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SOUVERÄN UND UNTERTAN

Sklavenmoral oder Via regia der Sittlichkeit?

Kants Ethik und einige Folgen

Große Philosophie hat immer etwas mit Wahnwitz, Radikalität und artistischem Risiko zu tun. Als Kant daran ging, den Nachweis moralischer Gesetze a priori zu liefern, war auf ethischem Terrain zudem ein athletischer Akt der Reflexion geboten. Eine Gewichtsverlagerung von unten nach oben, vom Gefühl zur Vernunft. Beanspruchten doch moralische Gesetze a priori vor aller Erfahrung und ohne Rücksicht auf psychologische Beweggründe zu gelten. Und dies, obwohl David Hume das Phänomen Sittlichkeit plausibel vom Bereich der Empirie her entwickelt hatte. Angesichts solch sensualistischer Vernunftbeschränkung betrat Kant eine Bühne moralphilosophischer Debatten, die sich vorwiegend am Maßstab von Glück und Eudämonie orientierten. Mit einem Gegenentwurf, den er 1785 in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten umrissen und schließlich in der Kritik der praktischen Vernunft zum systematischen Abschluß gebracht hatte. Magna Charta einer Ethik rein aus der Vernunft und mit dem Gipfel jenes Sittengesetzes, das als "kategorischer Imperativ" einen der suggestivsten Sätze der Philosophiegeschichte repräsentiert: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."(1)

     Kants Intention: wider die Unmündigkeit und Zufälligkeit des menschlichen Triebwesens ein absolutes ethisches Prinzip zu inthronisieren. Neuralgischer Punkt seiner Unternehmung: kann Freiheit gegen Naturgesetzlichkeit und Determinismus gerettet werden. Gegen eine Physik der Moral, wie sie etwa d'Holbachs Système de la nature von 1770 propagierte: "Die Fatalität ist die in der Natur festgesetzte ewige, unwandelbare, notwendige Ordnung". Ihr zufolge "gehen die Men­schen gesellschaftliche Verbindungen ein, verändern sie sich gegenseitig, werden sie gut oder böse"(2). Kant wußte, was auf dem Spiel stand, wenn er den Fatalismus das "alle Moral affizierende, gewaltsame Prinzip"(3) nannte. Nicht umsonst erscheinen in seiner Philosophie immer wieder Varianten des "homme-machine" als Gegenbild der Freiheit: der Mensch als Marionette und Vaucansonsches Automat inmitten eines Szenariums, in dem "alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde"(4).

     Die Hypothek von Determinismus und Fatalismus tilgt Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft mit einem Modell der Doppelkausalität. Einer nach der Natur und einer aus Freiheit. Mit einem Modell arbeitsteiliger Koexistenz also. Ihm zufolge offenbart sich Vernunftkausalität an den Imperativen, am Gebot des Sollens. Fremd einer Natur, die in den Triebgrund des Wollens ver­strickt bleibt. Vernunftstringent und gut aufklärerisch indes verweist das Faktum des Sollens auf die Potenz des Könnens. Das Sittengesetz auf unsere Freiheit. Du sollst, denn Du kannst - Du kannst, denn Du sollst!(5)

     Stringent demnach auch, daß für Kant eine Handlung nur dann moralischen Wert besitzt, wenn sie "ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht"(6) geschieht. Allein aus Achtung für das Sittenge­setz. Unbehelligt vom Aufruhr der Leidenschaften, die den sittlichen Grundsätzen in die Parade fahren. Setzen doch solche "passiones animi" als "Krebsschäden für die reine praktische Vernunft"(7) die Armatur von Freiheit und Autonomie außer Kraft. Vernunft soll deshalb den Willen "ohne Voraussetzung irgendeines Gefühls" bestimmen. Ein Diktum, dem Goethe/Schillers Xenien-Spott­lust nicht widerstehen konnte. "Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. / Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, / Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut."(8)

     Wie vom Determinismus und vom Spannungsfeld der Triebvektoren reklamiert Kants Sit­tenprinzip Unabhängigkeit auch von den ökonomischen Mechanismen. Zwar interpretiert Kant den gesellschaftlichen Antagonismus als Motor des kulturellen Fortschritts, doch bleibt der Kampfplatz der bürgerlichen Warengesellschaft letztlich empirische Niederung. Vergleichbar der Triebmacht der Leidenschaften im Willensspektrum der praktischen Vernunft. "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erha­ben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."(9) Die Würde des sittlichen Charak­ters nämlich. Einzig dessen Moralität ist nach Kant in der Lage, die Funktionalität der Austausch­barkeit zu überschreiten. Deutlicher könnte sich die Reaktion auf den Faktor Ökonomie in Kants Humanum nicht manifestieren. Gegen den allmächtigen Tauschzusammenhang und die Herrschaft der nivellierenden Äquivalenzform soll die Einzigartigkeit des sittlichen Charakters, gegen ein blindes Konkurrenzgefüge, das den einzelnen zum Objekt schicksalhafter Marktdiktate instrumen­talisiert, die Autonomie des Vernunftsubjekts behauptet werden. Realistisch genug allerdings, wenn eine Variante des Sittengesetzes gebietet: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest."(10) Nicht zufällig wurde der kategorische Imperativ zu einem Zeitpunkt als sittliche Lo­sung ausgegeben, als Konkurrenz in der Arena der bürgerlichen Gesellschaft noch liberalistisch ausbalanciert zu denken war, während sich der Garantiefonds der Aufklärung, die Konvergenz der Gattungsvernunft mit der des einzelnen, unaufhaltsam zu zersetzen begann.

