METAspracheATEM
Figuren einer pneumatischen Musik
DeutschlandRadio Berlin (2000)
Bspl. 1: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû~« [Tr. 10: ganz] (0´30´´)
Atemzüge, Atemstöße, gepresst und »stimmlos«, dicht am Geräusch - das Ende eines Streichquartetts. »’Àñð` ãû~«, »Von hier«, überschreibt Mathias Spahlinger eine Komposition, die ihre Titelworte dem Poem Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen von Jannis Ritsos entlehnt. Einer Dichtung des Widerstands aus der Zeit der NS-Okkupation Griechenlands. Dreimal taucht dieses leitmotivische »Von hier« im Gedicht auf: in Form des zukunftsvisionären Kürzels »Von hier zur Sonne«. Ein Kürzel, auf das Spahlinger mit dem Melodie-Fragment »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« anspielt. Im Bereich des kaum Hörbaren allerdings.
Freilich handelt es sich bei dieser Anspielung nur um die vordergründigste Analogie zwischen Text und Musik. Spahlinger geht es um strukturelle Parallelen, nicht um Illustration. Sicher: es gibt in diesem Quartett Stellen, die möglicherweise den Widerhall von Sirenen, von Schüssen assoziieren lassen, ohne in solcher Bildhaftigkeit aufzugehen. Den Ausdruck allgegenwärtiger Beklemmung wie bei Ritsos erreicht die Musik, indem sie jede programmmusikalische Identifikation verweigert.
Bspl. 2: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû~« [Tr. 9: 1´23´´ - 3´05´´] (1´42´´)
Und die komponierten Atemgeräusche? In einer Musik des politischen und ästhetischen Ausnahmezustands, in der sich der Ton oft genug als Tonus, als Spannung eben, zur Detonation schärft: in solcher Musik skizzieren die Atemsequenzen zunächst ein Stenogramm der Gefahr. Ein Protokoll objektivierter Angst und ihrer Abfuhr. Aber ist das alles?
Gewiss: die fiebrige Nervosität, die den Irrlauf der Metaphern bei Ritsos in Gang hält, legt auch bei Spahlinger die Saiten der Instrumente wie Nervenstränge bloß. Musik wird zum verminten Gelände, das harmonische Gänge wie unter Lebensgefahr ausschließt. Der Körper der Instrumente wird selbst zum Territorium, besetzt von den Griff- und Bogentechniken der Interpreten, die das Grauen des Besatzungsterrors zur Topografie jeglicher repressiven Enteignung des Bewusstseins weiten. Bis hinein in die Gestaltung des Bogendrucks, der von der Drucklosigkeit bis zu starker Überhöhung reicht, mit dem Effekt der geräuschhaften Auflösung erkennbarer Tonhöhen: Pressionen, die die Besonderheit des Individuellen auslöschen. Dennoch: bedeutet die Sprache des Atmens in Spahlingers zwölfminütiger Tour de force nichts als ein Zeichen der Angst in einer Musik des Widerstands?
Bspl. 3: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû~« [Tr. 9: 0´00´´ - 0´40´´] (0´40´´)
Auch wenn Spahlinger eine Atempartie im letzten Satz als »seufzend hecheln« charakterisiert, lädt sich der Gestus des Seufzens, das Suspirium, über den Wechsel von Ein- und Ausatmen im Verlauf des extrem kurzen Satzes mit einem Moment der Suspension auf; mit dem Kontext von Atmen und Hoffen: dum spiro, spero. Atmen als Einspruch von Leben und Überleben gegen die Präsenz des Todes lässt die Atemgeräusche des Quartetts zwischen Angst und Rettung, Bedrohung und Entronnensein changieren. Eines Quartetts, das den geschundenen Ton mit einem Luxus an interpretatorischen Mitteln realisiert und damit zum Ton des Widerstands und der Zeugenschaft schärft, deren griechischer Name bekanntlich Martyrion lautet.
