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Alkan

oder

"Polyphem kann auch polyphon sein"

 

Ein Beitrag zur musikalischen Physiognomie des Second Empire

I. Die Szene des Künstlers

 

 

Bspl. 1: Alkan, La chanson de la folle au bord de la mer ( = Préludes op. 31, Nr. 8)

             (Interpretation: Ronald Smith)

Monotonie der Wiederholung; ein in die extremen Lagen des Klaviers gespaltenes Klangbild; eine Motivik, die in sich kreist, zu delirieren beginnt und schließlich zerfällt. Schon 1846, im Erscheinungsjahr der soeben verklungenen Musik, versetzte deren schwermütiger Ton den Kritiker Fétis in Erstaunen und Betroffenheit und veranlaßte ihn zu einer Art Warnung an die Adresse des Komponisten: "Im allgemeinen dominiert in den Kompositionen dieses Künstlers die Schwermut (...) Seine Produktionen sind von einer Traurigkeit, die wohl weniger seine ursprünglichen Talente als den schmerzlichen Zustand seines Gemüts erkennen läßt (...) Nun wird aber die Melancholie nie populär sein". "Die Menge, insbesondere das gewöhnliche Musikpublikum, begreift nicht viel von solcher Musik und gibt sich nicht die Mühe, aufmerksam zuzuhören." Ein Prélude der Trostlosigkeit also, das aufhorchen ließ. Sein Titel: La chanson de la folle au bord de la mer.

 

Virtuose wider Willen

Gut vierzig Jahre nach Veröffentlichung dieser depressiven Stimmungsskizze stirbt am Abend des 29. März 1888 in der Pariser Rue Daru ein exzentrischer Einsiedler. Einer Version nach beim Zubereiten einer Mahlzeit, wohl infolge plötzlicher Herzinsuffizienz. Anderen Zeugnissen zufolge erschlagen von einem Bücherschrank. Der Unglückliche soll ihn zu Fall gebracht haben, als er einen Band des Talmud, der Sammlung jüdischer Gesetzestexte, aus dem oberen Regal zu greifen suchte.

     Wer war der Schöpfer der eingangs zu Gehör gebrachten Chanson de la folle, dieser Eremit, der inmitten des Taumels des Zweiten Kaiserreichs den rigorosen Rückzug praktizierte? Der einem Nachruf zufolge sterben mußte, um auf seine Existenz aufmerksam zu machen? Und der doch zu den bedeutendsten Klavierartisten des 19. Jahrhunderts zählt, als Komponist die Wertschätzung Chopins, Liszts, César Francks, Anton Rubinsteins, Hans von Bülows und Eugen d'Alberts genoß und noch von Busoni zusammen mit Chopin, Schumann, Liszt und Brahms zu den größten Klaviermeistern nach Beethoven gerechnet wurde. Was verhüllt die Aura des Mysteriösen, die diesen Künstler bereits in den zeitgenössischen Quellen umgibt?

     Charles-Valentin Morhange, der sich in Anlehnung an den Vornamen seines Vaters Alkan nannte, wurde 1813 in Paris als Kind jüdisch orthodoxer Eltern geboren. Daß der Vater ein Grundschulpensionat mit Schwerpunkt Musik unterhielt, bringt das Talent Charles-Valentins wie das seiner fünf Geschwister früh zur Entfaltung. Bereits mit sechs Jahren fand das pianistische Wunderkind Aufnahme am Pariser Conservatoire. Während seines rund zehnjährigen Studiums läßt sich die Entwicklung des Hochbegabten am Spiegel seiner Erfolge ablesen. Angefangen von der Auszeichnung mit dem ersten Klavierpreis im Alter von zehn Jahren bis zum kometenhaften Aufstieg des Siebzehnjährigen am Pariser Virtuosenhimmel. Schon während der Ausbildung durch seinen Lehrer Pierre-Joseph Zimmermann, einem Cherubini-Schüler, in die Welt der Salons eingeführt, verkehrt Alkan bald in den Zirkeln um Victor Hugo, Lamennais und George Sand. Hier macht er die Bekanntschaft Chopins, der ihm freundschaftlich verbunden bleiben wird. Bewundert selbst von Liszt steht Alkan am Beginn einer glanzvollen Karriere als Pianist.

Bspl. 2: Alkan, Grande Sonate op. 33 (Les Quatre Ages), 1.Satz,

             Wiederholung des Scherzohauptteils (nach dem Trio) b. z. Ende.

             (Ronald Smith)

 

Doch die Emphase des Aufbruchs, die dem Ausschnitt aus dem ersten Satz von Alkans bekenntnishafter Grande Sonate von 1847 anzuhören ist, wird sich trüben. Und damit die Verve eines Satzes, der das Motto "Vingt Ans" trägt und in den Vortragsanweisungen "Décidément" und "Victorieusement" die Entschiedenheit der siegreichen Geste auch verbal verdeutlicht.

     Alkan verweigert sich nämlich der Rolle des umjubelten Virtuosen. Immer seltener stellt er sich dem großen Publikum, was etliche Kritiker bereits um 1845 registrieren, als Alkan noch in der Künstlerkolonie am Square d'Orléans in unmittelbarer Nachbarschaft Chopins wohnt. Schließlich gibt Alkan im Jahr 1849, das ihn nur eine einziges Mal auf dem Podium sieht, das Konzertieren für nahezu ein Vierteljahrhundert gänzlich auf; wenige Monate nach den blutigen Ereignissen der gescheiterten Revolution von 1848. Inwiefern sich der politischen Katastrophe eine weitere für die Person des republikanisch gesinnten Künstlers gravierende Niederlage verbindet, bleibt noch zu erörtern.

     "Mitunter glaube ich ein Misanthrop geworden zu sein", schreibt Alkan Ende 1849 an George Sand. Unterrichtstätigkeit - Alkan übernimmt nach Chopins Tod eine Vielzahl von dessen Schülern -, religiöse Studien und Komponieren bestimmen von nun an die Zeit der Abgeschiedenheit. Und als Komponist, fast ausschließlich von Werken für Klavier solo, legt Alkan Zeugnis von jener Problematik des Künstlers ab, die die Exzentrik der Biographie auf ihren sozialen Gehalt hin aufhellt und einer nur allzu oft auf den privaten Bereich hin abgestellten Misanthropie die gesellschaftliche Komponente einzieht.

 

Chiffre Faust

Bspl. 3: Alkan, Grande Sonate op.33, 2. Satz (Quasi Faust),

             Ausgabe: Lewenthal 126/I/1-130/I/4

             (Ronald Smith)

 

Der zweite Satz der "Großen Klaviersonate" Alkans, Reflexion des Stadiums des dreißigjährigen Künstler-Helden, trägt den Titel "Quasi Faust". Er basiert auf dem für die Ästhetik des 19.Jahrhunderts brisanten Konflikt zwischen satanischen und göttlichen Kräften; einem Konflikt in der Tradition des triebökonomischen Antagonismus von Geist und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit, Kalkül und Leidenschaft. Als Satanisches aber verschlüsselt sich mit dämonischer Maske die von der Herrschaft des Logos unterjochte und von dessen Zuspitzung zum Diktat der Verwertung geächtete Triebsphäre der Leidenschaft. Sie wird zur nächtlichen Kehrseite des knechtischen Tagesgeschäfts. Ausgeschieden als Verschwendung und Abfall in des Wortes doppelter Bedeutung.

"Es sind in jedem Menschen, zu jeder Stunde, zwei gleichzeitige Strebungen vorhanden, die eine Gott, die andere Satan zugewandt. Die Anrufung Gottes, oder Spiritualität, ist ein Begehren hinaufzusteigen; die Anrufung Satans, oder Animalität, ist eine Lust am Hinabsteigen", notiert Charles Baudelaire in seinen tagebuchartigen Aphorismen. Baudelaire, der den Leidensdruck der gesellschaftlich ausgegrenzten Existenz des Künstlers zur Sprache bringt, desgleichen Flaubert und Berlioz, werden im Fall Alkans zu Kronzeugen. Zu Kronzeugen, die das auch für Alkan verbindliche Credo präzisieren, das die Trennung von "spiritualité" und "animalité" als Wunde der Zivilisation auszutragen verlangt.

     Dementsprechend finden sich auch im zweiten Satz der Grande Sonate sowohl die Erwähnung des göttlichen Namens, "Le Seigneur", wie die Erläuterungen "Le Diable" und "Sataniquement"; jene Trieb-Polarität also, die sich als produktives Movens noch in zahlreichen anderen Werken des Komponisten entdecken läßt und auf biographischer Ebene im Kontrast zwischen Profanem und Sakralem begegnet. So etwas in den bereits angeführten unterschiedlichen Berichten über Alkans Tod mit den zeichenhaften Orten - hier des materiell reproduktiven Bereichs der Küche, dort des spirituellen Bezirks der Bibliothek heiliger Schriften.

     Im "Faust"-Satz der "Großen Sonate" wird die Spannung zwischen Sinnlichkeit und Vergeisterung, Satanischem und Göttlichem, über die Besonderheit der Verwandtschaft gegensätzlicher und im Gegensatz aufeinander verwiesener thematischer Charaktere ausgetragen. Sie repräsentieren die dramatis personae auf dem inneren Schauplatz einer Dramaturgie des Konflikts gemäß der Goetheschen Zwei-Seelen-Thematik. Um diesen faustischen Zwiespalt in seiner mephistophelisch/göttlichen Brechung zu fassen, wählt Alkan das Mittel motivischer Spiegelung. Es vermag am unmittelbarsten die Spaltung der Triebe und deren gemeinsamen Grund als in ein und demselben Subjekt liegend darzustellen. So wird das Kopfmotiv des eröffnenden ersten Thementeils,

Bspl. 4: Alkan, Grande Sonate, 2. Satz, Lewenthal 126/I/1-126/II/3,

             (Ronald Smith)

durch Umkehrung zur diabolischen Chiffre des zweiten:

 

Bspl. 5: Alkan, Grande Sonate, 2. Satz, Lewenthal 129/III/3-129/V/1, erstes Viertel

             (Ronald Smith)

Liszt wird in seiner Faust-Symphonie von 1854 diese innere Zerissenheit in der Konzeption des "Mephisto"-Satzes als eines Zerrspiegels und Themen-Negativs des "Faust"-Satzes formulieren.