     Kants radikale Gesinnungsethik weiß sich ausschließlich der Achtung für die "Majestät" des Sittengesetzes verpflichtet, ohne Rücksicht auf Wirkung und Erfolg des moralischen Handelns. Eine genial ausgezirkelte Konstruktion, die subjektive Verantwortung und makroethische Belange zum Einstand bringen will, indem sie den kategorischen Imperativ von empirischem Ballast frei­hält. "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Natur­gesetze werden sollte."(11) Übrig bleibt die reine Form des Gesetzes. Von nun an geht in Kants Hohe Schule, wer lernen will, wie sich Gattungsappell und Subjektemphase zur Formel zwingen lassen; wie ein Prinzip universal wird oder, nach Auskunft der Kritik, formalistisch.

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Um den Blocksberg der Triebe und Begierden zu kultivieren, verinnerlicht Kant die Machtkonstel­lation von Herr und Knecht. Souverän und Untertan in Personalunion zu verbünden heißt, sie ins Refugium des ethischen Subjekts einzuziehen. Zwar "demütigt" das moralische Gesetz, indem es das Verlangen der Neigungen bricht, schafft dadurch aber auch zugleich ein Gefühl der "Erhebung" im Triumph sittlicher Freiheit. Von "freier Unterwerfung" wird gesprochen. Davon, daß jene Nöti­gung "durch die Gesetzgebung der eigenen Vernunft" ausgeübt werde. Euphorisch hochgestimmt deshalb Kants Hymne an die Pflicht: "Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, (...) vor dem alle Neigungen verstummen, (...) wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?"(12) Kants nüchterner Stil entäußert sich hier zum Überschwang aus Devotion und schwärmerischer Verzückung. Zur Huldigung an eine Vernunft, die den Exorzismus von Sinnlichkeit als Freiheit zu feiern erlaubt. Rückten nicht schon dreizehn Jahre zuvor dem hellsichtigen Blick des Jakob Mi­chael Reinhold Lenz im Hofmeister-Drama Autonomie und Kastration in bedrohliche Nähe?

     Daß das Sittengesetz ein "Faktum der Vernunft" ist(13), das Gewissen eine "ursprüngliche intel­lektuelle und moralische Anlage"(14), und das, "was Pflicht sei, sich jedermann von selbst darbietet"(15), zielt bei Kant nicht nur auf eine Ethik, die fern allen Privilegien und Klassenschranken jedes vernünftige Wesen unter Vertrag nimmt. Gerade das Motiv vom niedergehaltenen Terror der Passionen und Neigungen kennzeichnet Kants sittliches Leitprinzip als bürgerliche Konfession par excellence. Scharf abgesetzt von aristokratischer Libertinage und Genußeuphorie. So verwundert es nicht, wenn Kants Begeisterung bis in den Duktus hinein an die eines anderen Heroen bürgerlicher Aufklärungsphantasien erinnert. An Rousseau und dessen ersten Discours von 1750: "O Tugend! erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen (...) Sind deine Prinzipien nicht in alle Herzen einge­graben? Genügt es nicht, um deine Gesetze zu erkennen, wenn man in sich geht und die Stimme des Gewissens hört, wenn die Leidenschaften schweigen?"(16)

     Später wird Rousseaus Jünger Robespierre Laster, Sinnenreiz und Lust der aristokratischen Tyrannen sittenstreng vom Ideal der Tugend, Armut und Einfachheit republikanischer Gesinnung scheiden und über diesen puritanischen Zug zu Kant in Wahlverwandtschaft treten. Über die Ver­dachts- und Denunziationsorder gegenüber jeglicher Insurrektion von Sinnlichkeit und Luxus. Entsprechend konsequent führt Robespierre vor Augen, wie politische Praxis den Tugendrigoris­mus in Terrorismus umschlagen läßt: im Zeichen der Guillotine, die dem corps social in Serie das Gesetz der Trennung von Körper und Geist als tödliches Menetekel einritzt. Damit wird ein Trans­fer zwischen Ethik und Politik manifest, der das Reflexionsspektrum Kants und des deutschen Idealismus entscheidend mitbestimmt. Innere Vollkommenheit basiert hier auf Selbstbeherrschung qua Vernunftzentralismus. Schon erkenntnistheoretisch gilt als ausgemacht, "daß der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil ohne sie es keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbei­tet werden könnte"(17). Was Wunder, wenn Kants Prioritätsakzent hochbrisante Herrschaftsfiguren formuliert. "Die Sinne gebieten nicht über den Verstand. Sie bieten sich vielmehr nur dem Ver­stande an, um über ihren Dienst zu disponieren."(18) Jener platonischen Tradition verpflichtet, die den Mikrokosmos menschlicher Seelenkräfte (Leidenschaften wie Tugenden) dem ständestaatli­chen Makrokosmos korrespondieren läßt, signalisiert die Analogie zwischen Sinnlichkeit und Pöbel Furcht. Furcht sowohl vor einer Transformation der Gesellschaft von unten wie vor der hedonisti­schen Entmachtung vernunftzentrierter Bändigungsethik. Furcht also, die sich dem Wahn bürgerli­cher Absolutheit nur als sittenlose Zügellosigkeit, als Anarchie konkretisieren konnte. "Gesetzlo­sigkeit ist der ursprüngliche Charakter der Sinnlichkeit", heißt es bei Kants Meisterschüler Fichte(19). Nur indem ihr die "Uniform der Vernunft" angelegt wird, kann die herrschaftslüsterne und ständig zum Komplott bereite Triebcanaille gezähmt und einer "Kultur zur Freiheit" förderlich gemacht werden. Nicht weniger deutlich Schiller, der mit Blick auf die Französische Revolution Naturtrieb und Sinnlichkeit dem "brutaleren Despotismus der untersten Klassen" assoziiert: "In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedi­gung eilen"(20).

