erst eine Musik aber, die sich nicht mehr dafür interessiert, «ob Fortsetzungen ‹zwingend›, Konklusionen ‹schlüssig›, Anschlüsse ‹logisch›, Kontraste ‹stark›, Spannungen ‹aufregend› und Schlüsse ‹endgültig› genug komponiert» seien, kann den Gang ins Innere der Zeit vollziehen. Einen Gang, den Nonos Streichquartett mit Hölderlin zu einer Korrektur des formdogmatischen «Tri­umphs der Zeit» umdeutet: im Namen einer Freiheit, die mit der Abkehr von der entwicklungspsychologischen Bühne der Affekte eine zeitliche Dichte er­zeugt, in der alle Momente ein gleichbleibendes Höchstmaß an Ausdruck ge­winnen. So sucht auch Nonos Streichquartett mit der Aussetzung der Vermitt­lungshierarchien des musikalischen Diskurses und mit der Tilgung entwick­lungsträchtiger und finaler Schemata jenes befreite Jetzt zu gewinnen, das den Begriff der Dauer überwindet: Gegen die Dramaturgie von Erwartung und Erinnerung und im Zeichen einer «Ewigkeit, die [...] in jedem Moment erreich­bar ist».

 

Bspl. 7: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima

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B         Zwar erbt sich bei Nono wie in vielen Fragmentkompositionen die Zeit des ge­schlossenen Werks, dessen Kontinuität jede andere ausschließt, an die Orga­nisation der Momente fort. Dennoch wird die Totalität als Einheit des Sinns von innen her auf eine Weise zerklüftet, die der Musik erst jetzt ermöglicht, sich dem vormals Kunstfremden von Material- und Geräuschhaftem zu öffnen. Etwa bei Helmut Lachenmann.

Lachenmanns Destruktion ästhetischer Normen, seine verfremdeten Spiel- und Artikulationstechniken wollen als kompositorische Gedankenarbeit das Hören auf eine «Schönheit» hin hellhörig machen, «die sich nicht abfindet». Seine Musik der unablässig komponierten Unvorhersehbarkeiten und des Verfemten treibt die Bedeutung aus dem materialen Inneren des Klangs her­vor. Erst solche Brechungen des reinen Tons aber entlarven das gängige Reinheits- und Schönheitsideal als Verarmung und geben Leerstellen und nicht-signifikanten Zuständen Bedeutung für einen freien und befreiten Dis­kurs. So in Lachenmanns Gran Torso von 1971, wo

A         ein «großes Ritardando [...] in Etappen – über das mechanische Sägen, das ner­vöse Hin- und Herfahren, das weit gedehnte Quasi-Aus- und Einatmen – gespreizt und zelebriert wird bis zum Stillstand. Als Resultat [...] bewirkt dieser Vorgang [...] einen magischen Zustand, der [...] völlig offen ist zur nackten Rea­lität der Zeit». «Hier in der Bratschenstelle von Gran Torso» wird dieser «Zustand der Schutzlosigkeit» von der «‹kaum noch atmenden› Stille magisch bewacht». «Mir liegt bei dieser Stelle vor allem an der Deutlichkeit der Abstu­fung von ‹Stille› und ‹Leere›. Der Stillstand ist kein ‹morendo›, sondern be­deutet einen weiteren qualitativen Sprung. Er ist mehr als die gefärbte Stille zuvor: er ist Leere. Hier sind wir endlich im Zentrum einer unberührten Wüste. Die emotionale Wirkung [...] habe ich nicht inszeniert, sondern sie ist ‹gelun­gen› bei der Absicht [...] die Musik ‹auf Null zu bringen›»; «hier praktiziert gleichsam im heiteren Spiel: es ist eine glückliche Musik». «Heiter, wie sie sich versteht, macht sie Ernst»; «das Stück geht weiter, endlich Nicht-Musik ge­worden. Fast möchte ich denken, bis dahin war die Komposition nur ein einzi­ger Exorzismus, um endlich befreite Musik schreiben zu können.»