     Alkans Drama zwischen der Dämonie der Verführung und dem Bann der Askese vollendet sich im Schlußakt. Er beginnt mit jenem Abschnitt, der die Einweihung in den Bezirk des Heiligen zu leisten hat. Diese von der Hoheitsform fugaler Technik bestimmte Region scheidet sich von der Arena der Leidenschaft durch vier riesige Arpeggien. Bemerkenswert ist einerseits, daß die Spitzentöne der arpeggierten Akkorde in das krebsförmig gereihte Kopfmotiv des "Faust"-Themas auslaufen. Andererseits nimmt das entdämonisierte Fugato-Subjekt das "Faust"-Motiv in hehr vergrößerten Werten, doch nunmehr wieder in der originalen Reihenfolge auf. Alkan demonstriert somit erneut, daß das Ritual von Reinigung und Triebverzicht aus einer inneren Wandlung des Künstler-Helden zu verstehen ist; nach der Verkehrung im Krebs nun die Umkehr, die Bekehrung zur geläuterten Gestalt.

Bspl. 6: Alkan, Grande Sonate, 2.Satz, Lewenthal 140/V/1-140/V/b

             (Ronald Smith)

 

Mit diesem Thema, das seiner archaisierenden Art nach an das der E-Dur-Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers erinnert, hebt eine der intrikatesten, an der Grenze der Spielbarkeit liegenden Passagen der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts an: ein siebenstimmiges Fugato, das sich eingerechnet der Verdopplungen und Füllungen zu einem elfstimmigen Piano-Filigran differenziert; plötzlich jedoch fortefortissimo mit dem von kontrapunktischen Fesseln befreiten Thema zur Wirkung einer Epiphanie durchbricht; zu der mit "Le Seigneur" bezeichneten Sphäre der Sakralität.

     Nach einem treffenden Ausdruck Ronald Smiths - jenes Pianisten, der zusammen mit Raymond Lewenthal nachdrücklich für das Werk Alkans eintritt und sämtliche während der Sendung zu Gehör gebrachten Kompositionen interpretiert -, nach Ronald Smith also vollzieht sich in diesem Fugato ein Exorzismus. Smiths Charakterisierung läßt sich weiter konkretisieren. Alkan verweigert nämlich diesen Takten die enharmonisch vereinfachte Schreibweise und notiert das Terrain der Entrückung bis nach Eis-Dur. Gleichwie zur Verdeutlichung des exorzistischen Habitus verdichtet das Notenbild als symbolisch überformte Augenmusik das Gitter aus bannenden Kreuzen in Form eines Arsenals von Erhöhungszeichen bis zum Dreifachkreuz. Die Klangmassen des triumphalen Schlusses aber verstärken die zeremonielle Armatur mit dröhnendem Glockeneffekt über offenem Pedal, während die motivische Teufelschiffre vom Ostinato des sakralen Fugenthemas gebunden, gefesselt wird.

     Anweisungen, wie "leidenschaftlich", "erbarmungslos", "flehend", "mit Verzweiflung", "glückselig", "wonnevoll" oder "mit Zuversicht" markieren den Weg einer Befriedung. Der Aufwand der Mittel jedoch zeugt von der Macht der Spannung zwischen Versuchung und Askese, zwischen dem Sog zum Entriegeln zivilisatorischer Triebsublimierung und dem zunehmend verschärften Diktat ihrs Imperativs.

     Hören Sie nun den weiteren Verlauf dieses in Form eines Sonatenhauptsatzes angelegten "Faust"-Szenariums von Beginn der Durchführung an.

Bspl. 7: Alkan, Grande Sonate, 2. Satz, Lewenthal 133/V/2 b. z. Ende

             (Ronald Smith)

 

Der Künstler als Bürger

Die Begeisterung am "Faust"-Sujet grassierte in Frankreich als Folge der faszinierten Rezeption des Goetheschen Dramas seit Beginn der 1820er-Jahre. Musikalisch belegen diesen Enthusiasmus Berlioz' 1828/29 komponierte und später zur Légende dramatique La Damnation de Faust erweiterte "Faust-Szenen". Die Wirkung des "Faust"-Stoffes erklärt sich nicht zulezt daraus, daß er den Fokus jenes Leidens zu schärfen ermöglichte, das der Existenz des romantischen Künstlers das Wundmal des Exils einbrennt. "Oh, wie süß ist das Leben in tiefer Einsamkeit, fern der Menge und ihren Kämpfen!", vertont Berlioz eine Reflexion des Protagonisten im ersten Teil von Fausts Verdammung. Wenig später, beim "Tanz der Bauern", kontrastiert von der bitteren Erkenntnis: "Mein Elend neidet ihnen ihr Vergnügen". Das Asyl, das der Künstler, der Gesellschaft entfremdet, in der poetischen Imagination seines Innern aufschlägt, steht unter dem Patronat der verlorenen, desillusionierten und am Weltschmerz krankenden Gestalten der Dichtung Chateuabriands und Byrons. "Du selbst sollst deine Hölle sein!", lautet das Stigma des ruhelosen Helden in Byrons Manfred.

     Diesem Aspekt der Ausgrenzung sind auch die beiden letzten Sätze der Alkanschen Klaviersonate verpflichtet: zum einen als unlösbare Wunschfigur der Linderung, als häusliche Idylle nämlich; zum anderen als kompromißloser prometheischer Gestus.

     Der dritte Satz, "Quarante ans - Un heureux ménage" überschrieben, sucht dem Ambiente des Vierzigjährigen im geruhsamen Eheglück Ausdruck zu geben. Die Anweisung "avec tendresse et quiétude" charakterisiert einen Satz, dessen Ende in eine illustrative Episode mündet: das vernehmbare zehnmalige Schlagen der Uhr sowie der daran anschließende Choral sollen das beschauliche Bild einer sich zur Abendandacht versammelnden und im Gebet vereinten Familie zur Vorstellung bringen. Nach dem Pandämonium des zweiten Satzes aber verblaßt das Wunschbild von Ehe und Familie zum nostalgisch-schalen Glück. Es nimmt trotz der gebrochenen Stimmung Züge salonhafter Sentimentalität an. 1850, kurz nach der Entstehung der Sonate Alkans, wird Flaubert anläßlich der Eheschließung eines Schulfreundes sarkastisch die Beschränktheit der bürgerlichen Existenz sezieren. Vom "Bourgeois und Monsieur" ist die Rede, vom "Reaktionär", der borniert und vereidigt auf "Ordnung", "Familie" und "Eigentum" sein "Leben zwischen seinem Weibchen, seinen Kindern und den Schändlichkeiten seines Berufs" zubringt.

     Die Einbindung des am Riß der Welt leidenden Künstlers - motivische Varianten der "Faust"-Themen des zweiten Satzes lassen sich in Alkans Sonate auch an mehreren Stellen des langsamen dritten erkennen -, die Einbindung des ausgebürgerten Künstlers also in den gesellschaftlich sanktionierten Moral- und Normenkodex, kann nicht mehr ohne die Spur des Biedermännischen und Selbstzufriedenen vollzogen werden.

Bspl. 8: Alkan, Grande Sonate, 3. Satz ("Un heureux ménage");

             Von der Wiederkehr des A-Teils an bis zum Endes des Satzes.

             (Ronald Smith)

 

Der gefesselte Prometheus

 

Im Revolutionsjahr 1848 wird am Pariser Conservatoire jene Klavierprofessur vakant, die seit gut zwanzig Jahren Alkans Lehrer Zimmermann innegehabt hatte. Obwohl Alkan aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten als aussichtsreicher Kandidat gilt, bevorzugt die Besetzungskommission schließlich zu allgemeiner Verwunderung einen Bewerber zweiter Wahl: Antoine-François Marmontel. Heute wohl weniger als Autor zahlreicher Etüden und eines Buchs über berühmte Pianisten bekannt, als vielmehr aufgrund seines Nachlebens in den Debussy-Biographien: als die Gestalt jenes pedantischen alten Herrn, der den aufbegehrenden jungen Debussy durch Drill und geistlose Regel verständnislos und autoritär zu bändigen suchte.

     Von Gewicht für die Ernennung Marmontels war ohne Zweifel die Protektion durch den Direktor des Conservatoire, den Opernkomponisten und später von Napoleon III. zum kaiserlichen Hofkapellmeister gekürten Daniel-François-Esprit Auber. Zumal Auber, gestützt auf Ansehen und Einfluß, geschickt die angespannte politische Lage und das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis des Bürgertums nach dem blutig niedergeworfenen Juni-Aufstand der Pariser Arbeiterschaft zu nutzen wußte. Alkan, seinem Ruf nach zwar immer noch berühmt, hinsichtlich der Reputation des Mentors seines Konkurrenten jedoch unterlegen, mag sich womöglich allein schon durch die Fürsprache Georges Sands kompromittiert haben, die bei den staatlichen Organen aufgrund ihrer Rolle während der Revolutionstage ins Zwielicht geraten war.

     Empört über die offensichtliche Intrige und Ungerechtigkeit und getrieben von Existenzängsten sucht Alkan doch noch eine Wendung zu erreichen. Seine Korrespondenz, unter anderem Briefe an höchste Stellen, legt davon Zeugnis ab. 35-jährig, mit abgebrochener Virtuosenlaufbahn, als Komponist zu wenig um das Komponierte besorgt, sah Alkan in einer Anstellung am Konservatorium neben der finanziellen Sicherheit wohl vor allem auch die Möglichkeit, seine pädagogischen Vorstellungen in der Vermittlung großer Musik zu verwirklichen. Noch seine späten Erard-Konzerte mit ihren Bach, Mozart, letzte Klaviersonaten Beethovens, Schubert, Mendelssohn, Chopin und Schumann umfassenden Programmen belegen etwas von diesem Vorhaben.

     Infolge der endgültigen Ablehnung zieht sich Alkan völlig vom öffentlichen Leben zurück. Erst 1873, nach einem Vierteljahrhundert, wird sich seine Eremitage wieder für jene berühmten "Six Petits Concerts" öffnen, die er jährlich - vermutlich bis 1877, eventuell bis 1880 - überwigend für einen Kreis von Freunden und Schülern zu geben pflegt. Die depressive Klangregion als Ausdruck von Klausur und innerem Exil aber hatte er schon im Finale der 1847 veröffentlichten "Großen Klaviersonate" entworfen.

 

Bspl. 9: Alkan, Grande Sonate, 4. Satz ("Prométhée enchaité");

                         (Nach dem ersten Themendurchgang abblenden)

                         (Ronald Smith)

Trübt sich das Refugium des dritten Satzes selbst schon zum Ende hin ein, so setzt der zuletzt gehörte Beginn des Finales vollends eine Zäsur des Schocks. Sie ähnelt dem bei Baudelaire so häufigem Umschlagen halluzinierter Traumparadiese in entzauberte Wirklichkeit.