     Am Hochgefühl der Textpartien Rousseaus und Kants läßt sich die Rendite ablesen, die die Fron der Triebkontrolle verbuchen kann. Die Lustprämie für die Dressur der Lust. Zugleich scheint das hehre Vokativ-Pathos zu ahnen, daß das Versagen von Verinnerlichungsregie und Koordinati­onsdiktat im "stahlharten Gehäuse" des Arbeitsethos tödlich ist. Kant-Lektüre also auch mit Max Weber? Nur zu gut harmoniert die Abhängigkeit zwischen der Freiheit des Willens und der Rigi­dität der Triebkontrolle mit dem Sittengesetz der Profitgesellschaft; dem der Ökonomie. So fällt es nicht schwer, in der Morallehre des Philosophen Leitmotive der Protestantischen Ethik auszuma­chen und die rationale Spur der christlich-innerweltlichen Askese aufzudecken. Etwa in der "Sup­rematie des planvollen Wollens" über die unberechenbare "Macht der irrationalen Triebe" als oberster Aufgabe im Erziehungsprozeß der "Persönlichkeit" zu "aktiver Selbstbeherrschung"(21). Bestimmt nicht auch Kant Persönlichkeit als "Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur"? Etabliert nicht auch er die Instanz des Gewissens als "inneren Gerichtshof"? Schließlich, gründet nicht auch Kants Autonomieideal auf der von Weber betonten Opposition der Askese gegen personelle und institutionelle Autoritäten, sprich Obrigkeiten? Allerdings nur, um das Gebot der alleinigen Schuldigkeit gegen das Sittengesetz um so rigoroser zu stabilisieren?

 

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Natürlich verbietet Kants sittliches Apriori die Vermischung von Tugend und Glück nach Art einer Buchführungsmentalität, die ethisches Soll und hedonistisches Haben bilanziert. Zu sehr ist das Prinzip der Eudämonie subjektiven Heilsprogrammen hörig: den Impulsen von Vorteil und Egois­mus (und sei es in Form einer kalkulierten Zufriedenheitsrendite nach guter Tat), als daß es der Unbedingtheit einer Lex ethica gerecht werden könnte. Das Streben nach Glück bricht sich im Kaleidoskop privater Wunsch- und Erfüllungsstrategien. Eudämonie als oberste sittliche Instanz führt zur "Euthanasie aller Moral"(25).

     Zudem: Glück und Tugend decken sich nicht in einer vom Motor egoistischer Interessen in Gang gehaltenen Gesellschaftsmaschinerie und ihrer Energie aus Gewinnsucht und persönlichem Nutzen. Glück wird zur Fata Morgana inmitten der Wüste puritanischer Geschäftigkeit. Zum Refu­gium von Verlangen, Resignation und dem Trost der kleinen Freuden. Oder es verkümmert zum Sperrbezirk reglementierter Scheinvergnügen und Genußparodien unter dem Zeitdiktat der Profit­quanten. Bestenfalls zur Befriedigung am erfolgreichen Wechselspiel von Investition und Ertrag.

     Also kann weder das Trachten nach Glück zur Grundlage des Sittengesetzes gemacht noch umgekehrt eine Entsprechung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit gemäß dem Genre von belohnter Tugend und vom zuschanden gewordenen Laster als Realität unterstellt werden. Und doch wird jene Entsprechung nach Kant vom Vollkommenheitsanspruch des moralischen Prinzips gefordert. Unter einem Blickwinkel allerdings, der auf die Sphäre der Transzendenz verweist: auf Gott und Unsterblichkeit als den postulierten Garanten des "höchsten Guts" und seiner Harmonie von Tugend und Glück.