Kann auch die Dreiteiligkeit der Komposition auf die dreimalige Hoffnungschiffre »Von hier zur Sonne« nur anspielen, indem die Teile immer kürzer, immer ton- und sprachloser werden; mag das Werk auch »wie abgebrochen« enden: im »senza fine« des Schlusses, in der Offenheit des Fragments konturiert sich zugleich die Imagination der Überschreitung. Die Grundfigur des Atmens am Ende des Quartetts, die Folge von Ein- und Ausatmen als einer Urform der Parataxe, wird noch in seiner angespannten Form zum Sinnbild eines antihierarchischen Neben- und Nacheinander: gegen die versteinerten Hierarchien von Macht und Gewalt. Und wenn die »arco zarge« gespielten Atemgeräusche der Instrumente und das Atmen der Interpreten miteinander verschmelzen, verschwindet für Augenblicke selbst noch die instrumentelle Kluft zwischen Ding und Bewusstsein. Eine Kritik an der Herrschaftsattitüde des Geistes, deren technische Eskalation Individualität auslöscht und zum bloßen Material erniedrigt: zum Objekt von Krieg, Folter und Tod.
Bspl. 4: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû~« [Tr. 10: ganz] (0´30´´)
Wie Ritsos war auch Jannis Xenakis aktiv am Widerstand gegen die deutschen, später englischen Besatzungstruppen beteiligt. Schwer verwundet und ins Exil nach Frankreich entkommen, wurde Xenakis von einem Militärtribunal in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1967, in dem Jahr also, als Griechenland unter die Gewalt einer Militärdiktatur geriet, schrieb Xenakis ein Stück für gemischten Chor a cappella, das folgendermaßen endet:
Bspl. 5: Xenakis, Nuits [Tr. 5: 10´00´´(aufbl.) bis zum Ende] (1´40´´)
Am Schluss des Stücks ein Atemlaut, der einzige der Komposition: ein kurzes, stimmloses Husten im »Sforzato fortissimo«. Isoliert gehört muss dieser »short cough« unverständlich bleiben. Entschlüsselbar wird er erst vom Kontext der Musik her.
Nuits hat Xenakis den politischen Häftlingen des griechischen Bürgerkriegs gewidmet. Aber an Stelle einer zu erwartenden bedeutungsgeladenen, wenn nicht gar programmatischen Vorlage basiert der textlose Text der Komposition ausschließlich auf sumerischen und altpersischen Silben. Nun kennt man rein phonemische Texte hauptsächlich in Form magischer Ritualgesänge. Heiliger Formeln etwa, die den Beistand der Götter erzwingen sollten und konnten, wie in der hinduistischen Veden-Rezitation, in der die Worte oft unter Einsprengung leerer Silben wie »ha« oder »ho« buchstäblich zermahlen und grammatikalisch entregelt werden, bis der Sinn völlig aufgelöst im Gesang aufgeht.
Bspl. 6: Sama Veda, Hymne an Indra [Seite A, Tr. 4: 0´00´´ - 0´40´´(ausbl.)](0´40´´)
Ein anderes Beispiel solch machtvoller Geheimsprachen wären die mystischen Laute schamanistischer Gesänge und ihrer Austreibungspraktiken. Einer Sprache jenseits der kommunikativen Profanität also. Wie bei Xenakis äußerst durchstrukturiert und überwiegend aus Phonemen bestehend, um mitunter auch vereinzelte Anklänge an Wortreste zuzulassen.
Solche Aspekte des Rituellen nun lassen uns das stimmlose Husten am Ende von Nuits besser verstehen. Wie das Rezitieren und Singen der heiligen Sprache vor Gefahren erretten kann, so schwingt auch im Klagegestus der ebenso geheimen wie getarnten Vokalisen von Nuits Beschwörung und Abwehr mit: gegen die Gewalt der Unterdrückung und ihre Dämonie des scheinbar Unabwendbaren. Und wie das Einatmen und Einsaugen des Krankheitsdämons und dessen Ausatmen und Ausstoßen durch den Schamanen zur Heilung führen soll, so wirkt auch der »short cough« im letzten Takt von Nuits wie ein Unheil abwehrendes, rituelles Ausstoßen der Luft. Verachtung und Schutz zugleich. Nicht umsonst erinnert dieser Schluss an jenes »eigentümliche Zeremoniell« in Freuds Geschichte einer infantilen Neurose, das der »Wolfsmann« einsetzt, wenn er »Leuten« begegnet, mit denen er nichts gemein haben wollte. »Er musste geräuschvoll ausatmen, um nicht so zu werden wie sie«. Eine Form der Objektausstoßung und Verachtung, die noch in der Wendung »jemandem etwas husten« mitschwingt.