     Der vierte Satz trägt neben der Angabe "Extrêmement lent" die Überschriften "Cinquante ans" - "Prométhée enchainé". Dieses 'äußerst langsam' zu spielende Finale, das eine Sonate beschließt, deren zunehmend im Tempo nachlassende Sätze dem finalgesteigerten "Kehraus"- und Apotheosen-Prinzip scharf kontrastieren, erschüttert durch krasse Desillusionierung. Es verweist über die Kombination des Stadiums des fünfzigjährigen Künstler-Helden mit der mythischen Figur des gefesselten Prometheus auf Situation und Problematik artistischer Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn der Moderne.

    Die Gestalt des antiken Titanen - dem Schlußsatz sind ausdrücklich sieben Zeilen aus Aischylos' Gefesseltem Prometheus vorangestellt - versinnbildlicht die Rolle des Künstlers als die eines charismatischen Außenseiters. Oszillierten schon einige Züge in Beethovens Biographie zwischen dem prometheischen Habitus und dem des Märtyrers, so werden im 19. Jahrhundert weitere Masken des Künstlers zu Requisiten einer Haltung des "Odi profanum vulgus"; etwa die des Dandy, des Sonderlings oder des Heiligen. Übrigens findet sich das soeben zitierte Eröffnungsdiktum der berühmten Horazischen Ode mit ihrem "Haß" auf die "gemeine Menge" wörtlich als Titel in Alkans Œuvre. Hören wir nochmals Flaubert: "zwischen der Menge und uns", den Künstlern, "gibt es kein Band. Umso schlimmer für die Menge, aber insbesonderer umso schlimmer für uns". Doch "muß man, unabhängig von den Dingen und der Menschheit, die uns verleugnet, seiner Berufung leben, seinen Elefantenturm besteigen und dort wie eine Bajadere in ihren Parfums allein mit seinen Träumen bleiben".

     Abgeschieden und geschunden wie Prometheus, der schmachvoll an den Felsen geschmiedete Feuerbringer und Zivilisationsheros der Menschheit, steht der Künstler isoliert inmitten einer Gesellschaft, die der poetischen Imagination und Kritik gegenüber ertaubt. Diese Erfahrung prägt Alkans Sonatenfinale. Auch Victor Hugos 1856 erschienener Gedichtszyklus Les Contemplations vergleicht den Dichter mit Prometheus, der der Menschheit im Dunkel der Zeiten als Fackelträger voranschreitet. Von nun an bleibt der Stand des Erwähltseins an das Sensorium des Schmerzes gebunden. Überschattet von Einsamkeit, vom Abseits zur Mediokrität der Menge. Genährt aus dem Abgrund des "spleen", des "ennui": von Trübsinn, Leere, Wahn, Todessog und Hoffnungslosigkeit.

     Im Schlußsatz der "Großen Klaviersonate" verschlüsselt das Lasten der bleiernen Zeit und deren schlechte Unendlichkeit die prometheische Qual der Melancholie. Aus ihr bewirken auch die gehämmerten Takte des Aufbegehrens keinen Ausbruch, die das sakrale Rettungsmotiv des Fugatothemas aus dem zweiten Satz zur manischen Folge verdichten. Vielmehr sinken in der rondoartigen Struktur dieses Finales die zitierten und variierten Themen auch der früheren Sätze in den Abgrund der Schwermut. Einer Schwermut, die dem programmatischen Kontext der Sonate zufolge die bittere Summe des Lebens zieht. Das Genie des Künstlers, kraft seines Ingeniums zwar unsterblich, gleichwohl jedoch verkannt und geopfert auf dem Altar der Saturiertheit, sucht den Kerker der Depression vergebens zu durchschlagen.

     "Wann wird jemals mir der Mühsal Ende sich zeigen!" - "Seht, welch Unrecht ich erdulde!". Solche Sätze aus Aischylos' Prometheus-Tragödie präzisieren den Ausklang von Alkans Bekenntnismusik. Kehrt das bereits den Satz einleitende, das Rasseln der Ketten wie die Erregung des in Fesseln geschlagenen Künstler-Titanen stilisierende Tonsymbol des Trillers wieder, so schließt sich der mythische, weil unaufhebbare Kreis aus Resignation, Rebellion, Verinnerlichung und Entsagung. Die aufsteigenden Skalen gegen Ende lassen nochmals den Gestus des Flehens assoziieren, bevor der dissonant zerbröckelnde Schluß endgültig den Ausdruck der Hoffnungslosigkeit annimmt. Erstarrung wird zum Signum eines Satzes, der Beethovens zwanzigster Diabelli-Variation als seinem Urbild verpflichtet scheint. Und durch Erstarrung kommt jener Empfindung nahe, die Berlioz' Charakterisierung des "spleen" zugrunde liegt. "Der 'spleen', das ist das Gefrieren", "das ist der Eisblock", heißt es in den Mémoires. Baudelaire aber dichtet unter Aufnahme des "Odi-profanum-vulgus"-Motivs und mit der Trauer des verlorenen Lebens gleichsam das Motto zu Alkans Finale:

Gib mir die Hand, mein Schmerz, komm von der Menge weit weg. Vom Himmel über Balustraden neigen verblichene Jahre sich in alter Tracht.

Bspl. 10: Alkan, Grande Sonate, 4. Satz;

               (Ronald Smith)

II. Das Mal der Geschichte

 

 

Bspl. 1: Alkan, Grande Sonate op. 33, 4. Satz;

             Rebellionspassage und erste Strophe der Choralpartie

             (Ronald Smith)

Im Mittelpunkt des ersten Teils stand die 1847 publizierte Grande Sonate Alkans. Sechs Jahre vor Liszts h-Moll-Sonate veröffentlicht und dieser in faustischer Emphase verwandt, ließ sie Alkans Tonsprache auf die Spannung zwischen künstlerischer Existenz und gesellschaftlicher Prosa hin durchlässig werden. Der soeben eingespielte Ausschnitt repräsentiert inmitten eines äußerster Ermattung, ja Erstarrung verpflichteten Sonatenfinales die Gebärde der Rebellion. Inmitten eines Sonatenfinales zumal, das seinen Assoziationshof um die Qual des "Gefesselten Prometheus" zentriert, um eine Imago des Künstlers par excellence also. Erinnert sei weiterhin daran, daß die choralartige Partie, in die die Takte des Aufbegehrens münden, den Ausbruch zurücknimmt und dem ausweglosen Zirkel des Satzes integriert.

     Hören Sie nun nach der Interpretation Ronald Smiths eine Wiedergabe derselben Sektion durch Pierre Reach. Obwohl in dieser Aufnahme das Tempo unzulässig angezogen ist, läßt ihre gesteigerte Heftigkeit den Aspekt der Melancholie um so nachdrücklicher hervortreten.

Bspl. 2: Alkan, Grande Sonate, 4. Satz;

             Rebellionspassage und erste Strophe der Choralpartie

             (Pierre Reach)

 

Marsch und Choral

Anklänge an den Choralton begegnen bei Alkan an zahlreichen Stellen. Beginnend beim späten Beethoven und bei Schubert fungiert das Zitieren der sakralen Sphäre dabei zunehmend als ein Schutz und Protest verschränkendes Sigel. Gleich Enklaven inmitten des motivisch-thematischen Prozesses und dessen destruktiver Energie als Widerhall des Weltlaufs bedeuten jene Ruhepunkte Innehalten, Atemholen, Rekreation. Zu denken wäre an die Suspensionsoasen der Kopfsätze in Mahlers Sechster und Siebter Symphonie. Dem Diktat des Konflikts enthoben, vermitteln solche Takte den Eindruck von Distanz, Entsagung, Verinnerlichung. So auch die choralisch endende Sequenz aus Alkans Vierter Molletüde, dem zugleich ersten Satz seiner Symphonie für Klavier solo.

Bspl. 3: Alkan, Symphonie op. 39 für Klavier, 1. Satz (= Etüde op.39,4)

             Lewenthal 41/III/1 b.z.Ende)

             (Smith)

Diese Coda-Takte repräsentieren ein Kompendium Alkanscher Rhetorik. Zunächst wird ein vom Lagenwechsel zwischen Baß und Diskant wechselweise abgedunkeltes und aufgelichtetes Motiv, das sich auf das eröffnende des Hauptthemas bezieht, von der Legato- zur Staccato-Artikulation transformiert. Deren sich steigernde Heftigkeit entäußert sich zu einer H-Dur-Emphase des ehemaligen Schlußgruppenthemas. Sequenzierende Oktav- und Akkordkatarakte folgen, bis der Satz nach der vehementen Wiederaufnahme des Eröffnungsmotivs in einer "piano e sostenuto" zu spielenden Choralassonanz endet und "calando" verlöscht.

Bspl. 4 = Wiederholung von Bspl. 3

Aufmerksamkeit verdienen in unserem Zusammenhang die im Staccato gehaltenen Takte sowie das abschließende Choralfragment.

      Die Staccato-Partie schärft momenthaft die Konturen eines schneidenen Marsches. Durch die Forcierung seines Schlags aber wandelt sich diese Assoziation zum Ausdruck einer inneren Erregung, die sich in der Leidenschaft eines von abstürzenden chromatischen Skalen durchquerten c-Moll-Feldes entlädt und ihrem Charakter nach an Chopins gleichfalls in c-Moll notierte Revolutionsetüde gemahnt. Revolutionär auch insofern, als der passionierte Ausbruch in die Nähe dessen gerät, was sich vom Maß der Vernunft her dem Makel des Exzessiven, Zersetzenden, gar Plebejischen aussetzt.

     Beargwöhnt wird der innere Furor wegen seiner Korrespondenz zum äußeren Aufruhr, das Pathos der Leidenschaft wegen seiner Nähe zum politischen Aufruhr. In Alkans Coda rumort der bohrende, subversive Ton von Anfang an, zumal aufgrund der Kombination mit dem stilisierten Marschzitat und seinem aufblitzenden republikanischen Idiom. Dagegen wird der Kontrast des Innehaltens und der Verinnerlichung im choralisch verfremdeten Ende hörbar. Schlugen in den vorausliegenden Takten Leidenschaft und revolutionäre Emphase ineinander um, entgegen der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, so wirkt die Schlußstrophe des Abgesangs wie eine der Entsagung. Sie läßt nach der historischen Erfahrung fragen, die in Alkans Komposition widerhallt.