     Das couragierte Wagnis, mit dem Descartes seiner Methode des Zweifels für einen Augen­blick auch die göttliche Instanz unterwarf, eröffnet den Prolog zum Drama von der Entgöttlichung der Welt. Einer Säkularisierung, der mit dem Einzug der Transzendenz in die Immanenz der Ge­schichte die gottzentrierte Moral porös wird. Kant selbst betont nachdrücklich, daß Ethik keiner theologischen Basis bedürfe. Mehr noch: eine religiös abgeleitete Sittenlehre kollidiere mit dem Autonomieprinzip der praktischen Vernunft, dem unverzichtbaren Gütesiegel moralischer Authen­tizität. Allerdings führe Moral unumgänglich zur Religion.

     Bekanntlich liegt das Manko des exegetischen Geschäfts in einer Art von Eingemeindungs­zwang. Darin, Neues mit dem Kompaß des Althergebrachten vorschnell auf Vertrautes hin auszu­richten. Entsprechend häufig wird Kants Umwertung des religiös-ethischen Begründungsverhält­nisses retheologisiert. Etwa wenn Heine an der Kritik der praktischen Vernunft  moniert, sie habe den "Leichnam des Deismus" wiederbelebt. Oder Nietzsche den Rückfall Kants - mit dem kategorischen Imperativ im Herzen - in die Sucht nach transzendenten Werten kritisiert.(27) Dabei verblaßt, daß Kants Umkehrung der Argumentationsrichtung in Sachen Religion und Moral früh und vehement einer Konstante der Moderne Ausdruck verleiht: der vom Leben in der Fiktion und mit der Maske des "Als ob". Zweifellos bleibt Kants Sittengesetz seinem Unbedingtheitsanspruch nach theologisch inspiriert; zweifellos okkupiert die mit geradezu beneidenswerter Arglosigkeit konstruierte Basis der Kritik der praktischen Vernunft einen Ort, den seit je das Tremendum des christlichen Gottes einnahm; und zweifellos klingt es nach Scholastik, wenn Kant die Idee der Pflicht und des moralischen Gesetzes zur "Undurchdringlichkeit des Geheimnisses" verklärt. Wenn er dem Leser immer wieder suggeriert, daß das Interesse an Sittlichkeit "unmöglich zu erklären", das Faktum einer reinen praktischen Vernunft "unbegreiflich" und eben nur die 'Unbegreiflichkeit des moralischen Imperativs' zu begreifen sei. Dennoch: Kant präsentiert das Numinosum der Transzendenz lediglich als regulative Idee, mitnichten jedoch als dogmatischen Gottesbeweis. Sich zu verhalten, als ob ein "moralischer Weltherrscher und Gesetzgeber" existiere, lautet die Devise, die die "herrlichen Ideen der Sittlichkeit" erst zu "Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung" potenziert.

     Kant setzt den göttlichen Fluchtpunkt als Sinngaranten. Nicht zuletzt aus Grauen vor einer entgöttlichten Welt, die vom Lärm ihrer eigenen Mechanik widerhallt und sich mit kopernikani­scher Optik in der Weite des Alls verliert. Eine von zahllosen Kugeln im unendlichen Raum, auf der "kluge Tiere das Erkennen erfanden"(28). Droht doch im Vakuum des metaphysischen Zentrums das ethische Gravitationsfeld zusammenzubrechen, das die Leitbahnen des Sinns auf der Karte der Moral fixierte. Was Dostojewskij am Problem einer Ethik ohne Gott durchspielt und Nietzsche zur großen Abrechnung mit der Moral herausfordert, kündigt sich deshalb bereits konsequent in de Sades Poème La vérité von 1787 an: als Apotheose des Verbrechens bei gleichzeitiger Demontage des göttlichen Mysteriums und eines zum "Organ der Vorurteile" bagatellisierten Gewissens. Stir­ners Destruktion der Ideale, dieser "fixen Ideen", im Namen des je einzigen Ich markiert nur eine weitere Station im Inflationsprozeß des Sinns, bis schließlich die Dignität von Wahrheit und Ver­nunft über das sprachkritische Ferment dem Bankrott des Absoluten zufällt.

     Nietzsches Provokation: "als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt!"(29), präzisiert die Legitimationskrise säkularer Ethiken. Von nun an ergänzen sich die Suche nach trag­fähigen moralischen Normen und jene philosophische Unerbittlichkeit, die mit detektivischem Blick den Spuren des alten Gottes folgt, um dessen Sinnmetastasen mit genealogisch geschärftem Skalpell bloßzulegen. So gehört spätestens seit Nietzsche zum Fundus des Denkens, ob dem Re­gime des Sinns und dessen theokratischer Wahrheitsgier ungeachtet zahlreicher, primär ästhetischer Attentate und Revolten je zu entkommen sei. Zumal aus dem der Sprache. Vielleicht werden wir Gott wirklich nicht los, "weil wir noch an die Grammatik glauben"(30). Damit etabliert sich das Struktiv vom geschlossenen System als labyrinthischer Zirkel der Erkenntnis: daß der Nichtsinn selbst wiederum zum Sinn wird, die Destruktion von Metaphysik sich erneut als Metaphysik mani­festiert oder die Subversion von Ökonomie der Ökonomie verschworen bleibt. Damit etabliert sich aber auch die Sucht, über die Figur des Unhintergehbaren neue Sicherheit, womöglich den großen Akt der Sinnstiftung zu inszenieren. Daß Kommunikationsverweigerung dem kommunikativen Apriori nicht entrinnen kann, avanciert bei Apel und Habermas zu einem Begründungsprinzip der Diskursethik.

