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Marginalien zur medialen Welt

Telesupervision

Hermann Schweppenhäuser zum 1. Juli 1996

 

(Tele-)Visio Dei

 

»Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft«. »Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt!«1 Nietzsche ist wohl das prominenteste Beispiel eines literarischen und philosophischen Sensoriums, dem sich die erhabene Sicht des Künstlers und der Spe­kulation auf die Niederung des Weltlaufs im Formenkreis des Blicks von oben konkretisiert. Sein »Pa­thos der Distanz«2 begegnet dem Trauma von Industrialisierung und Massengesellschaft mit dem Gestus des Überhobenseins und dem verachtenden Hochmut des intellektuellen Aristokraten: mit einer Warte des »Ausblicks und Herabblicks«3, von der aus »die ganze Thatsache Mensch in ungeheurer Ferne unter ihm [liegt]«4.

Zeitgleich zur Spur des Wanderermotivs besetzt das Finale des abendländischen Säkularisie­rungsprozesses die Sphäre zwischen Himmel und Erde als den letzten Ort einer gottähnlichen Kon­templation des auktorialen Autors. Von diesem Zenit des »Odi profanum« her inszeniert die Optik der Elevation fern dem Weltgetriebe die Variationen ihrer kritischen Höhenmessung. Konnte Petrarca die Besteigung des Mont Ventoux dank Augustinus und der Schau auf die Unsterblichkeit der Seele noch theologisch-diätetisch als meditatio vitae et mortis rückbinden«5, wird Jean Paul mit dem Zerfall des ethikotheologischen und vernunftteleologischen Überbaus die hohe Luft »über der schwülen irdischen Hölle« zum Schauplatz eines skurril phantastischen Flugs, der den »Menschenverächter« Giannozzo durch das »lange Totenhaus der Erde« trägt«6. Läßt Eichendorff von weiten Naturemporen aus das ro­mantische Weltpanorama über dem »praktischen Abgrund«7 frühindustrieller Nützlichkeit noch einmal in rätselhafter Illumination aufleuchten, nimmt Stifter von der »luftigen Einsamkeit« des Stephansturms herab bereits das »wirre Babel« der Großstadt ins Visier, die rastlose Menge gleich »wimmelnden Insekten« und »dunklen Ameisen«8. Rund 200 Jahre nach Pascals tremendum saeculare vom »ewigen Schweigen« der »espaces infinis«9 entzaubert sich schließlich Schopenhauers kosmischer Entgrenzung die Erde selbst zu einer verlorenen Kugel »im unendlichen Raum«, »auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat«10. Eine Desillusionierung, die Nietzsche zur »Minuten«-Existenz jenes »Gestirns« in »irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flim­mernd ausgegossenen Weltalls« fortschreibt, »auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden«11. Konnte sich Nietzsche indes noch eremitenhaft zu einem »Rendez-vous von Erfahrungen« stilisieren, »die man nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht«12, so demonstriert das neue innerweltliche Gebot wohl keine Sequenz eindringlicher als die am Schluß von Balzacs Le Père Goriot, in der Eugène de Rastignac den Moloch Paris vom Père-Lachaise herab mit den »grandiosen Worten«: »A nous deux maintenant!« in die Schranken fordert, bevor er erfolgssüchtig und mit der Entschlossenheit des sieges­gewissen Aventuriers in die Arena der großen Welt hinabsteigt.

Seitdem vollzog sich mit dem Ende der metaphysischen Episteme eine Umwertung des welt­enthobenen Blicks. Analog zu dessen ästhetischer Entmächtigung wuchs zwar die empirisch-technische Reichweite, ohne aber je wieder der irdischen Gravitation und ihrem Praxistribut entrinnen zu können: in den sportiven Grenzerfahrungs- und Abenteurersehnsüchten einer gipfelstürmenden Hochgebirgs­touristik ebensowenig wie in der Observationsperspektive von Astronauten- und Satellitenaugen nach Weisung militärischer, nachrichtentechnischer oder naturwissenschaftlicher Belange. Terrestrisch ge­bunden und ausgerichtet geht das Auge der Moderne zudem einen immer innigeren Pakt mit medialen Bildtypologien ein. Und leicht verflüchtigt sich zur fausse présence, was sich nicht an ihrer Präformati­onsorder und Präsentationsmanier ausweist: an der Transformation zu einer telegenetischen Erkennt­nisart a priori, in der die Sicht des anderen zur mediengerechten Kontrolle im Dienst des populistisch geeichten Zeitgeists wird.

Doch auch diese Schule des Sehens hat ihre Geschichte. Als eine der Individualisierung und Psychologisierung läuft sie dem profanierten Sturz des Blicks vom Scheitelpunkt meditativer Höhe zur Adaption an die elektronische Apparatur parallel. So formuliert schon 1453 Nikolaus von Kues' De visi­one Dei mit ihrer komplexen Subjekt-Objekt-Verschränkung und ihrer variablen Raum-Zeit-Geometrie eine sinnbildliche Einführung in die mystische Theologie, die vom Denken und von der Anthropologie der humanitas her einen herausragenden Beitrag zur neuzeitlichen Logik der Visualisierung liefert. Un­ter Rekurs auf die zeitgenössische niederländische und italienische Malerei wählt Cusanus deren Kunst, den Blick des Porträtierten, speziell der Imago Christi, jedem Betrachter beständig an jeden Punkt des Raums folgen zu lassen, zum Leitmotiv seiner Gleichnisrede: als ein »Bild des Allsehenden«, das mit der »Beweglichkeit des unbeweglichen Blicks« nach »allen Seiten zu sehen scheint«13. Als èåð´ý wird Gott seiner Etymologie des èåûòåé~í und èåé~í gemäß zu dem, der alles sieht und alles durchläuft.«14 Diese Potenz des Durchmessens und Durchdringens dynamisiert die »visio Dei« zu einer Optik des Auge in Auge, in der sich noch die logistischen und operationalen Muster der Tele-Visio(n) als eine Säkularisie­rung des göttlichen Blicks zu erkennen geben. Daß die Absolutheit des »Deus perfectissimus« unent­wegt und frei von jeder Beschränkung alles sieht – »wenn ich mich auch von dir wegwende«, »so wen­dest doch du deshalb weder Auge noch Blick«15 –, daß sein Modus des »simul et semel«, des zugleich und einmal«16, die temporal-lokalen Koordinaten von Sukzession und Spatium überwunden hat, daß schließlich die Essenz des »Sehens« als »Verursachen« gedacht wird, als der Akt, daß »alles ist, weil du [sc. Gott] es denkst«18: all diese Parameter finden sich in nuce auch im Fundamentalismus der TV-co­dierten Optik wieder: in ihrer untergründigen Insinuations-, Zensur- und Kontrollpräsenz, ihrem Zeit- und Raumdistanzen sprengenden Panoptikum und ihrer welterzeugenden Epistemologie. Beerbt vom Evangelium der Information gehen göttliche Allwissenheit und Allmacht an die Agenturen der News über, die die Welt pausenlos und inquisitorisch nach Sensationen durchforschen, an die unwiderlegbare Apparatur ihrer Archivierungsriten, an die Heiligkeit der Fakten (eingerechnet alle Pflichten und Sach­zwänge moderner Berichterstattung) und an die Sendungshierarchie der Bildemanation, ausgestrahlt in die Köpfe der gläubig empfangenden Massengemeinde. Und so wie im Text des Cusaners der auf alle und in je besonderer Zuwendung auf jeden einzelnen gerichtete göttliche Blick, das »complicat omnes rationes videndi«19 seines unbedingten und sinnstiftenden Sehens, die Allgegenwart der Telekratie anti­zipiert, so findet in dieser noch die »coincidentia oppositorum« ihr spätes Pendant: im Neutralisierungs­sog der Television als dem allgemeinen Äquivalent ihrer gesendeten Inhalte, als Dominanz der Struktur über das Material, durch die das mediale Design noch die Katastrophen mit dem Firnis der Distanz und des Irrealen überzieht. »The medium is the message«, »the medium is massage«20.