 

Bspl. 8: Helmut Lachenmann, Gran Torso. Musik für Streichquartett (Berner Streichquartett)

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B         Lachenmanns Ausführungen erinnern an jene Fülle und Freiheit der Leere und des Leeren, wie sie seit Nietzsche und Hofmannsthal zumal für eine von der Gewalt des Urteils befreite Sprache ersehnt werden. Sprache als Nicht-Spra­che; Musik als Nicht-Musik, um gegen die kulturellen Konventionsmuster zum materialen Grund als der Matrix von Sprache vorzudringen und damit zu einer Region jenseits der Herrschaft der Codes als einer Region der Erschöpfung des Sinns. Lachenmanns lange, dicht am Geräusch und am Tonlosen lie­gende Partien wirken deshalb wie das Rauschen einer unbekannten Sprache, deren Zeichen von semantischer Bedeutung frei, aber mit Materialität und sinnlicher Präsenz geladen sind.

Vor allem aber markiert Lachenmanns musikalische Fragmenttechnik, wie lange die europäische Musik des reinen Tons selbst Fragment war, indem sie das Körperhafte und Stoffliche um der Reinheit willen ausgeschieden hatte. Aus Nietzsches Satz «Das Vollkommene soll nicht geworden sein», zieht Mu­sik erst spät ihre Konsequenzen. Der auf seine materiale Seite hin befreite Ton jedoch erzeugt über die Transformation gängiger Schönheits- und Natürlich­keitsbegriffe eine andere Dimension von Wahrheit: Wahrheit nun nicht mehr gedacht als eine metaphysisch unbefleckte Idee, sondern gedacht über einen Geist, der sich als sublimierte Natur erkennt.

B         Fragmentieren als Aufbrechen von Grenzen und als Aufbruch ins Offene bedeu­tet im Fall von Lachenmanns «musique concrète instrumentale», die Ausgrenzungs- und Eingemeindungsdirektiven des Zivilisationsprozesses zu­rückzunehmen, um einzulassen, was dem Tabu seiner Totalisierungsgewalt zum Opfer fiel. Als Bedeutungsträger aber emanzipiert sich das Material von seinem  Status als bloßes Material. Wie Cage den Ton als einen Sonderfall der Stille denotiert, so denotiert Lachenmann den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs.

            Erfahrbar wird der Zusammenhang zwischen der Materialbasis des Klangs und dem musikalischen Diskurs: Ein Stück ästhetischer Metaphysikkritik, so­fern Sinn von seinem stofflichen Träger ebenso wenig zu trennen ist wie die ‹Botschaft› von ihrem ‹Medium›. Dass Musik die Physis des Klangs zu einer strukturellen Kraft emanzipiert, verabschiedet den Platonismus der Reinheit des Tons und der reinen Idee. Klang verstanden als «Nachricht seiner Hervor­bringung und der dabei mitwirkenden mechanisch-physikalischen Bedingun­gen» hebt die Hierarchie zwischen Geist und Stoff auf. Gran Torso aber heißt das Stück,

A         «weil all die strukturellen Bereiche, die [darin] berührt werden, deutlich die Mög­lichkeit in sich tragen, selbständig in sich weiter fortentwickelt zu werden».