 

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Intersubjektivität des Genus humanum behauptet die Diskursethik unter Berufung auf das sozio­kulturelle Essential der Sprache. Auch wenn sie die Kommunikationsdesperados und Sprachdefä­tisten dem Sprachverbund mit nahezu dogmatischer Obsession integriert: nach Maßgabe eines methodisch-logischen Arsenals und seiner Beweiskraft, daß dem sozialen Kommunikations- und Verständigungsapriori so gut wie nicht zu entkommen sei. Aus der Sprache und ihrer transsubjekti­ven Vernetzung können wir nicht fallen. Verlockung genug, das Postulat einer idealen Kommuni­kationsgemeinschaft zu konstruieren, auf die jedes Sprachsubjekt eben aufgrund seines sprachfun­dierten Verständigungs- und Vernunftpotentials a priori hin ausgerichtet sei. Doch kann das Argu­ment von der Sprache als der kommunikativ-ethischen conditio sine qua non menschlichen Lebens nicht verdrängen, die Immanenz ihrer operationalen Ratio immer auch als mentales Gefängnis zu begreifen. Zudem lassen sich Genesis und Geltung nicht so voneinander trennen, daß über der normativen Sprachvernunft die Spur zivilisatorischen Zwangs zu vergessen wäre: die Fusion mit dem Trieb der Selbsterhaltung und seinen Behauptungs- und Machtstrategien. Vielleicht zu viel Logik-Optimismus, die irdische Not der Verständigung allzu forsch zur moralischen Tugend der Kommunikation zu verklären und zu sehr auf kritische Konsensfähigkeit zu vertrauen. Während schon Kant mit Netz und doppeltem Boden arbeiten mußte, um einer säkularisierten Ethik Potenz zu verleihen, glaubt  die Diskursethik  den  Hiat  zwischen  theoretischer  und  praktischer  Philosophie mit  transzendental-pragmatischen  Sicherheitsgarantien  überbrücken  zu  können.

     Karl-Otto Apels Versuch einer Letztbegründung in Sachen Ethik jedenfalls visiert einen ar­chimedischen Punkt der Gewißheit an. Gilt es doch, im Theorien- und Methodenbabel einen allge­mein verbindlichen Ort philosophischer Wahrheit zu behaupten. Einen, der den versprengten Dis­kursen das Asyl eines zwar minimalen, aber desto sichereren Konsenses gewährt. Ohne allerdings verhindern zu können, daß die Diskursethik selbst zum Sonderdiskurs gerät. Als einer ihrer heraus­ragenden Ideenlieferanten fungiert Kant. Was die Abstraktheit der ethischen Prinzipien anbelangt ebenso wie hinsichtlich des Instrumentariums regulativer Topoi. Etwa in der Figur einer unendlichen Annäherung an die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Und wie Kant muß auch die Konsenstheorie um des umfassenden Gültigkeitsanspruchs willen all das in Schach halten, wenn nötig ausschließen, was dem Regel-, Ordnungs- und Sauberkeitsideal einer universalistischen Prin­zipien-Philosophie gefährlich werden kann: die Vermischung verschiedener Diskursgattungen, die Subversion logisch-argumentativer Gesetzmäßigkeiten, die Mißachtung des kommunikativen Goodwill. So charakterisieren durchweg Prädikate wie "ernsthaft", "zurechnungsfähig", "höflich" oder "sinnvoll" die Grundbedingungen einer Theorie, die über ihre Kontrollmechanismen jener Not der Praxis verpflichtet bleibt, die sie im rationalen Konsens bewältigen will.

     Solche Sicherheitsphantasien vergessen zu leicht, daß seit Kant Moderne und Wagnis Syno­nyme sind. Im Zeitalter der Kritik wandelt sich Philosophie zum Expeditionsunternehmen, der Philosoph, der den Kontinent des Wissens neu vermißt, zum Forschungsreisenden. So wirkt bereits die Lektüre Kants in einigen Passagen wie die des Logbuchs eines James Cook der Philosophie; eine Logonautik, deren maritime Bildwelt das Szenarium von Aufbruch, Gefahr und vom Orten neuer Ufer präzis zur Sprache bringt. Ihr wird das "Land der Wahrheit" zur Insel, umgeben vom "weiten und stürmischen Ozeane (...) des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald weg­schmelzende Eis neue Länder lügt", ein Land, das "den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht" und "in Abenteuer verflicht"(31).