Daß die Individualitätsemphase der Visio Dei zwischen Mystik und Humanismus ein nahezu persönliches Gegenüber von Gott und Mensch in Szene setzt, ermöglicht es ihr, göttliche Allgegenwart als das »ewige Vaterauge« eines »provisor noster paternus«21 zu denken: als eine Identität von »Sehen« und »Lieben«22, letztlich als eine Koinzidenz des Universellen mit dem einzelnen. Am Ende des Aus­zugs aus der Transzendenz jedoch, am Ende auch der Geschichte vom Drama des Subjekts und seinen Grenzgängen zwischen Autonomie und Autismus eskaliert diese Nähe zu der eines unerträglichen Über-Ichs, zur Tragödie des Vatermords. Nietzsche zufolge mußte Gott gerade seiner Zeugenschaft wegen sterben. Sah er doch »mit Augen, welche Alles sahn, – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit.« Der Mensch aber »erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt«23. Die Entmachtung der göttlichen Supervision und ihrer tyrannischen Präsenz in einem Leben des Aufschubs, des Verzichts, der Reue und des Todes gelang Nietzsche allerdings nur um den Preis einer Selbstreflexion, der der »grosse Schmerz«24 zum Senkblei der Erkenntnis wurde: mit der psychologisch gewandelten Auferstehung des alten Gottes in der Überwachungsfigur des »Einen gros­sen Auges«, »das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt«25. In solcher Introspektion erliegt die Existenz der Vivisektion der Selbstbeobachtung: »verurtheilt zu dir selber«, »zur eignen Steinigung«, und zur »Heilung aus dir selbst«26. Die Verinnerlichung des göttlichen Blicks erzeugt das investigative Fieber der Selbsterkenntnis: »Selbstkenner! Selbsthenker! [...] du wirfst dich nicht ab von dir...«27. Nun ebnet aber im Exil der entzauberten Konkurrenzgesellschaft genau die Bürde des Sinnlosen, des Schmerzes, der Entfremdung und des Todes, der nihilistische Grund all dessen, wogegen sich der ath­letische Kraftakt im Entwurf des Übermenschen richtet, das Terrain für die neue Religion der medialen Mythen: kulminierend in den produktionsenergetisch hochgerüsteten Wirtschaftsnationen, die den Fluch der Vertreibung aus dem Paradies und den der Arbeit bibeltreuer internalisiert haben als je zuvor, deren Verwertungsdiktat nicht nur alle in Hörigkeitsverhältnisse zwingt, sondern zudem Millionen überzähliger, in Arbeitslosenstatistiken abgebuchter Rationalisierungsopfer mit der zynischen Laudatio auf Vollbeschäftigung und einer schamlosen Beschwörung des kollektiven Wir über alle Vermögens­grenzen hinweg als Konkursmasse des expropriationsgestützten Profits ausstößt. Bedeutet aber Kapita­lismus zuinnerst eine Ökonomie der Beschneidung, dann wird deren Kastrationsgewalt von der Anti­mäeutik der Kulturindustrie, dem Selbstläufertum ihrer Blendungsstrategien stabilisiert und potenziert.

 

 

 

Nunc stans: mediale Liturgien

 

Daß sich Glück und Tugend in einer vom Motor egoistischer Interessen getriebenen Gesellschaftsma­schinerie und ihrer Energie aus Gewinnsucht und persönlichem Nutzen nicht decken, verleitete noch Kant unter Berufung auf den Vollkommenheitsanspruch des moralischen Prinzips zur Rehabilitation der Ideen von Gott und Unsterblichkeit, den postulierten Garanten des »höchsten Guts«. Mit dem Ende der Zuflucht zu metaphysischen Hinterwelten aber kommt die Last einer immanenzverwunsche­nen Welt zum Vorschein, die bewältigt sein will. Was die Hypothek eines innerweltlichen Szenariums und die Ausrichtung des Blicks auf irdische Maße nach dem theologischen Interpretationsruin und der Verdrängungsgeschichte der Metaphysik bedeutet, läßt sich von Bachs Orgelchoral »Alle Menschen müssen sterben« her erahnen, dessen Memento mori von einer für heutige Ohren irritierenden Musik kontrapunktiert wird: einer G-Dur-Tanzcharaktere beneidenswert heiterer Zuversicht, die trotz der himmlischen »Herrlichkeit« der »Frommen« jegliche Bigotterie des »Letzten Stündleins« und jenseits­trunkener Weltflucht, aber auch jede Todespanik im Bann eines versäumten Lebens hinter sich läßt. Anders als diesem auf Unzerstörbarkeit hin ausgerichteten decursus vitae wird einer unwiederholbar diesseitsvereidigten Existenz deren Dauer als Zufälligkeit und bloße Frist fühlbar. Frist allein schon aufgrund einer Zeitordnung, die über ihre Akkumulationsdoktrin bis in vermeintlich privateste und in­timste Refugien hinein zur Taxierung nach Gewinn und Verlust anhält. Während die ökonomische Er­peßbarkeit funktionale Selbstdisziplinierung erzwingt, hält die Leistungsgesellschaft dazu an, jeden Au­genblick nach dem Saldo gewinn- oder verlustträchtiger Momente zu mustern. Droht sich unter sol­chem Diktat auch noch das vorgeblich persönliche Wunsch- und Erfüllungsarsenal einem Sperrbezirk reglementierter Scheinvergnügen und Genußparodien anzunähern, bestenfalls der Befriedigung am er­folgreichen Wechselspiel von Investition und Ertrag, dann dringt die Ahnung vom heteronomen Leer­lauf der Arbeits- und Konsumfron zumindest punktuell ins Gedächtnis. Inmitten der Geiselnahme aller durch eine naturwüchsige Ökonomie wird zu guter Letzt auch das Unterhaltungsbusineß auf sein hoh­les Versprechen hin durchlässig, nimmt das angestrengte Amüsement einschließlich seiner Pornoprüde­rie das Aussehen einer circensischen Veranstaltung an, bei der Dressur und Lust ununterscheidbar wer­den. So markiert das Drama einer zwischen Begehren und Verzicht ödipalisierten Kultur jene letale Spur, die sich um so nachhaltiger artikuliert, je mehr eine Welt des elektronischen Reproduktions- und Simulationszaubers die Hinfälligkeit menschlicher Existenz vor Augen führt: ihre dem Gebrechen einer schnellen somatischen Entropie ausgelieferte Vergänglichkeit.