 

Die dürftige Zeit des Goldes

Alkans eremitenhafter Rückzug vom öffentlichen Leben fällt in das "Second Empire" Napoleons III. In die Zeit der Finanzaristokratie, des Bankkapitals, der Spekulation und des Aufschwungs der industriellen Bourgoisie, die das ökonomische Tableau immer entschiedener bestimmen wird. In eine Epoche des Größenwahns, der militärischen Großmachtgelüste und des Ausbaus der Großindustrie. So finden schließlich auch die Pariser Weltausstellungen von 1855 und 1867 ihre Bühne in einer Metropole, die sich im Zug der von kontrollstrategischen, verkehrstechnischen und inszenatorischen Belangen diktierten Modernisierungspläne des Präfekten Haussmann zur "Kapitale der Welt" formiert.

     Von Louis-Philippes "Juste-milieu" und dessen tatkräftig umgesetzter Parole des "Enrichissez-vous!" über deren Steigerung im Zweiten Kaiserreich bis hin zum Finanzkapitalismus und zur imperialen Politik des "Empire français" der Dritten Republik: all diese Stadien zeugen vom Bewußtsein einer Gesellschaft, die "im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigensten Lebensprinzips" begrüßt. Oder in der Sprache Gobsecks, der Gestalt des Wucherers in Balzacs gleichnamiger Novelle: "Das Gold vertritt alle menschlichen Kräfte." "Ist das Leben nicht eine Maschine, die vom Geld in Bewegung gesetzt wird?" "Das Gold ist der Spiritualismus der heutigen Gesellschaft." Und doch bleibt im mondänen Taumel des Zweiten Kaiserreichs der Abgrund einer Scheinwirklichkeit fühlbar, den der Hedonismus der Begüterten und deren parasitäre Genußsucht auf dem Rücken der arbeitenden und verelendeten Massen panisch zu überblenden sucht. Eine sich wie improvisiert in Szene setzende Scheinwirklichkeit, die die Züge ihrer eigenen Auflösung vorwegzunehmen scheint.

 

​Bspl. 5: Offenbach, La Vie Parisienne, 3. Akt, Finale, Schlußchor (Interpreten vgl. Beiblatt)

Zu leicht wird vergessen, daß die Epoche der Profit-Euphorie von einem Unterstrom republikanisch-sozialistischer Ideen grundiert wird, gefärbt vom Blut, überschattet vom Leiden der Opfer der revolutionären Erhebungen von 1830, 1848 und 1871: der Niedergemetzelten, Hingerichteten, Eingekerkerten und Deportierten. Desgleichen: daß diese Epoche vom Elend der geknechteten untersten Klasse zehrt, deren Blutzoll stets den Interessen der Bourgeoisie zugute kam. Marx notiert in der Studie Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: "Alle Klassen und Parteien hatten sich während der Juni-Tage (1848) zur Partei der Ordnung vereint gegenüber der proletarischen Klasse, als der Partei der Anarchie, der Sozialismus, des Kommunismus. Sie hatten die Gesellschaft 'gerettet' gegen 'die Feinde der Gesellschaft'. Sie hatten die Stichworte der alten Gesellschaft, 'Eigentum, Familie, Religion, Ordnung', als Parole unter ihr Heer ausgeteilt und der konterrevolutionären Kreuzfahrt zugerufen: 'Unter diesem Zeichen wirst du siegen!'."

Bspl. 6: Berlioz, Grande Symphonie funèbre et triomphale op.15, "Marche funèbre",

                           T. 1-47 (London Symphony Orchestra, Colin Davis)

1840 komponierte Berlioz seine Symphonie funèbre et triomphale als Memento für die Opfer der Juli-Erhebung von 1830. In der Tradition der zeremoniellen Freiluftmusiken schlägt das Werk den Bogen zurück zu den Festen der Großen Revolution und Ersten Republik, zu den Postulaten der "Menschenrechte" im Anspruch republikanischer Öffentlichkeit. Von diesen Postulaten zehren noch die Erhebungen insbesondere des Pariser Proletariats während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunders: im Gedanken einer "Sozialen Republik" und der Forderung nach Einlösung des Rechts auf "égalité". In Form von Gedanken also, deren Varianten sich im Rekurs auf humanitäre Prinzipien ähneln, fern einer stichhaltigen ökonomische Analyse. Leroux' Lehre von Solidarität und Gemeineigentum oder Victor Hugos Plan einer Einbürgerung der sozial Entrechteten in die Gesellschaft stehen dabei ebenso Pate wie Lamennais' aufsehenerregedes Buch Paroles d'un croyant; seine Proklamation der Souveränität des Volks im Namen der Religion, seine Attacke gegen Besitz und Eigentum, sein Mahnruf zur Befreiung der untersten Klasse gemäß dem Gebot der "fraternité" auf der Basis eines von Grund auf veränderten Gemeinwesens.

     Republikanisches Bewußtsein dürfte bei Alkan, wie bei einem Großteil der künstlerischen Intelligenz, solch vorrangig ethischen Grundsätzen verbunden gewesen sein: der Hoffnung auf eine Beseitigung der gesellschaftlichen Misere im Vertrauen auf die Wirkung des sittlichen Appells. Schließlich verkehrte Alkan, den allein schon seine philosophischen Neigungen und seine verschiedentlich belegte politische Wachheit mit jenen Theorien in Berührung brachten, in jungen Jahren in den Zirkeln Lamennais' und Victor Hugos.

     Nach dem Ausbleiben der erwarteten Erneuerung und ohne das Instrumentarium einer präzisen theoretischen Durchdringung der Produktionsverhältnisse reagiert die künstlerische Elite vielfach mit einer provokanten Abkehr vom politischen Leben, mit Rückzug, einer generalisierenden Kritik an Materialismus und Geldfetisch oder mit abruptem Gesinnungswechsel. Berlioz, von der Juli-Revolution noch begeistert, wird zum Verächter der "schmutzigen, dummen Republik" und feiert Napoleon III. als "Retter", um schließlich abseits vom Flitterglanz des "Second Empire" in Resignation und Verbitterung zu enden. Baudelaire, Kombattant der Revolution von 1848, brüskiert nach deren Scheitern die Zeitgenossen hinter der Maske des Satanischen durch eine exzentrische Ästhetik der Abgrenzung. Alkan selbst, der 1848 in einem Brief an George Sand noch von seiner "glühenden Liebe" zur Republik spricht, schirmt sich wenig später kompromißlos gegen das Außen ab. "Meine Lage macht mich entsetzlich traurig und elend. Jede musikalische Produktion hat ihre Anziehungskraft für mich verloren, kann ich doch weder Sinn noch Ziel erkennen", schreibt er an Ferdinand Hiller.

Im Zeichen des Kondukts

Wie bereits zu Beginn der Sendung demonstriert, nimmt das Eröffnungsallegro der Symphonie für Klavier op. 39 den revolutionären Duktus zurück. Bringen wir uns diese Schlüssel-Stelle noch einmal in einer Interpretation Michael Pontis zu Gehör.

Bspl. 7: Alkan, Symphonie op. 39 für Klavier, 1. Satz (= Etudes op. 39, 4)

             Lewenthal 41/III/1 b. z. Ende (Michael Ponti)

Der resignative Abgesang am Schluß des Beispiels vermittelt zur Eintrübung des nachfolgenden zweiten Satzes der Symphonie. In ihm werden die Charaktere von Marsch und Choral auskomponiert: als "Marche funèbre" und als Episode der Verinnerlichung. Während Berlioz' Symphonie funèbre et triomphale das Pathos der großen republikanischen Freiluftmusiken fortschreibt, zieht Alkans Trauermarsch das Forum der Öffentlickeit in das Refugium des Privaten ein; unter Assimilation der symphonisch-orchestralen Klangsprache an das Soloinstrument des Flügels. Als sollte die Not der Klaviertranskription zur Tugend gemacht werden, nachdem Alkans einzige Orchestersymphonie, vier Jahre vor den Unruhen von 1848 entstanden, als verschollen gilt.

     Steht das Plenum des Orchesters schon von seinem Anspruch her dem Kollektiv der Gesellschaft nahe, so repräsentiert die solistische Aktion eher eine seitens des Publikums delegierte Privatisierung. In Berlioz' Prozessionsmusik zum Gedenken an die Opfer des Juli-Aufstands und zur Einweihung der Bastille-Säule bewahrt der monumentale Kondukt den republikanischen Geist als Appell: in der Umsetzung von kollektiver Trauer in solidarisches Schreiten. Bei Alkan hingegen bringt gerade die Spannung zwischen dem kollektiven Modus des Marsches und seinem Einzug in den sloistischen Bereich den Widerspruch zwischen Postulat und Wirklichkeit zum Ausdruck.

     Der Verlauf der Symphonie funèbre et triomphale führt von der Erinnerung an die "Kämpfe der ruhmvollen drei Tage" von 1830 zur Schlußapotheose der Hymne der "gloire" im Zeichen der Freiheit. Bei Alkan streift das Finale der Symphonie den Bereich des Dämonischen. Als Konsequenz eines von der Prosa des Alltäglichen in die Innenwelt der Phantasie verlegten Szenariums, das auch die "Marche funèbre" bestimmt. Hier wird das republikanische Idiom als Nachhall des revolutionären Impetus zum Memento für die Abgeschiedenheit des Künstlers im Protest gegen die unerlösten Verhältnisse nach 1848. Als musikalische Imagination jener Strophe verwandt, mit der das letzte der Spleen-Gedichte Baudelaires endet:

 

- Et de longs corbillards, sans tambours ni musique,
Défilent lentement dans mon âme ; l'Espoir,
Vaincu, pleure, et l'Angoisse atroce, despotique,
Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir.

- Und lautlos zieht ein langer Leichenzug       
Durch meine Seele seine schwarzen Bahnen,        
Die Hoffnung weint. Das Grauen, das sie schlug,   
Das Grauen pflanzt in meinem Hirn die Fahnen.    