Bspl. 7: Xenakis, Nuits [Tr. 5: 11´17´´(aufbl.) bis zum Ende] (0´16´´)
Natürlich spielt für die musikalische Dekomposition der Sprache bei Xenakis auch deren Krise und Kritik eine Rolle. Vor allem seit Nietzsche und Hofmannsthal schärft sich die Sensibilität für das Gewalt- und Moralregime der urteilenden Sprache, für die Bindung zwischen Gott und Grammatik. Die Sensibilität zumal für die Prostitution kommerziell verschlissener Wortmünzen, die sich mit allem gemein machen, nur nicht mit dem Besonderen. »Nur der asyntaktische Dichter« ist deshalb für die »ausdrucksvollen Schreie des heftigen Lebens« empfänglich, »das uns umkreist«, wie Marinettis Futuristisches Manifest 1909 verkündet. Und nach Isidore Isou ist es Zeit, das ›Alphabet aufzuschlitzen‹, das »seit Jahrhunderten in seinen verkalkten vierundzwanzig Buchstaben hockte«, um »in seinen Bauch« endlich ›neue Buchstaben hineinzustecken‹: »Lispeln, Röcheln, Grunzen, Seufzen, Schnarchen, Rülpsen, Husten, Niesen, Schmatzen, Pfeifen«, aber eben auch »Einatmen und Ausatmen«.
All das lässt selbstverständlich auch den Sprachcharakter der Musik nicht unangetastet. Nach der Aufhebung der Semantik ist ein pulverisierter Text wie der in Nuits jedenfalls kein Bedeutungsträger mehr, der von der kompositorischen Struktur zu lösen wäre. Nuits wird zur entfesselten Klage und Anklage, gerade weil das Werk die Sprachfesseln sprengt. Gängige Worte und Satzmuster wären nur Verrat; Kollaboration mit einer sprachlichen Organisationsform, die syntaktisch auch die Sprache der Unterdrückung regelt, das Bewusstsein okkupiert und den politischen Widerstand der Freiheit der Rede beraubt.
Hier nun wird der Zusammenhang zwischen dekomponierter Sprache und komponierten Atemgeräuschen offenkundig. Gegen ihre Bindung an die Banalität der Verkettung muss die Sprache von ihrer Sinntaufe erlöst werden, um wieder sprechen zu können und auf ihren materialen Grund, das Atmen hin durchlässig zu werden. Der Ausbruch aus den Wort- und Satzgittern des Sprachgefängnisses kulminiert im Aufstand der Lunge: im virtuos komponierten Schreien und Atmen. Ohne dass die Bedeutungssprache jedoch gänzlich preisgegeben werden müsste. An manchen Stellen der Xenakis-Komposition Serment, die die Worte des hippokratischen Eids zeitweise in Vokalisen auflöst, scheint der Sturm des Atems die Asche der Logos-Sprache zum Glühen bringen zu wollen, um aus ihr eine neue zu entfachen: befreit von der Besatzungskraft des Satzes und der Gerichtsfunktion des Urteils. Eine Sprache, die nicht zum Gift des Lebens wird, um die hippokratische Eidesformel einmal linguistisch zu deuten.
Bspl. 8: Xenakis, Serment [Tr. 3: 4´30´´(aufbl.) - 5´00´´(ausbl.)] [0´30´´]
In Xenakis' Werk N'Shima, dessen hebräischer Titel bereits auf den Atem anspielt, taucht das Hebräische selbst nur in vereinzelten Wort- und Textsplittern aus dem Gestöber der Lautelemente auf: eine assoziative Fluktuation der Bedeutung zwischen versprengten Wortkonstellationen; eine wie durch einen Schleier abgedämpfte Semantik. So wie Xenakis stets den archaischen Grund der Zivilisation in seine Kompositionen einbindet und vor dem Horizont moderner Kriegs- und Angsterfahrung reflektiert, so legt hier seine Musik den Triebgrund der Sprache bis auf ihr pneumatisches Fundament hin frei: über dem sie aufgeht und in das sie zurücksinkt.