Daß auf diese Verwundbarkeit des Lebens und seine nach High-Tech-Maßstäben naturbedingte Zurückgebliebenheit die Konjunktur von Gentechnik und Reinkarnationsesoterik ebenso reagiert wie die der Körper- und Jugendlichkeitseuphorie, ist evident. In einer wirtschaftlich vergreisten Gesell­schaft, die allen ohne Unterlaß die fable convenue von der »Verwertung des Werts«28 als den einzig authentischen Text des Weltgeistes souffliert, zitieren das Ideal juveniler Leichtigkeit und die Kosmetik des Makel- und Spurenlosen noch in ihrer Synthetik den flüchtigen Traum von Unsterblichkeit, signali­siert die Attitüde des Cool-Seins noch in ihrer Mimesis an die Kälte der täglichen Konkurrenzschar­mützel Wehrhaftigkeit wider deren Blessuren. Kein Bereich aber erhellt das Kompensationsunterneh­men gegen den verwaisten Ort der Transzendenz und den vom versehrten Leben tabuisierten des To­des mehr als die Interpretations- und Illusionsgier der medialen Liturgien. Lévi-Strauss hat einmal no­tiert, daß große Kompositionen die »heillos diachronische, da irreversible Zeit« der Empirie »eingeholt« und in einer synchron »geschlossenen Totalität« aufgehoben haben, »so daß wir, wenn wir Musik hören und während wir sie hören, eine Art Unsterblichkeit erlangen«29. Suspensionsinteressen verfolgt auch die Ablenkungsindustrie. Allerdings will sie die arbeitsdominierte Eintönigkeit und deren Todesgrund im monotonen Taumel des audiovisuellen horror vacui und seinen Klang- und Bilderfluten nach dem Takt freizeitdissoziierter Zeitquanten betäuben und vergessen machen. Gerade die Angst, nicht zu le­ben, schürt als Triebgrund der Erlebnisgesellschaft den neuen Entertainment- und Sensationsamok der alten concupiscentia oculi et auris. Damit ist die Unterhaltungsbranche Teil eines gigantischen elektro­nischen Netzwerks, das seinem innersten Impuls nach als eines der Zeitüberlistung fungiert. Deren Agens offenbart sich in den Blitztransfers der internationalen Finanzmärkte; im monetären Deal der Traders mit geringsten, wenngleich effektmaximalen Differenzen in der Volatilität der Kurse; in den Transaktionen, die mit Lichtgeschwindigkeit riesige Mengen Geldes um den Globus treiben, und sei es an Scheingeld, an purer Spekulationsmasse, die die Gebrauchswertfunktion des allgemeinen Äquiva­lents, sämtlichen anderen Waren gegenüber Träger von Tauschwert zu sein, im Bruchteil von Sekunden in der reinen Geld-Geld-Tautologie kurzschließt: in all diesen schnelligkeitstrainierten Zeittriumphen, in denen sich Computertaktik und Spielerrisiko verbünden, um die Unwägbarkeiten des weltwirtschaftli­chen Tableaus zu bezwingen und dem Crash zu entgehen, manifestiert sich das Verlangen der Kontra­henten nach Zukunftsgegenwart. Nur in ihr läge die Sicherheit vor den Demütigungen des Markts.

Geld, Worte, Bilder zirkulieren mit einer kinetischen Energie, die an eine Art Relativitätstheorie des hochbeschleunigten corps social denken läßt: an eine Zeitdehnungsrelation zwischen Geschwindig­keit und Verjüngung mit dem Fluchtpunkt Unsterblichkeit. Der Tauschwert des Neuesten und das Tempo seines Transfers werden zum gemeinsamen Nenner sämtlicher gesellschaftlicher Ressorts, na­mentlich zu dem von Informations- und Finanzbörsen. Gewinn und Sensation resultieren aus der kon­kurrenzüberlegenen Zugriffsrasanz im Flottieren der Kurse und Ereignisse, verspannt in eine weltweite Tachokratie und deren Allianz mit dem Rüstungssektor. Nichts katastrophaler als verpaßte Nachrich­ten, versäumte Preisschwankungen und veraltete Erstschlagwaffen. Die Verschränkung der Zeiten auf den Daten-Highways will die Irreversibilität von Naturzeit aussetzen und überwinden. Auch wenn trotz des Beschleunigungsrausches immer noch und gerade kleinste, hocheffiziente Umschlagszäsuren die Tausch- und Gewinnzyklen in Bewegung halten und vor einer Implosion der Verwertung und damit einem Kollaps des Profits bewahren, wird wie in Wagners Parsifal die Phantasmagorie vom totalen Räumlichwerden der Zeit zum Wunschszenarium des vernetzten Planeten. Sein Traum imaginiert über die Allgegenwart der Welt das »Nunc stans« einer holistischen Gleichzeitigkeit des Raums. In dieser virtuellen Ewigkeit der Zeitkompression, in der sich temporale Frakturen vornehmlich in Computerab­stürzen und Börsenkrachs bemerkbar machen, zergeht die überkommene Chronometrie. Im globalen Theater telekommunikativer Simultaneität zerfällt endgültig die theologisch-teleologisch fundierte con­secutio temporum. Nach der Undurchschaubarkeit und Absurdität der Kausalketten spätestens seit Di­derot und Kleist wird zunehmend die Aufhebung von Ursache und Wirkung ratifiziert. Und während die anthropomorphe Schriftmetaphorik abendländisch-christlicher Provenienz, der sich die Menschen zu Lettern im Buch des Lebens und der Historie figurierten, von der Idee eines ursprünglichen Textes, vom Archetypus der Handschrift und – ob Gott, Weltgeist oder Schicksal – von einer federführenden Instanz zeitbestimmter Geschichte ausging, wird die Frage nach originären Strukturen wie die nach der Wirklichkeit des Wirklichen in der Simulationspotenz des Internet weithin sinnlos.