B         Die Idee einer in sich autarken Logik des musikalischen Werks, das seine Not­wendigkeit aus Freiheit erzeugt – mit Beethoven als Höhepunkt –, wird in fragmenthaften Formen von der Differenz der Risse als scheinhaft entlarvt. Dass indes die Offenheit der musikalischen Form auch den Prozess des Hö­rens umwertet, liegt auf der Hand. Steht die organische Totalität des Werk­kosmos in Wechselwirkung mit dem Modell der Einheit des Subjekts, das sei­nen Gesetzen gemäß ausklammert, umformt oder eingemeindet, dann zer­bricht in den Frakturen fragmenthafter Organisationen die Affekt- und Gedan­kenbühne personaler Identität ebenso wie die Erfahrung des Weltkontinuums. Die Spiegelwände, die das musikalische Subjekt zwischen 1600 und 1900 sei­ner eigenen emotionalen Ortung wegen aufgezogen hatte, werden in dem Au­genblick blind und rissig, als die Idee der Teleologie insgesamt porös wird. Als Habitus einer Ordnung von Investition und Rendite wird der Gedanke perso­naler Einheit ästhetisch unhaltbar. Und mit ihm Zeitkoordinaten wie die von Notwendigkeit und Zufall, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Kausali­tät und Abweichung oder die der Erfüllung und Enttäuschung von Erwartungs­horizonten.

Zeit als ein in den Gedächtnisspuren des Vergleichens, Unterscheidens, Ver­gessens und Erinnerns entfaltetes Bewusstsein weicht in fragmenthaften Strukturen einem Zeitfeld der Risse. Mit der Abkehr von zielgerichteten For­mationen, die die Einzelmomente in Funktionsträger einer Idee verwandeln, schärft sich Musik zu einer ausschnitthaften Textur, die den Synthesis­anspruch und die zentrale Sinnmacht des ästhetischen Subjekts absurd und vermessen erscheinen lässt: in der Abkehr von einem Fundamentalismus des Zeitbewusstseins, der eng mit dem Identitäts- und Eigentumsprinzip ver­schwistert ist, dem des Identifizierens und Verbuchens. In der Abkehr aber auch von einem Sinngebot des Linearen und jenen Instanzen des Früher und Später, des Ersten und Folgenden, die Nietzsche als Regulative einer Ver­schwisterung von Zeit und Moral entlarvt hat. Ein Hörbewusstsein, das ständig kausalorientierte Sinnbezüge setzen will, gleitet an der akausalen Energetik einer Musik der offenen Zeitstrukturen ab. Die herkömmliche Präsenz struktu­reller musikalischer Wahrnehmung im retentionalen Bewahren des unmittelbar Vergangenen und im protentionalen Vorgriff auf ein perzeptiv schon Erahnba­res verschwindet im organisierten Fragment immer wieder in den Wüsten des Sinns. In dieser Offenheit liegt zugleich eine Unabhängigkeit von der Schick­salsmacht Zeit und der Verwechslung von Zeit und Ökonomie. Musik definiert sich nicht mehr darüber, Zeit triumphal in Regie zu nehmen, sondern öffnet sich der Zeit – etwa in weiten Stille-Partien mit dem plötzlichen Auftauchen und spurlosen Verschwinden von Momenten.

Damit wird die fragmentarische Konzeption zu einem Transfer ins Offene. Und zu einer Rebellion gegen die Zeit als Aufschub im Sinn von Stockhausens «Momentform». In jedem Augenblick angekommen zu sein, ist eine der Inten­tionen musikalischer Fragmentstrukturen. Daher auch die Nähe des Frag­ments zum Moment, dessen Begriff für Michael Reudenbachs Komposition (Bruch)Stück(e) aus dem Jahr 1999 eine entscheidende Rolle spielt:

A         «- - - eine Folge musikalischer Momente - - - mich meiner Aufgabe stellend, ein Stück(?) / viele Bruchstücke(?) zu schreiben, dabei Bezug- und Zusam­menhangstiftendes befragen - - - den Spalt zwischen dem einen und dem an­deren Moment als gegeben hinnehmen (eben als eine zufällige Folge von Bruchstücken) - - - einer Folge von Momenten einen Zusammenhang zu ver­leihen (ein Stück!) hieße, den Spalt zwischen dem einen oder anderen Mo­ment mit Ahnungen, Vermutungen und Erfindungen auszufüllen - - - fixierte Momente, nachträglich zusammengefügt = ein ‹Ganzes›? - - - Zielgerichtetheit musikalischer Prozesse?».