 

​​Bspl. 8: Alkan, Symphonie op. 39 für Klavier, 2. Satz ("Marche funèbre")

             (=Etudes op 39,5)(ganz) (Ronald Smith)

 

Für zahlreiche französische Künstler waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts politische und ästhetische Revolution nicht voneinander zu trennen. Daß sich die Kraft des "Wahren in der Kunst", so eine Formulierung Berlioz', inmitten der beklagten Profanierung nicht gesellschaftsbildend entfalten konnte, vereitelte jedoch das ersehnte Bündnis. Die Kluft zwischen dem künstlerischen Genie und der Menge der Akteure im seelenlosen Getriebe des ökonomischen Molochs wurde unüberbrückbar. Inmitten einer dem Regime angedienten Repräsentations- und Propagandakunst zudem, die während der "Période autoritaire" des Zweiten Kaiserreichs im Bund mit den Instanzen von Zensur, Militär und Kirche stand. Napoleon III. lag daran, die sozialen Widersprüche zu verschleiern. Er wünschte sich eine "Nation", welche als "Voraussetzung einer stabilen Diktatur (...) voller Aktivität unpolitischen Zielen nachjagt": dem Imperativ des "Bereichert euch!" gesellt sich das Schlagwort des "Embellissement", der Verschönerung, der schönen Fassade, als gängige Formel bei.

     "Die Musik ist tot", notiert Berlioz im Vorwort der Mémoires. Und an anderer Stelle heißt es über Paris: "Unsere Hauptstadt finde ich wieder vor allem mit materiellen Interessen beschäft, unaufmerksam und gleichgültig gegen das, was die Dichter und Künstler begeistert." Baudelaire konstatiert, "daß Frankreich die Poesie, die echte Poesie, verabscheut". Seine Kritik gilt der "Mechanisierung" und "Erniedrigung des menschlichen Herzens", in der schließlich "alles, was nicht ausschließlich Gier nach dem Golde ist, einer grenzenlosen Lächerlichkeit anheimfallen wird". Alkan selbst entrüstet sich 1859 über die Unmenge an "Schund" auf musikalischem Gebiet und über die Vielzahl derer, die daran sei's mitwirken oder Gefallen finden.

 

Dämon Ökonomie

Alkans Anstrengung liegt, vergleichbar der Baudelaires, in der Bewältigung des "ennui" inmitten einer vom Kalkül beherrschten Gesellschaft. Und zwar in einer Bewältigung mit immer auch den Mitteln dieser Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Sie durchdringt seine Kompositionen mit Momenten kompensatorischer Gegenwehr. Im athletischen Kraftakt einer Vituosität beispielsweise, in der sich Eruption und Konstruktion verschränken, entfesselte Sinnlichkeit sich an die Fron pianistischer Arbeit bindet. Wie Baudelaire in seinen Tagebuchnotizen das Ritual von Arbeit und Gebet als einen Damm der Askese gegen den zivilisatorisch tödlichen Sog von Exzeß und Überschreitung beschwört, als ein Heilmittel zudem gegen die Hölle des "ennui", so sinnt auch Alkan im zweiten, "L'Enfer" bezeichneten Satz seines Duos für Violine und Klavier dieser "Hölle" aus Schwermut und Hoffnungslosigkeit nach. Und den strengen, fast puritanischen Habitus, den Zeitgenossen an Alkan bemerken, entdecken wir in seiner Musik an jenen Stellen, an denen rauschhafte Virtuosität ihren Widerpart an Takten der Besinnung, Ernüchterung und Stabilisierung findet. Gegen Ende des "Allegro assai" aus Alkans Concerto für Klavier solo, der achten der 1857 publizierten Etüden op. 39, unterbrechen zwei Choralstrophen den Satz. Ähnlich Baudelaires Hygiene des Gebets wirken diese Zäsuren wie ein Ort der Meditation vor der tour de force der Coda und ihrer über weite Strecken im Repititionstaumel des "Double Échappement" getriebenen und vibrierenden Erregung.

Bspl. 9: Alkan, Concerto für Klavier solo, 1. Satz (=Etüde op.39,8)

             Costallat 57/III/3 - 63/V/1

             (Ronald Smith)

Alkans Musik ist vom Körper inspiriert. Häufig begegnet in ihr, wie im zuletzt gehörten Beispiel das stützende Korsett aus Akkord- und Oktavimpulsen, die Obsession des Schlags. Oft in der Gewalt eines Stoßes, der den metrischen Schwerpunkt mit Sforzato-Nachdruck intensiviert. Ein Gestaltungsmittel, in dem sich gesellschaftliche Produktion und ästhetische Opposition legieren.

     Das Repertoire der Schlagwirkung selbst ist vielfältig. Ob in Form schmerzender Salven zu Beginn der harten Trommelschläge eines Kondukts,

Bspl. 10: Alkan, Concerto op.39, 2. Satz (= Etüde op. 39, 9)

               Costallat 83/IV - 86/1/2 (vor dem "Dolce"-Motiv abblenden) (Ronald Smith)

ob als hämmernder Taktimpuls

Bspl. 11: Alkan, Concerto, 1.Satz (=Etüde op.39,8)

               Costallat 69/II/3 -70/I/2

               (Smith)

oder als akzentverschobender Stoß.

Bspl. 12: Alkan:, Symphonie f.Klavier op.39, 3.Satz (=Etüde op.39,6)

                Lewenthal 57/II/5-58/II/2

                (Smith)

Insbesondere die beiden letzten Ausschnitte verdeutlichen die Reaktion des musikalischen Sensorium auf die Erschütterung expandierender Technisierung. Die Erfahrung der Zurichtung des Körpers durch die industrielle Maschinerie und deren alltägliche Auswirkungen wird von den Kompositionen um der Bändigung willen eingelassen. Der stampfende Gestus, der immer wieder in Alkans Musik einbricht, demonstriert in einer Zeit der steten Beschleunigung und Mechanisierung somatischen Widerstand. In einer Zeit, die seit der Jahrhundertmitte unerbittlich den Flaneur zum Verschwinden bringt. Über die ästhetische Anverwandluing soll sich der attackierende Stoß zum körperlichen Stimulus fügen. Er soll der Entsinnlichung opponieren, ohne in leibhaft idyllische Zustände zu flüchten. So absorbiert ästhetische Opposition die Gewalt der außerästhetisch gesellschaftlichen Produktion über das beide Bereiche zusammenschließende Medium der Technik. So will ästhetische Opposition die Wirkungen der außerästhetisch gesellschaftlichen Produktion als ein Sediment der prosaischen Verhältnisse jener Formkraft des Werks einverleiben, die durch poetische Umformung des Bedrohlichen und Fremden der Entfremdung standzuhalten sucht.

      Zeitgenössischen Dokumenten sowie der Struktur seiner Kompositionen ist zu entnehmen, daß Alkan ein Gegner des nur allzuoft übermäßig schwelgenden Rubatos war. "Inflexibilité" lautet ein Titel seines Œuvres, der stellvertretend verdeutlicht, was Alkan generell zu praktizieren pflegte und eingehalten wissen wollte. "Ohne Freiheit, welcher Art auch immer", steht lakonisch über der letzten Moll-Etüde aus op. 39. Und vergleichbar den Auftritten des Pianisten Saint-Saëns sind es denn auch die kurzsichtigen Vorwürfe eines Mangels an Spontaneität und Poesie, die etliche Kritiken, neben begeisterten Rezensionen, anläßlich der seltenen pianistischen Auftritte Alkans erheben.

     Alkans Potenzierung von Rhythmus, Schlag und Staccatoartikulation als Teil seines "Style sévère" ist eminent modern. Daß auch der musikalischen Zeit qua "Tempo rubato" nichts mehr zu rauben sei, registriert jenes allgemeine Zeitgefühl, das vom Takt der Profitquanten bedrängt und unterjocht wird. Dennoch: die oft erbarmunglose Rastlosigkeit der Motorik so vieler Partien Alkans bei strikt durchgehaltenem Tempo mißt sich zwar an der Diktatur des maschinellen Takts als dem Emblem industrieller Ökonomie. Sie gewährt ihm allerdings nur so weit Raum, als sie ihn aus der rotierenden Maschinerie immer auch rhythmisch sublimiert, das heißt libidinös entbindet.

     Von großer Wirkung waren im Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ideen Saint-Simons. Indem sie die industrielle Produktion und deren Steigerung noch als Mittel sozialer Versöhnung begriffen, wurden auch die mit dem Saint-Simonismus sympathisierenden Künstler zu Propagatoren solcher Zuversicht. Das ist zumindest ein Aspekt von Alkans Komposition Le chemin de fer von 1844, die als eines der ersten musikalischen Werke in seiner perpetuum-mobilehaften Motorik die Welt der Maschine und der Eisenbahn aufnimmt. Offenkundig ist, daß diesen Gedanken eine Korrespondenz zwischen den Gesinnungen von demokratisch liberalen Geist, Fortschrittspathos und Industrie- beziehungsweise Eisenbahnenthusiasmus eigen war.

      Ebenso offenkundig aber übersetzt sich die das Getriebe der Takte in Gang haltende motorische Energie vom Ausdruck her in die Unrast des Triebs, in Leidenschaft. Die Spannung zwischen dieser die Ökonomie des Formgesetzes erschütternden Leidenschaft und ihrer Rückbindung an die Konstruktion äußert sich oft genug als dämonische Qualität. Sie ist beispielsweise dem Finale der Symphonie für Klavier solo anzuhören.

Bspl. 13: Alkan, Symphonie op. 39, 4. Satz (=Etude op.39,7) (ganz) (Ponti)

Paul Tillich kennzeichnet das Dämonische einmal als das "gestaltwidrige Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen", als ein "Formwidriges, das in eine künstlerische Form einzugehen imstande ist". Diesen dämonischen Aspekt der 'Formwidrigkeit als Form' hatte bereits Baudelaire seiner Ästhetik in der Variante des "Bizarren" eingemeindet. Die "Unregelmäßigkeit, das heißt das Unerwartete, Überraschende, Verblüffende", wurde ihm zum Leitmotiv des künstlerischen Kanons. Musikalische Analogien dazu lassen sich unter anderen in jenen Verfahren erkennen, die einzelne kompositorische Parameter momentweise als vereinzelte verzerren und dadurch den Schein der Geschlossenheit zersetzen.

      Auch in Alkans Scherzo diabolico ist dieser dämonische Gestus als der einer gestaltwidrigen Verunklärung zu hören. Wie schon der huschende Motivpartikel des Beginns und die nachfolgenden im Pianissimo chromatisch absteigenden, die diatonische Ordnung verwischenden hohlen Oktaven durch die Verweigerung einer prägnanten Themengestalt verunsichern. Wie unmittelbar danach der Fortissimo-Ausbruch jäh einschlägt, und gegen Ende des ersten Scherzohauptteils das von Sforzato-Akzenten durchzuckte Oktavfeld der Baßregion infolge des geöffneten Pedals chaotisch ausufert. Eine Stelle, die entgegen dem Ideal des vom Geräusch gereinigten Tons das krude Material zum Tönen bringen will. Wie weiterhin inmitten des Trios der triumphal-pompöse Ton unversehens und mit der Beischrift "satirico" entmächtigt wird und den Gedanken Victor Hugos von der "Verschmelzung des Grotesken und des Erhabenen" zu parphrasieren scheint. Werden solche Elemente des Aprupten, des Unerwarteten, des "Imprévu" von der Tektonik des Scherzotypus auch stabilisiert, so kündigen sie doch immer wieder des Konsens mit einem an Klarheit und Deutlichkeit orientierten Hören auf.