Gleichwohl gerinnt der zersplitterten Alltagserfahrung die temporale Synthetik zum Überall und Nirgends. Dies gilt insbesondere für das programmierte, gespeicherte und permanent reproduzierbare Arsenal der visuellen Unterhaltungselektronik, ihre Filme, Computerspiele und Live-Suggestionen ge­gen die Zeit und quer durch die Zeiten. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den raumüberwin­denden Zeitstaus der elektronischen Simultan- und Parallelwelten und ihrer virtuellen Szenerie kontra­stiert der gelebten Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in den einzelnen Biographien. Reibung und Widerspruch zwischen technischer Kunstzeit und gesellschaftlich gebrochener Naturzeit lassen die Schwerkraft des Sozialen und seine Pression fühlbar werden. Immer wieder stürzt die simulierte Raum-Zeit in ein schwarzes Loch dramatisierter Leere, grundiert vom Hintergrundrauschen der Kommunika­tionsgesellschaft und ihren Aphasien. Zudem: sowie sich die audiovisuellen Halluzinationsräume, fan­tasy und fiction inbegriffen, in den realitätstüchtigen Sinnmustern des Abbildempirismus, seinen narra­tiven Schablonen und deren deterministischer Einfalt verfangen, verfängt sich auch die rezeptive Ein­bildungskraft der Wiederkehr des Gleichen in einem permanenten Déjà vu; mit dem Resultat, durch Versagung abermals den Flucht- und Suchtcharakter der Konsumenten anzustacheln. Schließlich ent­wirft auch die Bildfabrikation ihre Visualisierungen bis hin zu Cyberspace und interaktiver Multimedia­lität weitgehend nach den Koordinaten entfremdeter Arbeit. Am auffälligsten wohl in der zu Spots atomisierten Beliebigkeit und einer Hektik der Bildwechsel im umgekehrten Verhältnis zur extensiven Redundanz der Inhalte. Kein Wunder, daß das ungestillte Verlangen des auf Wiederholung abonnierten Sensoriums nach neuen, nicht minder uniformierten Effekten unentwegt vom désir de toucher zum délire de toucher umschlägt und befriedigt werden will: eine Einheit von Fliehen und Verfolgen als die zeitgemäße Furie des Ixion. Ihre schlechte Unendlichkeit ist es, die den Hunger nach Konkretion weckt. Seine Bindung an ein Wirklichkeitsmodell vom Genre des »Wie im richtigen Leben« und dessen gleichzeitige irreale Einfärbung erfüllt neben der massenhaften Ware der Talkshows vorzugsweise der Boom des katastrophengesättigten Reality-TV mit untrüglichem Instinkt für das Reizambiente des Voyeurismus: eine zum Thrill depravierte Gegenwartsversion des Erhabenen, die tägliche Dosis Selbst­behauptung im Gefühl, wieder einmal entronnen zu sein. Doch wie jede noch so objektive Aussage vorweg Interpretation ist, so weist jedes noch so wirklichkeitsnahe Bild allein schon aufgrund seiner selektiven Qualität retortenhafte Momente auf. So nähert sich das scheinbar realistische Abbild dem Trans- und Surrealen einer ihrerseits immer schon medial gedoubelten Instant-Realität des Realen.

Der heiße Markt der elektronischen Vernetzung und seine Verteilungskämpfe bestätigen in bri­santer Weise Horkheimers und Adornos Analysen zur Kulturindustrie. Nach wie vor harmonieren de­ren Prototypen mit dem Gesetz der Profitmaximierung, nach wie vor läßt die Effizienz der Vermark­tung den herbeigeredeten Pluralismus als Farce einer befreiten Vielfalt im Regime von Macht und Geld verschwinden. Wie die Peitsche der Einschaltquoten Gleichschaltung erzwingt, so zeugt umgekehrt die Vervielfältigung der Programme von einer konkurrenzverstrickten Manie des Ununterscheidbaren. Ab­gesehen davon, daß sie die Masse der in bornierte Reproduktionszwänge integrierten Konsumenten nicht interessieren, richten sich die ghettoisierten Kulturkanäle weiterhin an Bildungs-, Arbeits- und Zeitprivilegierte. Daß aber »Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünfti­gen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner [sc. des Menschen] Naturgaben, die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit [sind]«, monierte schon Kants Aufklärungsschrift«.30 Technisch gestei­gert gipfelt dieser Wille zur Heteronomie in der »entarteten Form der Massenkultur« als einer der »schändlichen Wiederholung«: »wiederholt werden die Inhalte, die ideologischen Schemata, die Ver­kleisterung der Widersprüche, aber die oberflächlichen Formen werden variiert: ständig neue Bücher, Sendungen, Filme, verschiedene Stories, aber immer derselbe Sinn«31. Ihn haben Horkheimer und Adorno als »Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie« bestimmt«.32

 

 

 

Du sollst dir ein Bildnis machen!

 

Mit dem auf Dunsinan eingeschlossenen Macbeth, der unter dem Druck seiner Belagerer in autisti­schem Wahn und schließlich de facto den Kopf verliert, liefert Shakespeare ein frühes Gleichnis der Omnipotenz- und Destruktionsphantasien bürgerlicher Subjektivität. Der wenig später von Descartes' hellem »Cogito« geworfene Schatten der Vernunft entfaltet bereits im Werk des Dramatikers eine Aura des Wahnsinns, die das Sinnmonopol der Identität gleich einer fiktionalen Bastion im Dunkel der Trugbilder und fixen Ideen von Solipsismus, megalomaner Ekstase und taedium vitae zerrinnen läßt. Im Medienzeitalter werden Wahrnehmung und Erkenntnis von der audiovisuellen Kinetik einer ande­ren Art Dekapitation unterzogen: der der Amnesie. Sie erzeugt im Dschungel der Bilder und Informa­tionen Apathie als Atrophie von Erfahrung. Wenn sich den Konsumenten via Fernbedienung das, was Marcuse die obszöne Gleichzeitigkeit der Widersprüche genannt hat«33, zum Cocktail aus Kriegsgreueln, Hungersnöten, Werbung und Showbusineß mixt, muß das machinal abgerichtete Leben gegen dieses Irrsinnskaleidoskop der Eindrücke zwangsläufig den Reizschutz der Empathieverweigerung aktivieren. Zudem ritualisiert der mediale Vampirismus, sofern er Bewußtsein aufsaugt, um es telegen in Regie zu nehmen, selbst schon den Habitus der Verdrängung. Das Sensationsdiktat des Nachrichtengeschäfts zeitigt eine Zeugenschaft der Bilder, deren zirkulationsrasantes Kurzzeitgedächtnis auf Dauer jede Zeugenschaft unterläuft. Infotainment bedeutet das Gegenteil einer Martyrographie der Geschichte im Eingedenken ihres katastrophischen Grundes. Ein Leitsatz der metaphysischen Tradition, die Sinnenwelt könne vor dem Denken nicht bestehen, kehrt sich um: Denken zergeht vor der Kolonisierungsgewalt der Bilder. Ähnlich verrät der Absatzboom von Kameras und Camcordern mit dem Wunsch nach einer privaten Dokumentation der werbeträchtig angepriesenen »schönen Stunden des Lebens« den Drang nach Entlastung von gelebter Erinnerung. Kann diese in der verordneten Betriebsamkeit leicht zur bedrohlichen Unbekannten werden, vereint ihre Entschärfung im photographischen Exorzismus Präsenz und Absenz zur abgelegten Verschlußsache. Entsprechend den Gedenkroutinen, den Datenbanken, Dokumentationscentern und musealen Komplexen zeigt sich hinter den Speicher-, Abruf- und Löschprozeduren technisierter Mnemonik die Anatomie einer Kultur, in der sich Memorial und Me­mento überlagern: als zelebrierte die Welt in der gigantischen Pantothek der Registraturen fortwährend ihre eigenen Funeralien.