 

Bspl. 9: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) für Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello (ensemble recherche)       

 

B        RCA RED SEAL 74321 73595 2RCA RED SEAL 74321 73595 2Dass Reudenbach die «Zielgerichtetheit musikalischer Prozesse» problemati­siert, berührt eine Leitidee des Fragmentarischen, das mit der Aushöhlung des linearen Zeitstroms den finalen Typus der Musik radikal umwertet und sich der Möglichkeit öffnet, Zeit gleichsam von außen zu denken: in einer Musik, die die Kontroll- und Wachsamkeitsgebote lockert.

Fragmentarische Strukturen tendieren mit ihrer unvermittelten Reihung von Momenten zum Prinzip der Montage und damit zu einer veränderbaren Kom­binatorik dieser Momente. Das macht die Nähe zwischen fragmentarischen und variablen Formen aus: Anfang und Ende der Musik werden als strukturelle Akzente nahezu bedeutungslos. Musik kann aufhören, wo sie will, und sie kann beginnen, womit sie will. Form entwirft sich als Kombinatorik freier, ver­tauschbarer Momente.

Deshalb kreisen die Fragen Reudenbachs anlässlich der Konzeption seiner (Bruch)Stück(e) untergründig um das Problem des Sinns als den Effekt diskur­siver Vermittlung und um das Problem, was gegenwärtigem Komponieren der Begriff des Ganzen überhaupt noch bedeuten könne.

A         «Meine Arbeit habe ich mit dem Schreiben von Ansätzen begonnen». «Nach ei­ner gewissen Zeit hatte ich viele ‹Anfänge›, unvollendete ‹Mittendrin›-Passa­gen und ‹Schluss›-Fragmente. Keines dieser Stücke schien mit irgendeinem der anderen Stücke in Verbindung zu stehen. Ich habe dann eine Auswahl daraus getroffen und sie in unterschiedliche Zusammenhänge gesetzt. Dabei stellte sich die Frage nach dem Ganzen und nach dem Fragmentierten. Habe ich es mit einem Stück zu tun? Oder habe ich es mit mehreren kleinen, in sich abgeschlossenen Stücken zu tun, die wiederum ein Ganzes ergeben? Oder mit einer losen Folge von kleinen Stücken? Oder sogar nur mit vielen Bruchstücken?»

B         Momente reihen, ohne sie nach Maßgabe einer diskursiven Logik zu glätten, heißt für Reudenbachs fünftes Bruchstück und seine maschinenhafte Stereo­typie ein Dekomponieren organischen Komponierens. Und dies bei einer un­gemildert forcierten Artikulation des Wiederholungsprinzips. Damit erzeugt die Reflexionskraft von Reudenbachs (Bruch)Stück(en), die zeitweise an die Leerläufe der kinetischen Plastiken Tinguelys mit ihren Schrottmontagen und Objets trouvés erinnern, ein Oszillieren zwischen Mechanismus und Organis­mus und die Freisetzung brüchiger Einzelelemente vom Vermittlungsdiktat des Kontinuums.

 

Bspl. 10: Reudenbach, (Bruch)Stück(e)

 

B         Wird in der industriell beschleunigten Massengesellschaft noch das vermeint­lich Vertraute zum Fremden, werden Gefühle zu Versatzstücken, angedreht und wiederholbar, leer und ohne Antlitz, dann liegt ein adäquater Ausdruck solcher Entfremdung in der Formation mechanischer Rudimente. Indem sich jedoch die Wiederholung eingefrorener Gesten einer fragmentarischen Physio­gnomie einschreibt, läuft der subjektive Zeitsinn leer und wird zum Reflex einer Mechanisierung des Lebens, der im Innersten existenzialistisch gemeint und doch von einer slapstickartigen Wirkung nicht zu trennen ist. Schon 1993 hatte Reudenbach deshalb sein Stück duo pianism an der Filmsequenz der außer Kontrolle geratenden Maiskolbenmaschine aus Chaplins Modern Times orien­tiert. In Reudenbachs (Bruch)Stück(en) hingegen thematisieren die mechani­schen Signaturen ein Wesensmerkmal der fragmentarischen Form: das des zurückgenommenen, ja verweigerten Eingriffs.