     Kierkegaard bestimmt unter Berücksichtigung des Mephistophelischen das "Dämonische" als das "Plötzliche". Diese Definition zielt auf die Wirkung eines Schocks, der im Augenblick seines Einbruchs in die Zeit zugleich mit der einigenden Kraft der Wahrnehmung die Identität des Wahrnehmenden gefährdet. Daß und auf welche Weise das Scherzo diabolico hinaus einsetzt, als Schauder etwa, wird uns noch an einer Stelle der dritten Sendung beschäftigen.

 

 

Bspl. 14: Alkan, Scherzo diabolico ( = Etüde op.39,3)(ganz)

              (Smith)

III. Musik der Subversion

 

 

 

​Bspl. 1: Bartók, Allegro barbaro, T. 1-101, erstes Achtel (Robert Hagopian)

 

Allegro barbaro nannte Béla Bartók die soeben angespielte Komposition aus dem Jahr 1911. Ohne das Wagnis kühner Dissonanzen - das Stück enthält im Gegenteil eine große Anzahl reiner Dreiklänge -, schockierte das Werk vor allem durch seine undomestiziert csárdáshaft-rhythmische Verve. Die ebenso rudimentäre wie obsessive Tonsprache mußte gegenüber einer überreifen, gar vergreisten Spättonalität wie ein Kahlschlag wirken; gegenüber einem kraftlos gewordenen Dur-Moll-System des Überschwangs und der Anfälligkeit für falsches Pathos; einer kadenzlogisch bis zu Auflösung unterhöhlten Rhetorik, die sich in ihrer Opulenz selbst überlebt hatte. Wenig bekannt ist jedoch, daß Bartóks Komposition eine Vorläuferin desselben Titels und einer vergleichbaren Intention hat: Alkans fünfte der 1847 publizierten und von Hans von Bülow euphorisch rezensierten Douze études dans les tons majeurs op.35.

     Für die Zeit um 1850 weist Alkans Allegro barbaro ein erstaunliches Maß an Ungewohntem auf. Nicht nur, daß das Klavier bereits hier primär als Schlaginstrument fungiert. Die Etüde hebt sich außerdem fremdartig vom eingebürgerten Klang des funktionsharmonischen Dur-Moll ab: obwohl in F-Dur notiert, bleibt in allen Takten die Auflösung des b verbindlich. Stehen damit die Refrainpartien dieser rondoartig und streng symmetrischen reinen Weißetastenkomposition in lydischer Tonart, so weichen die Couplets in den äolischen bzw. dorischen Bereich aus. Die akkordlos kahlen Oktavschläge, der Hang zur Pentatonik, das Abrücken vom dominanten Leittonprinzip, ostinate Rhythmusformeln sowie eine Crescendo und Descrescendo äußerst sparsam verwendende, starre Dynamik - 80 der 120 Takte fordern hartes Fortissimo -: all dies verleiht der Musik einen Ton des Barbarischen.

Bspl. 2: Alkan, Allegro barbaro (= Etude op.35, 5)   (Smith)

 

 

 

Alkans Klausur heute

Der Name Alkan steht noch immer für einen Musiker, der im Konzertsaal nicht zu hören ist, vielen Musikinteressierten nach wie vor unbekannt ist, nahezu unauffindbar in Rundfunkprogrammen und schriftlichen Publikationen. Doch schon zu Lebzeiten des Komponisten kam dessen Musik selten genug zur Aufführung. Daß die Gesetze von Markt und Veröffentlichungspraxis für diesen eremitenhaften Künstler eine unwesentliche Rolle spielten, daß er darüber hinaus den Part eines Propagators für sein Werk ablehnte, mögen als zwei der Gründe jener Vernachlässigung unmittelbar, wenn auch vorschnell, einleuchten. Niemals wurde eines seiner zentralen Klavierwerke, beispielsweise die "Große Sonate" op. 33, die "Symphonie" oder das "Concerto", von Alkan in ihrer jeweiligen Geschlossenheit öffentlich präsentiert. Im Fall der beiden letzten Arbeiten, ist lediglich die einmalige Interpretation einzelner Sätze überliefert. Diese Situation darf für das neunzehnte Jahrhundert als bestimmend angenommen werden.

     Und für das zwanzigste? Busonis Einsatz für den von ihm zeitlebens hochgeschätzten französischen Klaviermeister schlug nach kurzem fehl. Das Engagement seines Schülers Egon Petri vor allem für die Etüden op. 39 ging um 1940 in den politischen Wirren und Katastrophen der Zeit unter. Erst in den sechziger Jahren stieß eine Rundfunk- und Konzertreihe des Pianisten Raymond Lewenthal beim amerikanischen Publikum auf große Zustimmung. Doch auch wenn sich seitdem Künstler wie John Ogdon, Michael Ponti oder Ronald Smith insbesondere mit Alkans Chef d'oeuvre, dem Zyklus der Moll-Etüden op. 39, auseinandersetzten, blieb eine Resonanz im Musikleben etwa des deutschsprachigen Raums völlig aus.

     Liegen die Ursachen dafür allein im Bereich der Reproduktion, das heißt der ungemein schwierigen Technik, die Alkan den Virtuosen abverlangt, um dafür womöglich nicht einmal mit publikumswirksamer Brillanz zu entschädigen? Wohl kaum. Weiter führt eine Vermutung, die sich auf das Komponierte selbst einläßt; vor allem auf die Summe der Douze études dans les tons mineurs. Auffällig ist dabei die zwitterhafte Faktur einiger Stücke. Resultat eines Verfahrens, das den von Beethovens klassizistischer Phase her überlieferten Formkanon Elemente des Charakteristischen einsprengt. Es handelt sich um jene mit virtuoser List emanzipierte musikalische Prosa, die die Geschlossenheit der Werke zumeist mit exzessivem Ausdruck unterhöhlen. Momente und Nuancen des Dämonischen, Grotesken, Trivialen werden mit einem streng auf Homogenität und Integration gerichteten Formkanon kombiniert. Dessen Modelle jedoch, beispielsweise das der Sonate, sollen davon unberührt bleiben. Evident wird hierbei die Sonderstellung Alkans gegenüber den dem neuen Material Rechnung tragenden tektonischen Veränderungen eines Berlioz oder Liszt. Zu deren Musik, wie übrigens auch zu der Wagners, verhielt Alkan sich ablehnend. Daß Hans von Bülows Wertschätzung des Komponisten Alkan als eines "Berlioz des Klaviers" diese Differenz der Gestaltung ausblendet, sei am Rande vermerkt.

     Die Reibungen und Wodersprüche zwischen den Tendenzen des Gehalts und deren formaler Organisation erzeugen bei Alkan mitunter einen Konflikt, der sich zunächst als die Verschränkung von Orginalität und Eklektizismus darstellen mag. Ob das Defizit seiner Rezpetion demnach einem musikalischen Zeitgeist zuzuschreiben wäre, dessen Sensorium sich aus Wunscherfüllung an quasi organischen Konzeptionen orientiert, an Konzeptionen, die auf der Balance von Form und Inhalt beruhen? Ein solches Argument, mit dem Akzent auf einem als Unvermögen unterstellten Epigonentum Alkans, verkennt dessen Komponieren voreilig. Zu überlegen und zu beurteilen ist vielmehr, inwieweit seine hart gesetzten Kontraste, oftmals nahe der Klitterung von Brüchen, als eine bewußt provokante und ästhetisch überzeugende Figur der Unversöhnbarkeit zu verstehen sind. Desgleichen: inwieweit die zuweilen erkennbaren Züge des Ausladenden, Massiven und Redundanten als eine Kompensation des ausgegrenzten Känstlers im Sinne von Selbstbehauptung und ungestillter Integrationssehnsucht zu gelten haben. Oder inwieweit diese Effekte und Eigenheiten durch ihren Kontext hintergründig werden, etwa durch die häufigen Wendungen zum Espressivo der Trauer.

 

Barbarismus als Provokation

 

Bspl. 3: Alkan, Concerto f. Klavier solo, 3. Satz (=Etüde op.39,10)

             Ausgabe: Costallat 92/I/1 - 98/IV/1, erstes Achtel

     (Smith)

Unterbrechen wir an dieser Stelle einen Satz, es handelt sich um das Finale des Concertos der Etüden op. 39, der die Verschiedenheit seiner Charaktere nicht zu poetischer Geschlossenheit rundet. Etliche Partien erinnern zwar an Gestaltungsmittel der Sonatenhauptsatzdramatik, wirken aber befremdend, ja bisweilen absurd, insofern sie ihres kadenzlogischen Zusammenhangs entbehren, das Prinzip der Kontinuität abrupt aufkündigen und Versatzstücke von Steigerungen und Höhepunkten montieren. Polonaisen-Grandezza kreuzt sich mit dem Figurenwerk von Etüden, Ausschnitte aus konzentrierter Durchführungsarbeit mit der Eintönigkeit motivischen Leerlaufs. Alkan verschärft den Eindruck des Disparaten noch durch bizarr parodistische Einlagen, wenn die Musik sich in Trillerketten verstrickt und einen Lapsus des Interpreten miteinzukomponieren scheint. Oder wenn sie unbekümmert um ihren Fortgang Gefahr läuft, sich mit einem insgesamt 21mal repetierten Motivmuster und einer wie zufällig anmutenden Harmonik in die Irre zu verlieren, als wäre der Gedächtnisfaden gerissen.