Dieser Präsenz- und Archivierungsfanatismus sagt etwas über den Mumifizierungskult enttraditionalisierter Gesellschaften aus, die kaum mehr auf die Zeugenschaft der Überlieferung setzen können; Gesellschaften, denen der Tod zum letzten Verwaltungsakt gerinnt. In ihrem neuen Animis­mus existiert nur, was als Bild existiert. Objekt bedeutet Objektiv, will sagen: gesehen durchs Objektiv. Indem der Gegenstand zum konkretistischen Bild entmächtigt wird, das noch die letzte Romanfigur ih­rem reduktiven Filmdasein aussetzt, vollzieht sich die Mobilmachung des Visuellen auf Kosten ästheti­scher Intuition. Als Totenmaske der Erfahrung bringt eine Ikonographie weniger Standards die Laterna magica bilderloser Imagination zum Erlöschen. Imagination wird zum Image. Gleichwohl bleibt der Bildimperialismus auch in seiner Umkehrung des Bilderverbots an dessen Theologumenon gebunden. Das trustmäßig verfügte Konkretionsgebot »Du sollst dir ein Bildnis machen!« besetzt das von der ent­schwundenen Transzendenz erzeugte Sinnvakuum durch die endlose Multiplikation immanenter Vi­sual-Welten. Der Bildschirm wird zum Spiegel des medial narkotisierten Narziß, dem sich das Telepa­norama zum Raum seiner Projektionen verzaubert. Zugleich steht hinter dem Motto: ein Bild sagt mehr als tausend Worte, der Wunsch nach Eindeutigkeit, Sicherheit und Orientierung in einer zentrifu­galen Lebenswelt. Noch die quer durch alle Kanäle expandierenden Seifenopern, die sämtliche Alltags­situationen durchkonjugieren, werden zu Prothesen einer Kybernetik des Sozialen, in der die ausge­strahlte Idolenlehre so etwas wie Verbindlichkeit als fernsehgerechtes Verhalten vermittelt: Television als Telepathie und Telekinese. In einer von Nachrichten- und Übertragungssatelliten umstellten Welt mit der Verdopplung zum Panoptikum ihrer selbst gibt das photographische Abbild und dessen dyna­misierte Form der movie pictures vom Schlag gängiger Film- und Fernsehproduktionen das Maß des Verständlichen ab. Solche Konditionierung repräsentiert eine der zentralen Stationen im Trend der Aushöhlung und Negierung eines genealogischen und physiognomischen Denkens.

Dessen Schwierigkeit zeigt sich schon bei Schlegel als Kontrapunkt zu Hegels Triumph des Be­griffs: als die Aporie, den Grund, die Idee, den Namen nicht mehr in diskursiver Präsenz, geschweige denn affirmativ aussprechen zu können. Daß die Sprache als Garantin des Absoluten den Sieg des All­gemeinen über die Schlacken des Besonderen hinweg verbürge, weicht mit der Einsicht in die Willkür des des seiner göttlichen Referenz enthobenen, a priori partikularen Urteils dem Exodus der Philoso­phie in den Raum des Approximativen. Mit dem Abschied von jener Sicherheit, die Hegel unter der Garantie des absoluten Wissens an jeder Stelle der dialektischen Arbeit angekommen sein läßt, entäu­ßert sich die Geschichte des Denkens zu einem deiktischen Umkreisen der Differenz ex negativo. Sie findet sich bereits in Hölderlins Formel vom »Seyn im einzigen Sinne des Worts«34 und läßt Adornos Struktive des »Nichtidentischen« und des »ganz Anderen« als Zeugnisse eines experimentum configura­tionis der Reflexion unter dem massiven Druck realer Antagonismen verstehbar werden. Wird aber die Epopöe der Welt schon im Metier des Begriffs porös, dann um so drastischer – als ihre Auflösung – im Aktions- und Zerstreuungsimperativ des Mediamix- und Online-Fiebers. Am auffälligsten in der Trans­formation der Sprache zur vollmundigen Sprachlosigkeit kommandohafter Slogans und einer Waren­propaganda, deren Superlativhörigkeit inflationär und mit der Brachialität klarer Verhältnisse unaufhör­lich Jahrhundertromane, Megastars und Tophits oktroyiert. Meinungsgesellschaft heißt hier Unfähigkeit zum Urteil: eine Zersetzung der Kritik durch die Kontrollraster des Klischees, eine Aufkündigung der Differenzierung im Gemenge der Vorurteile und des Dafürhaltens. Daß in den Rayons der Konsum­ideologie alles egalitär nebeneinander rangiert, fügt sich zum Patchwork des Unterschiedslosen, zur Gleichgültigkeit des gleich Gültigen: ein Anything goes der Indifferenz als Ruin der Kunst der Unter­scheidung, ihrer Wahrheits- und damit ihrer Qualitätskriterien. Wahr ist, was gefällt.

Normierung und Schematisierung repräsentieren Spätformen einer Instrumentalisierung der Welt zum caput mortuum rationalistischer Autopsie- und Sektionsverfahren und ihrer Meß- und Bere­chenbarkeitskanons. Sie sind Male einer Sucht des Zurichtens und Überschaubarmachens. Infotechni­schem Management nach soll generell alles einer oralen Gestimmtheit zufolge in leichten Bissen einzu­verleiben sein. Vor allem der unverdrossen angemahnte Imperativ, jegliches Gesprochene und Ge­schriebene müsse gefälligst beim ersten Mal aufzufassen sein, zeigt Symptome der autoritär geköderten Abwehr eines Denkens, das den Pulk der Gemeinplätze mit verbotener Rede brüskiert. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis bestallte Popularisierungskomitees zur Durchsetzung einer mit lizenzierter Nutzbarbarkeit gepaarten Verständlichkeitsdoktrin Hegels Logik oder Beethovens Hammerklavierso­nate einem Textlifting unterziehen, bevor sie endgültig dem Desinteresse und der Belanglosigkeit zufallen. Der Versicherungsgesellschaft gilt der Ausschluß unberechenbarer Imagination und einer riskanten nouveauté des Unvorhersehbaren als eines ihrer obersten Ziele. Die Kunst des Impromptus verschwindet im observierenden Blick des Geklonten, indes die über Gebühr vergötzte und herablas­sende Simplifizierungsorder unter Berufung auf pragmatische Gründe eine Revue der Oberflächen­reize, ein Potpourri der Desinformation konserviert. Medientechnisch ist ihr Prinzip der Segmentierung und des Anekdotischen bereits im Programmschema der Sender angelegt: als dem Output von Triviali­sierungsmaschinerien. Je handlicher und eingängiger die einzelnen Beiträge, desto elastischer und taug­licher sind sie. Selbst in den sogenannten E-Musik-Ressorts wirken die weiten oder ins Offene ent­grenzten Dimensionen etwa von Feldmans For Philip Guston, von Cages Winter Music oder der großen indischen Raga-Tradition wie undomestizierbare Zeit-Emanationen gegen das kleinformatige Design eines hörerfreundlichen Parzellenwesens. Gegen die »mémoire involontaire« einer herrschaftskritischen Phantasie der Irritation und Transgression und gegen die Muße meditativer Suspension wird das Gebot, nicht zu langweilen, zum obersten Imperativ. Der Verstoß dagegen zur kommerziellen Tod­sünde. Dominant bleibt der hastige Wechsel kurzgeschnittener impressions zur Wiedererkennung des Bekannten. So konditioniert der telematische Beliebigkeitsrapport für ein erfolgreiches Lebensstyling und jene geschmeidige Anpassung in Worten und Werken, der Gesinnung zur Ware der Opportunität verkommt.