     Gerade die methodischen Klippen und Abgründe in Kants Erkenntnisodyssee, ihr Risiko ei­ner Irrfahrt des Geistes, eingeschlossen vom unbekannten An sich einer Erkenntnis jenseits der Erfahrung, orientiert am Leitstern des Als ob einer gnadenlos innerweltlichen Moralszenerie, schär­fen sich bei Nietzsche zur Radikalisierung von Fiktion und Schein. Sein Anschlag auf die philoso­phische Tradition setzt eine Sprengkraft frei, die die Bastion transhistorischer Wahrheiten in Trümmer legt. Ontologisch Letztes ebenso wie Nietzsches eigenes Reflexionsdrama. Eine innova­tive Destruktion, die zunächst sämtliche Identitäts- und Gewißheitsdomänen enteignet. Weniger mit der Konsequenz eines totalen Relativismus der Sprachspiele und Spezialtheorien als mit der des Verstummens. Ihr müßte sich stellen, wer von nun an dem Vorwurf des logischen Fanatismus und der Konspiration zum Abbruch des Denkens entgehen will. Allein im ständig präsenten Bewußtsein dieser erkenntnistheoretischen tour de force und angesichts der mächtigen metaphysischen Be­griffshydra setzt Nietzsche auf einen Perspektivismus der Interpretation, auf regulative Fiktionen und die plastische Kraft des schöpferischen Entwurfs. Natürlich ließen die logischen Fallensteller nicht lange auf sich warten: bleibe doch Nietzsches Wendung von Sprache und Moral gegen das Vernunft- und Wahrheitsmonopol schließlich selbst unrettbar ans logosfixierte Denkterrain gefes­selt. Ein Einwand, dem Entscheidendes entgeht: daß nämlich von nun an die Hauptagenten des logischen Diskurses, die von Identität und Widerspruch, nicht mehr vom Bodensatz ihrer eigenen Zersetzung zu lösen sind; daß der Götze der formalen Logik zum Popanz wird, sobald er sich zum Universalen aufspreizt, das Instrument des performativen Widerspruchs zum repressiven Kalkül der Ausgrenzung. Zu viel fällt durch die Maschen des logischen Netzes, als daß sich die sprach­philosophische Rettung des Vernunftbegriffs mit ihrem Ideal von Verständigung, Solidarität, Ko­operation und dem Fluchtpunkt der idealen Kommunikationsgemeinschaft zum Universaldiskurs von Wahrheit und Vernunft stilisieren dürfte.

     Natürlich wäre es absurd, Bedeutung und Notwendigkeit rational-argumentativer Diskurs­formen in Abrede zu stellen. Etwa was die Belange einer bedürfnis- und zweckorientierten politi­schen Praxis betrifft. Oder zu verkennen, daß eine Ethik, die sich nicht im Vorteils- und Interessen­geflecht des gesellschaftlichen Molochs verlieren will, schon allein um des Gattungskonsenses wegen auf die Weitwinkeloptik makroethischer Belange zu achten hat. Auf "Weltprobleme" wie die "weltweite Ausbeutung der Natur, den Hunger in der Welt und die Bedrohung des Weltfrie­dens"(32). Ob sich allerdings ein Denken über formallogische Regelstimmigkeiten, über den Fetisch von Allgemeinheit und Abstraktion und einen "schwachen Vernunftbegriff" mit Wahrheit verwechseln darf, bleibt mehr als fraglich.

     Vielleicht liegt der Kurzschluß gerade darin, angesichts der gesellschaftlichen Komplexität und ihrer entstellten Potentialitäten auf die Eindimensionalität eines Vernunftdiskurses zu setzen, auf eine Philosophie des Reißbretts, die Einheit und Sicherheit nur um den Preis des logisch regle­mentierten Ausschlusses bewahren kann. In diesem Sinn eignet der Diskursethik, abgesehen vom Ideal eines männlichkeitsfixierten Moralentwurfs, etwas Naives und Anachronistisches. Zudem die Weigerung, sich einem Wagnis auszusetzen, das die Separierung der Diskursvielfalt aufhebt und riskant in die eigene Konstruktion aufnimmt. Als Befreiung von jener erzbürgerlichen Angst, die sich die Transformation eingespielter Ordnungsstrukturen nur als eine in Richtung Chaos vorstellen kann.

 

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Zur Ethik Kants gehört der Kontrapunkt ihrer Kritik. Schon der Kantianer Schiller opponierte ge­gen einen Rigorismus, der jede Spur von Neigung aus dem Bereich des Sittlichen verbannt, und titulierte den Königsberger Weltweisen gar als Drakon. Hegel entdeckte im Formalismus des kate­gorischen Imperativs das "Prinzip der Unsittlichkeit" selbst. Schopenhauer prangerte Kants Pflicht- und Sollensethik als "Sklavenmoral" an, sofern sie den Drohungen und Versprechungen einer "ge­bietenden Stimme" in eigennützigem, moralisch wertlosem Gehorsam ergeben sei. Hatte Nietzsche das "Königsberger Chinesentum" auf "Widernatur" und "décadence" hin seziert und der ontologi­schen Würde von Moral genealogisch den Gnadenstoß versetzt, so ließ Freud die ethische Bastion auf ihren archaischen Grund hin transparent werden. Er sensibilisierte den Blick für die Verwandt­schaft zwischen Moral und Tabu, für das Zwangsartig-Blinde des kategorischen Imperativs, für die Pathologie der Pflicht. Er ortete die Ideale des "Kultur-Über-Ichs" mit einer Topologie von Wunsch und Gesetz, die die ödipale Verfaßtheit der Kultur fixieren sollte, ihr Drama von Triebbegehren und Triebverzicht. Schließlich hob Adorno das repressive Instrumentarium der kantischen Ethik auf den Prüfstand: ihre Aufrüstung gegen den Skandal der Sinnlichkeit, das Arsenal ihrer Herr­schafts- und Gewaltfiguren, die Vernunftdespotie der "Nötigung" und "Unterwerfung". Von hier aus wäre manches besser zu verstehen, was dem Abwehrschema von Gut und Böse allzu leicht als unfaßbar anheimfällt.