 

Bspl. 11: Reudenbach, (Bruch)Stück(e)

 

B         Bei Nono, Lachenmann und Reudenbach bleibt die auskomponierte Direktive der Zeit ebenso gewahrt wie die konstruktive Ausformung der Musik. Wenn je­doch das Notwendigkeitsgebot der linearen Zeit maßgebend ist, das jedes Detail im Namen des Ganzen an seinen Ort bannt, somit die diskursive Ab­folge unverrückbar festlegt und bei wiederholtem Hören prophetisches Hören erzeugt: wie wäre dann der Fragmentcharakter innerhalb solcher an der Logik des Werkorganismus orientierter Kompositionen zu hören? Bedeutet der Auf­stand des Teils gegen die Herrschaft der Totalität nicht die unlösbare Abhän­gigkeit des Teils vom Ganzen, solange die dramaturgische Aktrice der Zeit ihre Zuweisungsregie gegenüber den einzelnen Momenten behauptet? Und wirkt der Sog des Werkhaften nicht generell als eine Sinnstiftung der Geschlossen­heit, zumal in einer Musik, die ihren einstmals an der verbalen Sprache orien­tierten syntaktischen Charakter aufgegeben hat?

Inwiefern kann man bei Nono, Lachenmann und Reudenbach also von Mo­dellen des Offenen sprechen? Sicher nicht im Sinn einer Manifestation des Offenen und Unwiederholbaren wie bei Cage oder bei der Konzeption variab­ler Formen. Eher ist bei allen drei Stücken ausschlaggebend, was die Litera­tur- und Sprachwissenschaft «inneres Fragment» nennt. Indem sie das Orga­nismus-Modell, in dem «alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist», intern fragmentieren, brechen Nono, Lachenmann und Reudenbach durch harte Fü­gung und parataktische Reihung das Vermittlungssoll der Werktotalität und damit deren oberstes Prinzip: «Alles, was sich ereignet, soll sich aus dem Vor­angegangenen entwickeln». Überschritten wird der Zusammenhang einer quasi kausalen Progression, bestimmt vom Typus des in sich geschlossenen, durch Beziehungsreichtum ausgezeichneten und in seiner Entwicklung strin­genten Werks, das wie etwas organisch Gewachsenes wirkt.

Fragmentum: Bruch, Brechung, Gebrochenes – damit lässt sich in der Neuen Musik auch jene Zermürbungsarbeit assoziieren, die einer Logik zweiter Ord­nung zuläuft: einer Konstellation von Augenblicken gleich einer Wirkung ohne Ursache – im Unterschied zum kausalen Vermittlungssog einer Logik erster Ordnung. Von hier aus wird Rilkes Gedicht an den Archaischen Torso Apollos von 1908 zu einem künstlerischen Leitbild des 20. Jahrhunderts. In ihm spricht Rilke den ästhetischen Sternenhimmel der Beseelung, den die Ästhetik des Deutschen Idealismus nur von der Ganzheit des Kunstwerks her denken konnte, dem Bruchstück, dem Fragment, dem Torso selbst zu: nämlich jedem Punkt an ihm als einer Intensität des «Omnia ubique», des «Alles ist überall». Und dies in ethischer Wechselwirkung mit dem fragmentierten Ich des Be­trachters:

A         «Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.»

 

Bspl. 12: Lachenmann, Gran Torso

 

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Musikbeispiele

 

 

Luigi Nono, Fragmente – Stille, An Diotima für Streichquartett (Deutsche Grammophon 437 720-2)

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Helmut Lachenmann, Gran Torso. Musik für Streichquartett (col legno AU 31804 CD)

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Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) für Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello (RCA RED SEAL 74321 73595 2)

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