Die Wut des Verstehens als eine des Nicht-verstehen-Wollens nähert sich der Haltung der »Anti-Intrazeption«, einer »Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Sensiblen«, letztlich des Eros selbst.«35 Ähnlich verhält es sich mit der Abkehr vom Aufklärungspotential der Psychoanalyse. Auch wenn die Aversion gegen introspektive Expeditionen und Geständniszwänge nachzuvollziehen ist: an­statt sich den psychischen Strangulationen zu stellen, wird blockiert, was die Sonde der Reflexion tiefer in die Triebschächte des Bewußtseins gleiten lassen könnte, als der gängige psychologische Positivismus erlaubt. Analog einer Produzenten- und Konsumentenhektik, die das Bruchstückhafte und die Panik ih­rer Aktivitäten in der gottverlassenen ökonomischen Diaspora ahnt, zwingen vornehmlich die Didak­tikfanatiker der scientific community als Handlanger einer alles durchdringenden Bürokratisierung den Gedanken zur Prostitution von Billigwaren im Discount der Paradigmen. Mit dem vielleicht raffinier­testen, weil am besten getarnten Anspruch des Seriösen wird Denken zum Engineering von Wissen präpariert.«36 Während Hegels begriffsimmanente Idee der Vermittlung noch mit Dynamik, mit »Wer­den«, »Bewegung«, »Tätigkeit«, »Lebendigkeit«, »Weg« und »Reflexion« konnotiert war, harmoniert de­ren Veräußerlichung zum Taylorismus des Verschulungseifers mit den headlinegestutzten Info-Qui­ckies des Nachrichtengeschäfts und der Expansion des Visuellen über dessen raison d'être hinaus: seine Restriktionstechniken gegen die Erfahrungsintention des Gedankens korrelieren dem mortifizierenden Blick der Photokratie. »Aus dem Buchstaben, nicht aus dem Geist« lautet die heimliche Devise dieses gleich detailnegierenden wie -fetischistischen Wissensrecyclings nach dem Ideal des Piktogramms. Liegt aber in der Linearität der Schrift der Zwang des kausalen Procedere, so verpuppt sich im Jetzt des Bil­des die Eliminierung des Diskursiven. Während ökonomisch alles seinen Preis hat, soll der Geist par­tout umsonst sein. Hier zeigt sich das Phänomen eines intellektuellen Geizes, der mit der Emotionslo­sigkeit wissenschaftlicher Objektivität lediglich der grassierenden Empathieunfähigkeit nach dem Mund redet; einer Verwaltungsmentalität, die das Potential von Widerstand und Veränderung als private Ab­fuhr kaserniert, um das vorhandene Machtgefüge um so reibungsloser zu stabilisieren. Doch nur weil die Emotionen im täglich geforderten Heroismus des Hartseins allzuleicht auf ihren aggressiven Grund hin durchschlagen, kann der Habitus des Gefügigen und Moderaten glorifiziert werden.

Während die Kapitalisierung von Zeit und Leben ein unerbittliches Ritual von Verstoß und Strafe freisetzt – Vergehen gegen die Arbeits- und Leistungsökonomie müssen mit existentiellen Be­einträchtigungen bis hin zum Ruin der Existenz bezahlt werden – graviert die Mnemotechnik der Ver­wertung ihren Agenten das Tabu der Übertretung ein. Als Gesetz der Bilanzierung von Soll und Haben schreibt die Wettbewerbsgesellschaft den archaischen Rachemythos von Frevel und Vergeltung als mo­netäre Logik fort. Deren Abrechnungsdespotie nach dem moralisch drapierten Kodex von Schuld und Schulden, Buße und Einbußen, Solvenz und Absolution liefert den funktionalen Kitt in der Ananke des wirtschaftlichen Systems. Galt Fichte, Hegel oder Humboldt der Kontrapart des Anderen als ich­konstitutiv, bedeutet es schon für Rilkes Malte das »größeste Entsetzen, erwidert worden zu sein«37. Die Einbindung in »verabredete Grenzen«38 wird ihm zur Unterwerfung unter eine Zwangsgemeinschaft, in der Sprache zur Überredungsrhetorik des Man und Liebe zum taktischen Profil von Partnern wird. Deshalb durchschlug die Kunst der Moderne in zahlreichen Varianten der Subjektparalyse das linear-epische Zeitkontinuum, seine finale Ökonomie und deren mnemonische Synthesis als Instanzen einer Buchung von Einsatz und Gewinn, die sich bis in die Ästhetik des Erzählens hinein am Leben halten. Im Aufstand anarchischer Zeitrisse und blasphemischer Schocks gegen die Homogenität der temporalen Ordnung und deren Sinn- und Moralsedimente wollte zumal die Avantgarde die totalitären und blinden Züge bürgerlicher Demokratie und ihre wachstumsverblendete Diachronie des Fortschritts demaskieren: die Akkumulationsgier hinter der pharisäischen Larve vom Ethos der Askese, das Ka­tastrophische im irrational durchwachsenen Atheismus des Kapitals mit seinen zu ideologischem Mo­der verkommenen religiösen Versatzstücken; allen voran die Heiligsprechung der Erwerbsarbeit und ih­rer Rechtfertigungsexerzitien für Sinn und Leben. Gegen den Kommerz der Sprache stand die Absage an den Umlauf inflationärer Wortmünzen. Nach dem Motto von Artauds »briser le langage pour tou­cher la vie«39 galt es, die Sprachmaschine mit ihren syntaktischen Sperrbügeln, ihren semantisch ver­brämten Leerläufen und logischen Blockaden samt ihrem identifikatorischen Getriebe zu sprengen. Um den Preis, daß die poetische Sprache vom gängigen Sprachcode her immer hermetischer und verrückter wurde. So antwortet der »Ekel am Kommunikativen«, von dem Adorno in der Tradition moderner Ästhetik spricht, einem Realitätsprinzip, das die Legierung von Pragmatik und Sprache nach Maßgabe des Kalküls und einer pseudosinnlichen Entsinnlichung vorantreibt, hin zu einer Sprache, der zufolge jedes Wort seinen Nutzen abzuwerfen hat. Hölderlins Xenion: »Wißt! Apoll ist der Gott der Zeitungs­schreiber geworden, Und sein Mann ist, wer ihm treulich das Faktum erzählt«40, markiert früh den Be­ginn dieser Entwicklung, in der wenig später Grabbes Faust der hoffnungsträchtigen Sentenz der Frie­densfeier: »seit ein Gespräch wir sind«, im imaginären Dialog entgegnen kann: »So wär die ganze Menschheit nur Geschwätz!«41.