     Daß etwa Adolf Eichmann vor Gericht unermüdlich von Pflicht und Gesetz sprach, ist be­kannt. Weniger vielleicht, daß er auf eine Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft verwies und mit einer Wiedergabe des kategorischen Imperativs aufwartete. Nun gilt Kant gerade als Prüfsonde sittlichen Handelns, ob die einzelne Willensmaxime zum ethischen Prinzip einer allgemeinen Ge­setzgebung tauglich sei. Ideal einer Autonomie, das bei Eichmann zur Unterwerfung unter den Willen des Massenmörders Hitler pervertiert, zur Hörigkeit eines Verwaltungsmörders, der die Deportation der Juden in die Vernichtungslager organisiert, ohne sich je in die "Nesseln einer eige­nen Entscheidung" zu setzen. Getreu Hans Franks "kategorischem Imperativ des Handelns im Dritten Reich": "Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde."(33) Hier geht es nicht mehr um die Souveränität des moralischen Subjekts. Hier geht es um das reibungslose Parieren des einzelnen im Staatsapparat. Originalton Frank: "Das Großdeutsche Reich Adolf Hitlers muß eine Technik des Staates erhalten, die unserer Zeit, ihrer Größe und den Zukunftsnotwendigkeiten unseres Volkes restlos mit der Sicherheit eines maschi­nellen Funktionierens entspricht."(34) Eichmann selbst sprach von "Kadavergehorsam", vom "kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes".

     Wie groß jedoch die Entfernung zwischen Kant und Eichmann aufgrund der Differenz von Autonomie und verbrecherischer Hörigkeit im Pflichtverständnis auch sein mag, sie verringert sich mit Nietzsche über die Theodizee des imperativischen Diktats:  "Der  Mensch muss Etwas haben, dem er unbedingt gehorchen kann". "Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, - das ist deutsche Tugend". "Schliesslich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur deshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen". Entsprechend sieht auch Hannah Arendt in ihrem Bericht von der Banalität des Bösen einen Bezug zwischen der Motivation des NS-Schergen und der Reflexion des Philosophen im Dogma von der Absolutheit des Gesetzes. "Gesetz war Gesetz, Ausnahmen durfte es nicht geben."(36)

     Sobald sich Gattungsbonus und  Menschheitsemphase in der pessimistischen oder kritischen Perspektive des Kulturdiagnostikers zersetzen, wandelt sich der ethische Kosmos vollends zum notwendigen oder überflüssigen Übel. Zur historischen Kulisse pragmatischer Bändigungsnormen. Der kategorische Imperativ wird auf den "kategorischen Imperator" hin transparent. Hat doch der Röntgenblick des Genealogen die Komplizenschaft der durch und durch christlich infizierten Moral mit Ressentiment, schlechtem Gewissen und asketischem Ideal demaskiert und ihren barbarischen Grund, ihr Gewaltpotential nach innen und außen als konstitutiv bestimmt.

     Vielleicht läßt sich die Ethik Kants am ehesten als eine der Melancholie und des Protests begreifen. Als die Erfahrung jenes Wechselspiels von Autonomie und Einsamkeit, das den Einspruch gegen die Instrumentalisierung des Subjekts grundiert. Eine Ethik mit der Physiognomie der Verbissenheit, durchzogen von Spuren der gesellschaftlichen Gewalt. Kants Einsicht, "die Tugend wird immer nötiger aber auch immer unmöglicher in unsrer jetzigen Verfassung"(37), formu­liert ein aktuelles Dilemma. Das Dilemma einer Ethik, die nicht mehr auf das heteronome Gebot des "Du sollst!" und dessen theologischen Kanon von Gut und Böse setzen kann oder auf Univer­sal-Postulate, die letztlich nur der Praxisapathie und dem Zynismus zuarbeiten. Schließlich sind auch die Ethikmodelle der Kommunikationstheorie und des "Prinzips Verantwortung" argumentativ hohl darin, als sie mit dem abstrakten summum bonum der Gattungsvernunft operieren müssen. Das Regulativ, "in  allem  Tun und Lassen" das "Überleben der menschlichen  Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen"(38), nützt wenig, dem schlecht unendlichen Delegations- und Vermittlungsgetriebe der arbeitsteiligen Profitökonomie in concreto zu begegnen. Ebenso wenig wie die Variante eines neuen kategorischen Imperativs bei Hans Jonas: "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden."(39) Gerade solche Redundanzen dürften dafür verantwortlich sein, daß sich die Imperativ-Ethiken trotz ihrer Konjunktur immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt se­hen, ihren ideellen und methodischen Fundus als Konkursmasse des idealistischen Repertoires zu verwalten.