Bspl. 9: Xenakis, N’Shima [Tr. 6: 9´11´´(aufbl.) bis 10´46´´(ausbl.)] (1´35´´)
Ritsos, Spahlinger und Xenakis wissen um die Ohnmacht und um den Verrat, den es bedeuten würde, die Schreie der Gefolterten ästhetisch aufzubereiten. Sie wissen, dass das Politische der Kunst nicht in vordergründigen Absichtserklärungen und inhaltsästhetischen Schilderungen liegt, sondern darin, die Vernetzung der meist lautlosen Gewalt hier und jetzt in den Strukturen des Bewusstseins lesbar, hörbar zu machen. Eine Vernetzung, in der das Politische so alltäglich ist wie das Alltägliche politisch.
So wie in Annette Schmuckis Komposition Am Fenster für hohe Stimme und Akkordeon nach einem Gedicht von Robert Walser. Einer Musik des Grenzbereichs, einer Musik am Rande der Musik, die Walsers Text mit einem durchweg strukturalistischen Kompositionsverfahren antwortet.
Zum Fenster sehe ich
hinaus, es ist so schön,
hinaus, es ist nicht viel.
Es ist ein wenig Schnee,
auf den es regnet jetzt.
Es ist ein schleichend Grün,
das in ein Dunkel schleicht.
Das Dunkel ist die Nacht,
die bald in aller Welt
auf allem Schnee wird sein,
auf allem Grün wird sein.
Hin schleicht sich freundlich Grün
ins Dunkel, ach wie schön.
Am Fenster sehe ich’s.
Walsers Augenblick von Wahrnehmung im Moment des Entzugs von Wahrnehmung durchquert Schmuckis Komposition mit einer äußerst kontrollierten Gestik des Atmens. Einer Gestik, die gerade auf Grund ihrer Distanz zur Signatur eines Daseins wird, das nach Luft ringt. Schon die Bindung des Wortes »hinaus« an einen keuchenden Atemstoß zu Beginn der Komposition spricht vom Verlangen, den Normen- und Funktionspanzer zu durchstoßen, der den Zauber der Imagination erstickt. Schmucki macht auf beklemmende Weise bewusst, wie Atmen in der engen Zeit des homo oeconomicus zum Souffleur des versäumten Augenblicks wird. Und sie macht bewusst, dass noch die ästhetische Wahrnehmung des Geringen, weil Gewöhnlichen, eben deshalb den Atem verschlägt, weil das flüchtige Aufleuchten von Welt und Dingen kurz vor deren Verdämmern zur Lust am Verschwinden wird: als einer womöglich paradoxen Form ihrer Rettung.
Bspl. 10: Schmucki, Am Fenster [Von Beginn an bis zum Einsatz der Gedichtrezitation] (3´33´´)
Schmuckis Am Fenster wirkt wie eine Sektion. »Dunkel« und »Nacht« werden darin zur Lichtregie einer Kunst der Verweigerung, die die »verabredeten Grenzen« der Sprache in die Fragilität der Stimme und die flüchtige Grammatik des Atmens auflöst. In eine Luftsprache, die die Worte nicht selten dem Flatus vocis, dem puren Hauch und dem Verstummen anverwandelt: als Entlarvung einer Welt der vollmundigen Sprachlosigkeit. Schmucki weiß, dass es naiv wäre zu glauben, die Verwertung des Werts würde vor der Sprache Halt machen. Das Informationsdiktat des angeblich Faktischen oder das Biedermeiertum einer auf das Dogma des Erzählens fixierten so genannten zeitgenössischen Literatur beweisen das Gegenteil. Solchem Konkretismus gegenüber sprengt Schmuckis subtile Metasprache des Atmens die syntaktischen Sperrbügel und logischen Blockaden der Sprachmaschine mitsamt ihrem identifikatorischen Getriebe. Schmuckis Komposition Am Fenster ist keine Kunst des Gegenstands, sondern eine des Widerstands: unversöhnlich gegen die Übermacht des Greifens im Begreifen, die das Wort zum Definitionsprojektil mit möglichst eindeutigen Trefferquoten schärfen will.