Heute eskaliert der Fetischismus der Fakten in der Herrschaft des Bildes, mit gravierenden Aus­wirkungen auf die Sprache. Deren Anpassung an die Logistik der Organisation und des Advertising signalisiert im Zug ständig erhöhter Zugriffsgeschwindigkeiten die Übermacht des Greifens im Begrei­fen. Die taktile Beschränkung auf das Faß- und Handhabbare, die Manipulationen eines alles durch­dringenden Reklamejargons, der kognitive coup de main als putschistischer Handstreich zeitoptimierten Know-hows zugunsten der griffigen Formel schärfen mit dem Ende des polysemantischen Wechsel­spiels von Ausdruck und Bedeutung das Wort zum Definitionsprojektil mit möglichst eindeutiger Tref­ferquote, frei von transzendierendem Ballast. Auffällig wird die haptische Dominanz des 'Kontrollin­struments der Information'42 in den Beschwärungsformeln des »Eigentlichen«, »Wirklichen«, »Echten«, in denen sich Sprachlosigkeit und Konkretionsbedürfnis legieren. Die »Abschleifung der Sprache zu ei­nem verkehrstechnischen Instrument«, das »dem Wort die Zeit versagt«, und ihre »Instrumentalisie­rung« zu einem 'Rüstungsmittel'43; die »operationelle Rationalität« einer »radikal antihistorischen Spra­che«, die, extrem in ihrer Abkürzungssucht, »begriffliche Entfaltung blockiert«, Erinnerung auslöscht und der »Unterdrückung von Geschichte« zuarbeitet44: solche massenkommunikativ transportierten »idola fori« sind es, die der Not der Zeit ihren Namen verweigern. Hegel bleibt aktuell auch darin, daß sich das Konkrete, erst recht in Form des modernen pathologischen Konkretismus, zum Abstrakten verkehrt, letztlich zur Abstraktion eines Verstandes, der sich in seiner technischen Idolatrie selbst ge­fangennimmt. Daß derzeit etwa von einer fundierten Ökonomiekritik nichts zu spüren ist, ist beängsti­gend; als hätte die Kontamination zwischen dem Zusammenbruch der östlichen Systeme und der von Marx initiierten Kapitalismusanalyse die oppositionelle Stringenz noch in den letzten Köpfen paraly­siert.

Auf seiten der Schrift offenbart der instrumentelle Konkretismus ein Doppeltes. Zum einen seine Willfährigkeit gegenüber einer »rituell-autoritären« Öffentlichkeit, die Tatsachen einsetzt aufgrund der Macht meinungsbildender Kartelle«45, indes ihre Stereotypen sich mit einem »weithin manipulierba­ren Bewußtsein« kurzschließen46; zum anderen seine Zurückgebliebenheit hinter den Ressourcen einer Emanzipation der Mittel. Die Konventionsraster linearer Textformation, die auf die gesellschaftliche Eindimensionalität des Profitablen und dessen Progressionsdrang verweisen, bleiben mit ihrer theolo­gisch-teleologischen Sinnmatrix hinter einer Welt zurück, die eben diese Matrix außer Kraft setzt: neu­erdings zugunsten einer Auflösung der Kontinuität von Tradition und Geschichte in den Mischungs- und Klitterungseskapaden des computer imaging und einer Kombinations- und Vernetzungs­schwemme von allem mit allem. Daß auf die Herausforderung des medialen Historismus bis auf wenige Ausnahmen selbst literarisch kein Umbruch der hochbetagten Text- und Signifikanzarmaturen reagiert hat, ist grotesk; ein Umbruch, der neben dem behauptungs- und begründungsdistinkten Diskurs, seiner diachronen Kausalität, seinen Vermittlungshierarchien und seiner Visualisierung im Schema des Block­satzes endlich auch dessen graphische Überschreitung einließe. Mallarmés Coup de dés muß keineswegs Literatur bleiben. Die Entbindung variabler Typographien jenseits der Abgeschlossenheit eines Text­körpers, der Blick und Schrift im Gitter der Lineatur gefangenhält, bliebe aber als Mimesis an das, was dem Begriffsnetz der Sprache entgleitet, und gegen die gesellschaftlich praktizierte Heilslehre des Machbaren um jeden Preis dem Organon des Denkens und seiner Grammatik nicht äußerlich: als eine Subversion der technokratischen Rede. Ihr Reduktionismus resultiert nicht zuletzt aus der Abwesenheit jener weißen oder devianten Stellen, deren semantische Wirbel und Frakturen den Parcours der her­kömmlichen skripturalen Ökonomie und ihrer Reflexionsmuster über die Topologie der »Evokation«, der »Andeutung« und »Anspielung«47 hinaus durchqueren und auf eine revolutionäre Polysemie hin transmutieren könnten. Weit entfernt von einer außer Kontrolle geratenen Assoziationsrhapsodie, der eingefahrenen Textur vielmehr an Präzision überlegen: als ein Sensorium der Kritik ohne das Überläu­fertum zu einer Willkür, der gerade die strenge Linearität souverän opponiert, und als eine Unterminie­rung jener gerundeten Schriftpraxis, die in einer Welt des Perspektivismus und der Relationen seltsam stabil bleibt und nur aus der Verinnerlichung kommerzieller, bürokratischer und autoritärer Konstanten erklärt werden kann: mit dem Zeilenprogreß als Zeremonienmeister des Gedankens, seiner in der Linie befangenen diachronen Mnemonik und dem Zwang einer syntaktisch geschlossenen Verkettung zu­gunsten starrer Seitensymmetrien.48 Zu Recht konstatiert Roland Barthes: »'Changer la langue', mot mallarméen, est concomitant de 'Changer le monde', mot marxien«49.

Es ist nur eine Facette dieses Sachverhalts, wenn das Gros zeitgenössischer Dichtung biedermeierliche Züge des Narrativen kultiviert. Längst haben das Monopol des Photographischen und die Story-Dramaturgie des Kinos weite Teile einer vermeintlichen Gegenwartsliteratur im Griff. Der Film zum Buch, das Buch zum Film konvergieren marktkonform. Während der Niederschlag der Wertabstraktion als Auszehrung des Besonderen die Warenstruktur der Sprache intensiviert, paktiert der narrative Gestus mit der merkantilen Algebra der Aktiva und Passiva: allein schon über den hand­lungsimmanenten Investitions- und Renditefonds seiner wie immer gebrochenen Geschichten. Noch gegen sein »J'accuse« transportiert der episch ausgelaugte Linearitätskanon der Literatur und des Films samt seinem Abbildcharakter Erfahrungsmodelle aus einer Zeit, als der Bürger sich noch als Souverän und im Besitz eines possessiven Identitätskontos fühlen konnte. Bis in die Syntax, die Erzählzeit und die Szenenwechsel, bis in die Kameraführung, den Schnitt und die Frequenz der Takes hinein organi­sieren trivialisierte Subjekt- und Weltlegenden das kollektive Bündnis mit dem, was der Fall ist, mag das Erzählte noch so verfremdet sein. Damit verringert sich der Unterschied der seriösen zur Triviallitera­tur auf ein Minimum. Anstatt – wie Tendenzen der musikalischen Avantgarde – mit dem Dereglement der enkratischen Sprache ernst zu machen50, nimmt die Verdopplungs- und Dokumentierliteratur nicht nur hierzulande unter unermüdlicher Berufung auf den Signifikanzprimat des Worts das Mandat des utilitaristischen Realitätsprinzips wahr: im deskriptiven Erlebnisdiskurs als dem Generator seiner eige­nen Sinnspur ebenso wie im akkumulativen Ich eines syntaxgläubig urteilenden Erzählers von Subjekts Gnaden – als hätte es Joyce und Breton nie gegeben. Vorbei die Zeit, als Flaubert von einem »Buch über nichts« träumte; einem »Buch ohne äußere Bindung, das sich selbst durch die innere Kraft seines Stils trägt«; einem »Buch, das fast kein Sujet hätte, oder bei dem das Sujet zumindest fast unsichtbar wäre«; von einer »Form«, die »alle Liturgie, alle Regel, alles Maß auf[gibt]«, die »das Epische zugunsten des Romans [verläßt]« und, mit der »Befreiung vom Stofflichen«, »keine Orthodoxie mehr an[erkennt]«51. So konsterniert heute das Paradox, ein Regime hochdifferenzierter technischer Produk­tivkräfte und deren Expansions- wie Liquidationsfuror von einer Provinzialität des literarischen Markts begleitet zu sehen: eine Legierung von Statik und Dynamik, die zu anderen Zeiten einmal den Boden­satz totalitärer Systeme abgab.