Bspl. 4: Alkan, Concerto op.39, 3. Satz (=Etüde op.39,10)

     Costallat 104/II/2 - 107/III/1

     (Smith)

Münden diese Takte unmittelbar in einen schmerzvollen Abgesang, so repräsentiert das plötzlich in den Ernst der Ausweglosigkeit umschlagende Verwirrspiel eine der bei Alkan zahlreichen Konfigurationen von Extremen. Auf sie weist schon die Wahl vieler seiner Titel in Form des Gegensatzes hin, etwa desjenigen von Trauer und Freude, Schwermut und Heiterkeit in Jean qui pleure et Jean qui rit oder in Héraclite et Démocrite. Das kolportagehaft Barbarische im Gefüge des Konzertfinales aus opus 39 aber verdichtet sich in folgender Sektion zum Signet:

Bspl. 5: Alkan, Concerto op. 39, 3. Satz (=Etüde op.39, 10)

     Costallat 93/I/1 -93/III/2

    (Smith)

Bestimmend ist unter anderem für dessen Kolorit, es war schon in Alkans Allegro barbaro zu hören, das Intervall der Oktav, das im Diskant eine exotisch wirkende Stimme vom Umfang einer Sext färbt, im Baß dagegen stereotyp in komplementäre Quinten und Quarten zerlegt wird. Eine differenzierte Mittellage fehlt. Basierend auf bewußt primitiv-harmonischen Verhältnissen und einer starren Dynamik, schiebt sich in diesen acht Takten um so stärker der rhythmische Impuls in den Vordergrund. Zu charakterisieren wäre die Passage am ehesten durch das Aussparen der Vielfalt an verfeinerten musikalischen Mitteln. Dreimal kehrt der krude Ton wieder, zuletzt im tieferen Register, bevor er schließlich für wenige glanzvoll gesteigerte Takte vom quasi zvilisierten Idiom getragen, nicht aber triumphal überwunden wird.

Bspl. 6: Alkan, Concerto op. 39, 3. Satz (=Etüde op.39, 10)

             Costallat 117/II/1 - 118/V/2, erstes Achtel (ab V/1 abblenden)

             (Smith)

Alkans tonal assimilierter "Barbarismus" steht um 1850 für fremdländisches Kolorit. Für ein Kolorit, das den universellen Sprachcharakter des Dur-Moll-Systems epochenspezifisch mit idiomatischen Besonderheiten zu durchsetzen beginnt: mit "couleur locale", mit Orientalismen, mit dem Klangreiz ethnischer Fernen. Bereits 1844 hatte Félicien David, der Vater des musikalischen Exotismus, den orientalischen Impressionismus seiner Ode-Symphonie "Le désert"  mit außergewöhnlichem Erfolg in Paris zur Uraufführung gebracht. Bekannt ist, daß bei nicht wenigen französischen Künstlern der Zeit wie Delacroix, Hugo, Nerval, Gautier oder Flaubert Orient-Sujets eine gewichtige Rolle spielen. Schließlich kam Frankreich durch die seit 1830 betriebene Eroberung Algeriens verstärkt mit dem islamischen Kulturkreis in Berührung, mit arabischer Musik etwa, um oft genug die exotischen Entdeckungen als Trophäen im kolonialen Schaufenster der Weltausstellungen zu präsentieren.

     Goethe kommt 1805 in den Tag- und Jahresheften auf jenen "Trieb zum Absurden" zu sprechen, der "gegen alle Kultur die angestammte Roheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigen Welt wieder zum Vorschein bringt". Eine Bemerkung, die angesichts der zur Diskussion stehenden Takten Alkans das zivilisationskritische Ferment in der Auseinandersetzung mit Exotik und Barbarismus spürt. Gedacht sei an Baudelaires provokanten, wenngleich alles andere als rousseauistischen Vergleich zwischen dem korrumpierten Stand des "homme civilisé" und den heroisierten Eigenschaften des "homme sauvage". Gedacht sei an das Lob des Barbarischen bei Jules Michelet und einer Tradition, der das Barbarische als verjüngendes Lebensingrediens gilt. Oder an weite Partien in Flauberts Salambo-Roman, angesiedelt im Karthago des dritten vorchristlichen Jahrhunderts. Müdigkeit und Widerwille gegenüber der Zivilisation, dieser - wie der Autor formuliert - "runzligen Fehlgeburt der Anstrengungen des Menschen", gestehen desgleichen viele der während Flauberts Orientreise von 1850 geschriebenen Briefe ein.

     In diesem Sinn gemahnen auch Alkans eingesprengte Barbarismen an eine Attacke gegen Pläsier und Ornament der zeitgenössischen Repräsentationskunst und deren Funktion als Spiegel des Zweiten Kaiserreichs. Im Unterschied zur pittoresken, manchmal kolonialistisch gefärbten Manier der Orientalismen Camille Saint-Saëns', erweist sich Alkans Kolorit aus der Zeit um 1850 eher den rund zwanzig Jahre später komponierten Schroffheiten Mussorgskys verwandt.

Hören Sie zur Demonstration die Takte Alkans flankiert von Ausschnitten aus Saint-Saëns' Fantasie Africa und Mussorgskys Bildern einer Ausstellung.

Bsple. 7,8,9: Saint-Saëns, Africa, Fantasie f. Klavier u. Orchester

           Tutti u. Solo des arabischen Themas

           (Philippe Entremont; Orchestre du Capitole de Toulouse, Michel Plasson)

 

​Alkan, Concerto op. 39, 3.Satz (=Etüde op,39, 10)

           Costallat 117/II/1 -117/V/2(Abblenden)

           (Smith)

 

Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung, Die Hütte der Baba Yaga, T. 1-30

                     (Vladimir Horowitz)

 

Und doch trifft sich die Organisation des "Allegretto alla barbaresca" unter dem Zeichen der Verstörung mit einem Charakteristikum des Divertissements im Zweiten Kaiserreich: mit dem Tableau der atemlosen, das Ausschwingen der Bilder und Gedanken unterbindenden Zerstreuung als der Laune des hektischen Wechsels. Mehr noch: mit der Dramaturgie der politischen Bühne und ihres Hauptakteurs, Napoleons III.

     "Sprunghafte Ausfälle" und "überraschende Entschlüsselung gehören zur Staatsraison des second empire und waren für Napoleon III. kennzeichnend", vermerkt Walter Benjamin in seinen Baudelaire-Studien. Und Marx beschreibt schon den Präsidenten Louis Bonaparte als einen Mann, der "die Anarchie selbst im Namen der Ordnung erzeugt"; der wie in der Rolle eines "Taschenspielers" genötigt ist, "durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich...gerichtet zu halten, also jeden Tag einen Staatsstreich en miniature zu verrichten".

     Das Abrupte und Unvorhersehbare im Wesen des "Coup d'Etat", des Staatsstreichs, aber findet sein ästhetisches Pendant im pianistisch virtuosen "Coup de main", dem Handstreich im wahrsten Sinn des Wortes. So bereits zu Beginn des "Allegretto alla barbaresca", wenn ein Fortissimo-Zugriff D-Dur und Cis-Dur zusammenzwingt. Tektonisch äußert sich das Prinzip des Unvermittelten jedoch innerhalb eines Satzes, dessen harte Fügung verschiedenster Charaktere wie der kalkulierte Putsch eines "Coup des force" gegen das Postulat des Sinns wirkt. Sinn in diesem Fall verstanden als der nachvollziehbare Plan im Übergang von Affekten.

     Diese Radikalität des Rhapsodischen, von der das Reglement des Sonatenhauptsatzes zum Verschwinden gebracht wird, läßt den Vorwurf der Klitterung hinter sich. Insofern sich nämlich das Verfahren der Montage als das konstruiert Barbarische dieser "alla barbaresca" überschriebenen Komposition präsentiert. Wie gesagt: Alkans Musik nähert sich dem Kaleidoskop des Amüsements an, um es zu unterhöhlen und die Brüche freizulegen. Wer den Schlußsatz des "Concertos" wörtlich nimmt, verkennt seine Doppelbödigkeit: den Sprengsatz der Ironie inmitten der prätentiösen Schwergewichtigkeit dieses Finales.

Bspl. 10: Alkan, Concerto op.39, 3.Satz (=Etüde op39,10),

               Costallat 103/III/1 b.z. Ende (Smith)

 

Prosa und ferner Klang

 

Noch in der Wahl der Titel finden sich bei Alkan nicht selten Momente, die das Ideal des Poetischen aufrauhen: Schocks der Harmonik, asymmetrische Periodenstruktur, die Kombination extremer Register, Primitivismen hartnäckiger Wiederholung, das Montagehafte zahlreicher Passagen, Sequenzen des Trivialen. Schumann, der in der Neuen Zeitschrift für Musik zweimal auf Werke Alkans zu sprechen kam, hielt denn auch mit schroffer Ablehnung nicht zurück. Seine Vorwürfe in Richtung einer oberflächlichen, verworrenen, unnatürlichen und unwahren Kunst greifen Motive auf, die bereits seine Rezension der Berliozschen Symphonie fantastique bestimmt hatten. Und Berlioz' Name ist es auch, den Schumann in seine Alkan-Kritik einbringt.

     Die von Faszination wie von Abwehr gleichermaßen geleitete Analyse der Symphonie fantastique, von der aus sich das Alkan-Verdikt präzisiert, weist gerade das "Rohe und Bizarre" zurück, das Schumanns eigener Vorstellung vom "Poetischen" widersprach. Als "gequält, verzerrt", "platt und gemein" geahndete Harmonien erregen ebenso Anstoß wie die Irregularitäten der Periodik oder das Konzept des Programmatischen. Das Vordringen der Prosa des Wunderbaren, des zum Reich des Schönen und Erhabenen entgrenzten künstlerischen Imaginationsraums, zu beschneiden.

     Es sei in diesem Zusammenhang eine Stelle aus einem der seltenen Kammermusikwerke Alkans zitiert: aus der Sonate de Concert für Violoncello und Klavier, die 1857 bei Érard zur Uraufführung kam. Der Komponist selbst übernahm den Klavierpart, Cellist war Auguste Franchomme, der schon neun Jahre zuvor zusammen mit Chopin dessen Violoncellosonate aus der Taufe gehoben hatte. Dem dritten Satz seiner Komposition stellt Alkan Worte des Propheten Micha aus dem Alten Testament voran: "Wie Tau vom Herrn, wie Regen aufs Gras, der auf niemand harrt, noch auf Menschen wartet." Der Passus verweist nicht nur auf Alkans intensive religiöse Studien - zur Zeit der Entstehung der Sonate arbeitet der Komponist an einer Bibelübersetzung -, er verschlüsselt überdies dem Kontext nach Erwähltheit und Einsamkeit des Künstlers im sakral chiffrierten Naturbild.

     In diesem Adagio stößt ein mystisch gefärbter, gleichsam heiliger Klangbereich hart auf die Prosa einer profanen, fast trivialen Melodie. Sie vermittelt in ihrer herb lyrischen Stimmung etwas von jener arte povera, die dem Idiom des frühen Mahler zu eigen ist und schon am Ende des vorhergehenden Satzes zu vernehmen war.