Angesichts solcher Kontroll- und Instrumentalisierungssüchte treibt Schmucki den Schluss ihrer Komposition in eine radikale Konsequenz. In eine Verstörung jedenfalls, die im folgenden Mitschnitt auch eine Person aus dem Publikum gespürt haben mag, sofern deren Hustenattacken Spannungsabfuhr signalisieren sollen. Hält nämlich der Atem des Luftinstruments Akkordeon den Schlusston über fast eineinhalb Minuten aus, im Gegensatz zur weit atembegrenzteren menschlichen Stimme, dann wirkt diese Endlosigkeit wie ein Schock: als könnte Bewusstsein in einer Welt der besessenen Archivierung und Vergegenständlichung bei gleichzeitiger Zersetzung von Erfahrung womöglich einzig noch in den Dingen überleben.
Bspl. 11: Schmucki, Am Fenster [Die letzten 110 Sekunden] (1´50´´)
Denkbar ist, dass im Kult der Fassade und des vordergründig Eingängigen einer der Gründe dafür liegt, warum die pneumatische Sprache der Neuen Musik oft genug Assoziationshöfe von einer präzisen, um nicht zu sagen: eindeutigen Vieldeutigkeit eröffnet. Zumal was die Koordinaten von Leben und Tod betrifft. Es ist, als beschlüge das Atmen den ästhetischen Spiegel, in dem das narzisstische Ego seine Unsterblichkeit genießen will. Mit den Atemsequenzen dringt ein Stück Empirie in die Werke ein, das den ästhetischen Schein auf die Existenz hin durchschlägt: gnadenlos oft und jenseits aller begrifflichen Moral von Wahr und Falsch. »Einatmen«, »ausatmen«, »den atem gespannt anhalten«, wie »erlöst ausatmen«: was den entlarvenden Blick auf das moderne Dasein als einer bloßen Frist anbelangt, lässt Gerhard Rühms atemgedicht an diagnostischen Qualitäten nichts zu wünschen übrig.
Bspl. 12: Rühm, atemgedicht [Seite 1, Tr. 2: ganz] (0´45´´)
Zudem wurde der ästhetische Schein im Bewusstsein der Kunst von der technischen Gewalt der Dinge, Geräusche und Reize durchlöchert; einer Gewalt, die Gedächtnis wie Erfahrung attackiert und schon 1950 Pierre Schaeffer fragen ließ: »Wie soll man antworten auf das Lärmen der Menge? Mit Violinen? Mit Oboen? Und welches Orchester könnte sich rühmen, jenen anderen Schrei auszugleichen, den unterdrückten Schrei des Menschen in seiner Einsamkeit? Verzichten wir also auf die Eigenart des Cellos, das zu träge ist für seine kollektive Angst. Schritte, Stimmen, alltägliche Geräusche mögen genügen (...). Schritte bedrängen ihn, Stimmen durchdringen ihn, Laute, die Liebe oder Krieg bedeuten, das Zischen der Bomben oder die Melodie eines Liedes.« Und wie im »stahlharten Gehäuse« der industriell beschleunigten Massengesellschaft noch das vermeintlich Intime zum Fremden wird, Gefühle zu Versatzstücken, angedreht und wiederholbar, leer und ohne Antlitz – davon zeugen die Atemsplitter der frühen Musique concrète:
Bspl. 13: Schaeffer/Henry, Symphonie pour un Homme Seul, Erotica [Tr. 4: 0´48´´ b. z. Ende] (0´29´´)
Grund genug zum Ekel an einer in Angst und Atemlosigkeit verstrickten Existenz wie in Sartres Nausée: »Er geht weiter er hat Angst große Angst (...) der Ekel er sagt dass er angeekelt ist zu existieren ist er angeekelt? (...) Er rennt (...) das Herz existiert die Beine existieren der Atem existiert sie existieren rennend atmend schlagend ganz schwach ganz sanft ist außer Atem bin außer Atem, er sagt, dass er außer Atem ist (...) er ist bleich im Spiegel wie ein Toter«.