     Ethische Großregulative entschärfen sich im geschlossenen System von Moral und Amoral zum Ornament. Zu massiv ist der ökonomisch stabilisierte Terror der Einverständnisideologien, deren vollmundige Sprachlosigkeit und strangulierendes Moderatorenideal die privaten Hörigkeiten in Bann hält. Ethik heute wäre deshalb auf eine Theorie der Souveränität hin zu transformieren. In Richtung einer Verweigerung jenseits der brutalen Dummheiten privatistischer Regression. Im Bündnis mit einer Logik der Imagination, der Offenheit nicht zwangsläufig als angstgeladenes Chaos erschiene. Einer listigen Autonomie, die ihr eigenes Dereglement einließe. Die kompromißlos für das Tableau der Widersprüche sensibilisiert wäre, ohne es ständig mit dem Firnis einer Distanz- und Bewältigungsrationalität zu überziehen. Konsenstheoretisches Vernunft-Engineering jedenfalls läuft leer, solange es dem Anderen der Vernunft mit einer Art Entwicklungshilfementalität auf die Sprünge helfen will. Solange es sich insgeheim dem expressiven Surplus eines ästhetischen Sensoriums überlegen glaubt, das seit je stärker am "Leitfaden des Leibes" orientiert war und vom Seismograph des Schmerzes aus somatisch fundierten Protest anmeldet. Uneingeschränktes Plädoyer für einen Diskurs stringenter Rationalität, wo er nottut: auf dem Gebiet der Politik mit Blick auf eine human freigesetzte Ökonomie. Aber Skepsis gegenüber einem Denken, das sich aufgrund seiner Gleichsetzung von methodischer Richtigkeit und Vernunftdignität zur universalen Legitimationsinstanz aufspreizt und weiter an der Verdrängungs- und Triumphgeschichte der alten Metaphysik partizipiert.

 

Anmerkungen

  1 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, WW VII, Hg. Wilhelm Weischedel, Frank­furt/M. 1968, S. 140

  2 Paul Thiry d'Holbach, System der Natur, Frankfurt/M. 1978, S. 182

  3 Kant, Rezension zu Johann Heinrich Schulz: "Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der

     Religion", WW XII, S. 776

  4 Kant, KpV, S. 282

  5 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, WW XI, S. 142. 

     Desgleichen Friedrich Schiller, Sämtliche Werke Bd. I, Hg. Gerhard Fri­cke u. Herbert G. Göpfert, München 1980, S. 299. Welch 

     therapeutische Wirkung diesem Frei­heitsmodell für zweifelnde und ringende Gemüter inmitten der Angst vor dem "größten 

     Despoten der Menschheit", dem "Determinismus", zukam, bezeugt ein Brief Johann Heinrich Jung-Stillings an Kant nach 

     Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft:Es "durchdrang mich ein Ge­fühl von Beruhigung, das ich nie empfunden hatte".

     Ich "finde nun apodiktische Wahrheit und Gewißheit allenthalben. Gott segne Sie! - Sie sind ein großes, sehr großes Werkzeug 

     in der Hand Gottes". (Zit. nach Jürgen Zehbe [Hg.], Briefe an Kant, Göttingen 1971, S. 73f.)

  6 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WW VII, S. 24

  7 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, WW XII, S. 600.

  8 Zit. nach Schiller, WW I, S. 299f.

  9 Kant, Grundlegung, S. 68

10 Ebd., S. 61

11 Ebd., S. 51

12 Kant, KpV, S.209

13 Ebd., S. 141

14 Kant, Die Metaphysik der Sitten, WW VIII, S. 573

15 Kant, KpV, S. 149

16 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: Schriften zur Kulturkritik, Hamburg 1978, S. 57

17 Kant, Anthropologie, S. 433

18 Ebd., S. 434

19 Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französi­sche Revolution, Hamburg 1973,

     S. 53

20 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, WW V, S. 580

21 Max Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I, Hamburg 1975, S. 135

22 Kant, KpV, S. 210

23 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 573

24 Weber, Protestantische Ethik, I, S. 158

25 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 506

26 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: Sämtliche Schriften, Hg. Karl Pörnbacher, Bd. V,

     S. 605

27 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA III, S. 562

28 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA I, S. 875

29 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA XII, S. 148

30 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA VI, S. 78

31 Kant, Kritik der reinen Vernunft, WW III, S. 267f.

32 Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin 1981, S. 46

33 Hans Frank, Die Technik des Staates, München 1942, S. 15f.

34 Ebd., S. 18

35 Nietzsche, Morgenröthe, KSA III, S. 187f.

36 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Reinbek/Hbg. 1978, S. 175

37 Kant, Handschriftlicher Nachlaß, Ges. Schr. Bd. XX (Hg. Preußische Akademie der Wissenschaften), S. 98

38 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt/M. 1976, S. 431

39 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1984, S. 36

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