 

Bspl. 11: Alkan, Sonate de Concert op.47 (f. Violoncello u. Klavier), 2. Satz, T. 187-Ende

               (Interpreten: Yehuda Hanani/Edward Auer)

Das Adagio nun gewinnt aus dem Kontrast zwischen der Sphäre der "musica coelestis" und der Niederung der irdischen Melodie einen inneren Monolog der Sehnsucht. In dessen gebrochenen Ton setzt sich ein Wundmal der Fremdheit in Klang um. Sensibilisiert zudem durch die jüdische Erfahrung von Ausgeschlossenheit und Heimatlosigkeit gewinnen diese Takte einen Ausdruck von Wehmut, der sie in die Nähe vergleichbarer Stellen bei Heine und Mahler rückt. Zwar verdichtet sich von der prosaisch unteren Region aus die Aura der himmlischen Musik zur Wunschfigur, doch wirkt der naive Tonfall dieser Takte sentimentalisch reflektiert: als "pseudonaïveté", wie es an einer anderen Stelle Alkans heißt. Was bleibt, wird zur Erinnerung an eine ferne Idylle.

 

Bspl. 12: Alkan, Sonate de Concert op. 47 (f. Violoncello u. Klavier), 3. Satz, T. 16-41

               (Hanani/Auer)

 

Triebgrund Natur

Die zwölfte der 1857 publizierten Etüden durch alle Molltonarten op. 39 betitelt Alkan mit Le Festin d'Ésope, "Äsops Festmahl". Die Etüde - eine der gelungensten Schöpfungen des Komponisten und einer der großen Variationszyklen französischer Klaviermusik -, offeriert ein Kompendium raffiniertester Pianistik. Die entwirft eine Bühne von 25 Abwandlungen des folgenden achttaktigen Originalthemas:

Bspl. 13: Alkan, Le Festin d'Ésope ( = Etüde op.39,12)     Lewenthal 2/I/1-2/II/4

               (Michael Ponti)

 

Die einzelnen Variationen in Anspielung auf Äsop, den Vater der antiken Fabelliteratur, als prägnante Tierporträts entschlüsseln zu wollen, wäre müßig und verfehlt. Was in Le Festin d'Ésope an das Gestaltungsprinzip der Fabel erinnert, ist in der Faktur der Variationen zu suchen. In ihrer charakteristischen Knappheit, im Esprit der Pointe oder in der verdichtenden Abbreviatur. Desgleichen wären tierhaft-animalische Spuren, gerade im Zusammenhang mit der geistreichen Komik des Stücks, subtil zu entschlüsseln. In Anlehnung an Freud etwa, dessen Überlegung zufolge ein Teil der "komischen Wirkung, welche Tiere auf uns äußern", von der "Wahrnehmung solcher Bewegungen an ihnen" herrührt, "die wir nicht nachahmen können". Bei Alkan erinnert daran das Undomestizierte, das dem von der achttaktigen Periode getragenen Sprachcharakter der Musik zuwiderläuft. So beispielsweise ein mit lauthaft schriller Harmonik eingefärbter, irregulär gestischer Tonfall, der sich mitunter in gehetzt rasende Läufe gleich panischen Fluchtbewegungen verwandelt.

 

Bspl. 14: Alkan, Le Festin d'Ésope, Variationen XIII, XVII, XVIII (Ponti)

 

Entscheidender aber ist in Alkans Zyklus der Kontrapunkt von Natur und Zivilisation, deren wechselseitiges Umschlagen und ihre gegenseitige Brechung. Klar wird dies anhand der dem Reigen der Verwandlung eingesprengten Zitate und Signale von Marsch, Fanfare oder, wie in Variation XXI, von Jagdmotiven.

Bspl. 15: Alkan, Le Festin d'Ésope, Variation XXI (Ponti)

Solche kulturalen Splitter verweisen, ebenso wie das bereits im Titel angedeutete Arrangement des Festes, auf den zivilisatorischen Bodensatz einer Musik, die den Kanon tonaler Syntax immer wieder vehement unterläuft. Die sich in ihrem oftmals geräuschhaften, fahrigen, wie aufgescheucht wirkenden und dem Laut angenäherten Duktus vom Ausdruck von Natur angleicht. Daß und auf welche Weise aber die Musik das zivilisatorische und naturale Sediment als Vexierspiel entfaltet, verdeutlichen die 23. und 24. Variation.

Bspl. 16: Alkan, Le Festin d'Ésop, Variationen XXIII u. XXIV (Ponti)

"Tempestoso", "stürmisch", steht über diesem Variationenpaar der verwischten Kontur. In ihm hebt sich mit der zerfließenden Erinnerung an die ursprüngliche Gestalt des Themas die starre Trennung von äußerer und innerer Natur auf. Im Schauer soll der Hörer seiner eigenen Natur bewußt werden. Das durchgängige Tremolo wird zum "tremor", der Außen und Innen verschränkt; sowohl die Gewalt eines Erdbebens wie die Betroffenheit des Erbebens bezeichnen kann. Ähnlich verschmelzen in Alkans Musik Sturm und innerer Aufruhr, schließlich Drohgebärde und Furcht, Schrecken und Erschrecken. Daß sich dieses Aufdecken des Triebgrunds zwischen die Gestaltungen einer Jagdszene und seiner triumphal akzentuierten Marschpartie einschiebt, verstärkt seine Bedeutung als Zivilisationschiffre. Der vom Virtuosen als einem Prospero von des Komponisten Gnaden entfachte Klangsturm legt das archaisch-anarchische Natursubstrat der Gesellschaft bloß. Gut zwanzig Jahre früher, wenngleich bei weitem zahmer, ließ ja schon der Sittenspiegel der hommes-bêtes-Karikaturen in Grandvilles Métamorphoses du jour die bürgerliche Konvention auf ihre animalische Basis hin durchlässig werden.

     Es war bereits vom Esprit des Komischen als einem der Affektstränge in Alkans Komposition die Rede. Was bewirkt aber im "Festin"-Szenarium diesen Radius der Heiterkeit und seine parodistischen oder satirischen Schattierungen? Nochmals sei Freuds Theorie des Witzes paraphrasiert. Die Art der Abweichung der einzelnen Variationen vom thematischen Grundmodell wird als Kontrastspanne zu der im inneren Ohr ständig präsenten, weil äußerst eingängigen thematischen Ausgangsgestalt mühelos vergleich- und erfaßbar. Alkan übernimmt die Rolle des hintersinnigen Rhapsoden, der die Aufmerksamkeit des Hörers spielerisch am roten Faden des beibehaltenen symmetrischen Themengerüsts entlanglaufen läßt. Von keiner Anstrengung getrübt schafft die Musik damit eine Grundbedingung für die Lust der Komik: die Befreiung vom Zwang angespannter Konzentration. Vor dieser Folie der Rezeption entfaltet Alkan seine skurril witzige Verfremdungstechnik; läßt er die Verwandlungen in abrupten Affektsprüngen Revue passieren, enttäuscht und überrascht er die vom Ausgangsmodell her genährte Erwartung ständig mit einem Feuerwerk der Metamorphosen und der "komischen Differenz". So setzt er unter Ersparnis angestrengter Hörarbeit die überschüssig gewordene Energie der Konzentration zur Abfuhr in den Emotionen "komischer Lust" frei.

     Eine geraffte Auswahl einzelner Variationen soll die geistreich witzige Methode dieser Travestie knapp und geschärft vor Ohren führen.

 

Bspl. 17: Alkan, Le Festin d'Ésope, Thema und Variationen III,XIX,XXII (M.Ponti)

Dieses Verfahren ändert sich in der Coda allerdings schlagartig. Schon zuvor durchsetzt die Musik neben der ironischen Nuance immer wieder ein Ton der Trauer, des "Lamento", auf den die Überschrift einer der Variationen anspielt. Er stellt die Kehrseite der dionysischen Ausgelassenheit vor und verbindet sich der Fesselung des Trieblebens der Töne durch das kulturale Sediment des Variationskorsetts; wie ja Natur selbst in Musik immer nur als zweite Natur imaginiert werden kann.

Mit Beginn der Coda wandelt sich Alkans Methode also entscheidend, insofern hier die Arbeit motivischer Fortspinnung eingebracht wird. Indem dieses prozessuale Moment die Gefangenschaft im Maskenspiel der Variationen als einer ständigen Verwandlung des Gleichen sprengen will, ohne an ein Ziel der Befreiung zu gelangen, gewinnt die Musik einen verzweifelten Unterton.

Bspl. 18: Alkan, Le Festin d'Ésope, Lewenthal 24/IV/4 -26/III/1

              (Ponti)

Es klingt, als wollte die Musik im Ausbruchsversuch aus der verhext in sich kreisenden Textur hin zur Wiedergewinnung der befreiten Themengestalt den Ton jenes Wörtchens "Mutabor" treffen, an das in Hauffs Märchen Kalif Storch die Entzauberung vom tierischen zum menschlichen Leib gebunden bleibt. Die Lust der Komik aber, die Alkans tönende Metamorphosen im Hörer erregen und die bei Hauff des Erlösungswort ins Vergessen sinken läßt, erstirbt auch am Ende der Variationenreihe. Als wäre durch diese Lust ähnlich wie im Märchen das magische Unterpfand zur ersehnten Rückverwandlung entschwunden. Das Thema, an das nach dem bis zum Fortefortissimo gesteigerten, dann ermattenden Versuch, dem Labyrinth des Motivzirkels zu entkommen, nur noch eine lakonisch dunkle Referenz erinnert, bleibt entstellt.

Bspl. 19: Alkan, Le Festin d'Ésope, Lewenthal 26/III/2 b.z.Ende (Ponti)

Nachdem Sie bis jetzt Ausschnitte aus Alkans "Ésope"-Variationen in der Interpretation Michael Pontis gehört haben, soll dieses Alkan-Porträt nun eine Wiedergabe der gesamten Etüde durch Ronald Smith beschließen. Die Widergabe einer Etüde, die zur Allegorie der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen der Entbindung  gebrochener Natur und der Verflechtung dieser Entbindung mit immer auch der Fessel geschichtlicher Naturbeherrschung wird. So klagt am Ende die Komposition im dialektischen Changieren von Natur als Geschichte und von Geschichte als Natur deren Unerlöstheit ein. Unter diesem Aspekt aber verweigert Alkan dem Zyklus mit seinen dionysischen Schüben und den Spuren der Trauer als dem Eingedenken von Natur die falsche Versöhnung.

 

Bspl. 20: Alkan, Le Festin d'Ésope (ganz) (Smith)

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