Bspl. 14: Schaeffer/Henry, Symphonie pour un Homme Seul, Eroica [Tr. 8: 0´00´´ - 1´15´´] (1´15´´)
Was aber nimmt uns den Atem? Was macht uns atemlos? Geld, Worte, Bilder: sie zirkulieren mit einer Schnelligkeit, als sollten im Geschwindigkeitsrausch Altern und Tod samt der Unumkehrbarkeit der Zeit überwunden werden: in einer Art Relativitätstheorie der Gesellschaft mit dem Fluchtpunkt Unsterblichkeit. Der Tauschwert des Neuesten wird zum gemeinsamen Nenner sämtlicher gesellschaftlicher Ressorts. Gewinn und Sensation resultieren aus der konkurrenzüberlegenen Zugriffsrasanz. Nichts katastrophaler als verpasste Nachrichten oder versäumte Preisschwankungen.
Bspl. 15: Bauckholt, Treibstoff [Tr. 1: 1´00´´(aufbl.) – 1´23´´(ausbl.)] (0´23´´)
In dieser Arena braucht man einen langen Atem. Wer hat einen längeren, wer den längsten? Wer kann ihn anhalten? Am besten »so lange wie möglich«.
Bspl. 16: Rühm, so lange wie möglich [Seite 1, Tr. 6: ganz] (0´35´´)
Ob Atmen erst dann bewusst wird, wenn es das Problem des Erstickens gibt? Wenn die Gehetztheit normal und der Körper dressiert genug ist? - Und was heißt es, wenn in einer Gesellschaft der gefesselten Alltäglichkeit die Askese für einen Augenblick errötet? Mit einer rührend bemühten Mini-Peepshow im Ohr?
Bspl. 17: Gainsbourg, Je t’aime [Tr. 9: 3´56´´(aufbl.) bis zum Ende] (0´23´)
Ist es möglich, das Korsett des disziplinierten Körpers wenn nicht aufzuschnüren, so doch zumindest zu lockern, Atem zu schöpfen?
Bspl. 18: Holliger, Streichquartett [Tr. 1: ~21´50´´(aufbl.) bis zum Ende] [5´00´´]
Wenn in Holligers Streichquartett nach dem viermaligen Herabstimmen der Instrumente die reduzierte Saitenspannung am Ende nur mehr die Geräusche des Bogens und das Atmen der Interpreten freigibt: ist dies dann eine Wirkung der Erschöpfung nach ungeheuren Anstrengungen? Eine Parabel der Befreiung vom Joch des Fetischs Funktionalität? Oder ein Gleiten in die Erstarrung, wie die Partituranweisungen von ›völliger Regungslosigkeit und Atemstille‹ das nahe legen? Oder alles zusammen?
Vielleicht gewinnt das komponierte Atmen seine Aura nicht zuletzt inmitten der zahlreichen sinnverzweifelten Reanimationsversuche einer entzauberten Welt, der die vielfältige Einheit von Atem, Seele und Geist längst zerfallen ist. Einer Welt, die unter Atmung zunächst einmal einen Gasaustausch versteht und die Verbrennung von Nahrung mittels Sauerstoff zu Wasser und Kohlendioxyd. Schon lange hatte die abendländische Kultur eine Tradition aus den Augen verloren, wie sie etwa noch in manchen hinduistischen oder islamischen Atem-Liturgien und deren Verbindung zum belebenden Schöpfungsprinzip zu finden ist. So lange jedenfalls, dass das Wehen des Geistes schließlich der Natur zum todbringenden Atem werden konnte. Hegel zufolge verschwand die frühe Kultur Amerikas, weil sie eine »ganz natürliche« war. »Physisch und geistig ohnmächtig« musste sie »untergehen, sowie der Geist sich ihr näherte«, untergehen an dem »Hauche der europäischen Tätigkeit«.
Dieser tödliche Atem der Geschichte und ihres Fortschritts ist es, den Giacinto Scelsis Chorwerk Uaxuctum in die Aura eines Mementos verwandelt. Im Gedenken an die Legende jener Maya-Stadt, die sich im 9. Jahrhundert aus religiösen Gründen selbst zerstört haben soll. Der Widerhall der atmenden Stimmen wird bei Scelsi zur klagenden und zugleich utopischen Schattensprache der Geschichte: zum Wehen eines Windes, den der Komponist selbst einmal in einem Gedicht als jenen »einsamen Wind aus der Tiefe« charakterisiert hat, der die »Ordnung der unentwegten Hindernisse zerstört«. Die Ordnung der naturwüchsigen Vorgeschichte der Menschheit, möchte man sagen. Geschichte wird in Scelsis Musik zum Palimpsest, dessen atmende Schichten auf Erinnerung, auf Eingedenken hin durchlässig werden; gegen das Vergessen und im Sinne jenes anderen Fortschritts, von dem Walter Benjamin im Unterschied zum katastrophischen sagt, dass er »nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause« ist.
Bspl. 19: Scelsi, Uaxuctum [Tr. 6: 0´00´´ - 1´52´´] (1´52´´)
Sollte Benjamin aber darin Recht haben, dass der gängige »Begriff des Fortschritts« in der »Idee der Katastrophe« gründet, dann wird Benjamins »Engel der Geschichte« zu einem Sinnbild auch der Neuen Musik und ihrer Atemsprache. Dieser Engel »hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm«.
Und doch wendet sich der Engel der Neuen Musik - um im Bild zu bleiben - der Zukunft zu. Ein wenig zumindest. Indem er nämlich am Bewusstsein des Verfemten und Widersetzlichen festhält, dessen Ausdruck umso dringlicher wurde, je mehr sich die technische Vernunft als System etablierte. Kurzgeschlossen zwischen Produzieren und Konsumieren wird Gesellschaft zum Vampir ihrer selbst. Sie saugt Leben aus und übt sich darin, möglichst keine Schatten zu werfen. Was der Produktivitätsverweigerung und Marktresistenz verfällt, wird schnell auf Kurs gebracht oder erledigt. Wollte man deshalb die Neue Musik charakterisieren, dann wohl am ehesten anhand ihrer Merkmale von Irritation und Obsession. Einer Obsession wie die ihrer Atempartien, die vom Hunger nach Leben in einer Ökonomie der Beschneidung zeugen.
Wie heißt es doch bei Benjamin über den Sturm des katastrophischen Fortschritts und den Engel der Geschichte? »Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« Diesem Sturm suchen die Atem-Figuren der Neuen Musik zwar nichts von seiner pneumatischen Vehemenz, wohl aber etwas von seiner zerstörerischen Gewalt zu nehmen. Ob daraus ein Sturm, zumindest ein Wind der Erneuerung werden kann? Mit der Hoffnung auf eine Versöhnung von Natur und Geschichte?
Bspl. 20: Holliger, Pneuma [Tr. 7: 0´00´´ - 2´20´´] (2´20´´)
Musik- und Tonbeispiele
Bspl. 1: Mathias Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû~« (Auvidis Montaigne 782036)
Bspl. 2: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû~«
Bspl. 3: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû«
Bspl. 4: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû«
Bspl. 5: Jannis Xenakis, Nuits (col legno WWE 20030)
Bspl. 6: Sama Veda, Hymne an Indra (Bärenreiter BM L 2006)
Bspl. 7: Xenakis, Nuits
Bspl. 8: Xenakis, Serment (hyperion CDA 66980)
Bspl. 9: Xenakis, N’Shima (mode records 53)
Bspl. 10: Annette Schmucki, Am Fenster
Bspl. 11: Schmucki, Am Fenster
Bspl. 12: Gerhard Rühm, atemgedicht (Rowohlt)
Bspl. 13: Pierre Schaeffer/Pierre Henry, Symphonie pour un Homme Seul (Musidisc 292572)
Bspl. 14: Schaeffer/Henry, Symphonie pour un Homme Seul
Bspl. 15: Carola Bauckholt, Treibstoff (Wergo 286 538-2)
Bspl. 16: Gerhard Rühm, so lange wie möglich (Rowohlt)
Bspl. 17: Serge Gainsbourg, Je t’aime (Universal 832 231-2)
Bspl. 18: Heinz Holliger, Streichquartett (Wergo 286 084-2)
Bspl. 19: Giacinto Scelsi, Uaxuctum (Accord 200 612)
Bspl. 20: Holliger, Pneuma (RCA 74321 73510 2)