 

 

 

Am Ende der eschatologischen Vertröstung

 

Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Goethe bis Eichendorff die Vokabel von der Europa­müdigkeit die Runde gemacht hatte, bei Nietzsche dann von einer Müdigkeit am Menschen, bei Hof­mannsthal schließlich von einer am Wort und am Urteil die Rede war, grassiert in den heutigen Indust­riegesellschaften eine am offiziell Politischen. Dies irritiert und ist begreiflich zugleich in einem unter der weltweiten Wettbewerbsknute auf Kapitalinteressen hin ausgerichteten Systemkonnex mit seinen oft genug zu Handlangerdiensten degradierten parlamentarischen Lobbyisten, einer von adäquater Ge­winnbeteiligung ausgeschlossenen Lohnarbeit und einem Sozialetat auf Widerruf zu Lasten unrentabler Sozialparias, deren Entsorgung klammheimlich die Phantasien so mancher Gehirne in Politik und Wirt­schaft heimsuchen dürfte. Zu sehr dominiert in den Entscheidungs- und Schlüsselbereichen mit Wir­kung auf die unteren Ebenen eine bürokratisierte Saturiertheit, deren Funktionärswesen im Handeln wider besseres Wissen eine Allianz aus Apathie und Betriebsamkeit in Gang hält. Sie deklariert das, wo­für gemeinhin kritisches Denken, Opposition, Zivilcourage stehen, zu taktischen Mißgeschicken im Management des Erfolgs. Mit dem Resultat, daß sich die restaurativen Manöver mit ihrer Sucht nach Karriere und privater Vorteilsnahme im männerbündischen Utilitarismus von Cliquenwirtschaft und Fraktionszwängen ebenso etablieren wie im Fundamentalismus der Einverständnishysterie mit ihrem Lieferantentum von Ausreden. Fusioniert mit der Ideologie des Geredes vom Ende der Ideologien und dirigiert vom medialen Über-Ich und seinen Amnesie- und Entdifferenzierungsgeboten hält in den ka­pitalistischen Formaldemokratien zudem die Verinnerlichung gesellschaftlicher Zwänge über die libidi­nöse Besetzung von Machtsphären einschließlich noch der des Starkults den Triebmechanismus von Aggression und Destruktion quer durch alle Instanzen am Leben. Zwar hat sich der autoritäre Typus hinter der Maske des Liberalen zu einer Spielart des zynischen gewandelt; seine Psychodynamik von ei­gener Unterordnung und einer Unterwerfung von anderen bis in die binären Denkschaltungen des Entweder/Oder, des Ja/Nein, des In/Out hinein kommt jedoch wie stets den institutionellen Hierar­chien in vorlaufendem Gehorsam entgegen. Dies zeigt die Anamnese der neokonservativen Gegenwart mit ihren vereinten Mitten noch über deren Kaste hinaus nur zu deutlich. Die lautlos über ein Netz von Tabus gesicherten Abwehrstrategien gegen Regelverstöße, die sich wider die Gerontokratie des Beste­henden richten könnten, lassen weiterhin Macht als Macht funktionieren, indes noetisch verfestigte Verwaltungsrigiditäten der Reproduktion der »Authoritarian Personality« zuarbeiten. »Gebrauchswert wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts«52. Was Marx im Rahmen der Warenanalyse als einen der Nervenpunkte von Verdinglichung ausmacht, erfaßt ungebrochen den Grund, der die Wertobsession des Kapitals, die Verfügungsregie der Bürokratie, die Stereotypie der Medienindustrie und die Normenhörigkeit des autoritätsgebundenen Charakters über die Exhaustion des Besonderen konvergieren läßt: in der generellen Profitfungibilität der Ware ebenso wie im administrativen Primat des Regelfalls, in der Auswechselbarkeit und Neutralisierung des Inhalts kulturindustrieller Typisierung nicht weniger wie in der Differenzierungssperre einer potentiell totalitären Konformität.

Daß mit der Verkümmerung des einzelnen, der sich in arbeitsteiliger Mobilität »verzehrt«, »allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt« wird, »damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste«; daß sich in dieser Einförmigkeit »der Mensch selbst nur als Bruchstück aus[bildet]«, »ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt«, ein bloßer Abdruck seines Ge­schäfts, seiner Wissenschaft», diagnostizierte Schiller am Ende des 18. Jahrhunderts.53 Mittlerweile hat sich diese Zersplitterung zu einer handfesten Polyphrenie entwickelt, die die suggerierte duale Spaltung des gängigen Schizophreniebegriffs harmlos erscheinen läßt. Normal wird der je eigene Wahn wider­sprüchlichster Rationalisierungen, sofern dieser nur auf allgemeine Fügsamkeit eingeschworen bleibt. Unter dem Druck der Verhältnisse werden alle zu multiplen Agenten, gerade weil die Idee der Diffe­renz zu dem, was ist, das Parieren im Puritanismus agonaler Geschäftigkeit bedroht und tunlichst ent­schärft werden muß. Im engmaschigen Delegationsnetz einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft samt ihrem gegängelten Konsumsektor und einer reglementierten Scheinöffentlichkeit unter Ausschluß der Mehrheit von wesentlichen Entscheidungen zerrinnt das Leben zwischen Beliebigkeit und Bevormun­dung. Nur ist der Hang zur Delegation, bei Kant hieß das: der »Unmündigkeit« gegen den couragierten Entschluß des »Sapere aude!«, im Labyrinth äußerster Spezialisierung mittlerweile zu einer Notwen­digkeit des Überlebens geworden.

Dennoch helfen angesichts des Kaspar-Hausertums einer Gesellschaft, die sich über ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft und damit über ihre Gegenwart zunehmend im unklaren bleibt, weder moralisierende Besserwisserei noch fatalistische Endzeitstimmung weiter. Jedes Katastrophendiktum wird zum dogmatischen Salto mortale. Es geht nicht darum, der Videologie und dem Videotentum der Fernseh-Ära elitär-naiv Einkehr zu predigen, sondern darum, den Status quo ohne Defätismus und Utopismus am eigenen Mißverhältnis zwischen Realität und Potentialität zu messen. Welch emanzipa­torische Prothetik die elektronische Armatur eröffnen könnte, entkäme sie dem heillosen Zirkel von Vermarktungsgier und einem konzernmäßig lancierten Terror des Massengeschmacks, liegt auf der Hand. Selbst ein noch so marginales Beispiel wie das der CD-Rom-Technik, die beim Hören etwa einer Beethoven-Symphonie das Herausheben einzelner Instrumentengruppen erlaubt, verdeutlicht das. Ob­wohl dieses Röntgenverfahren für Musikinteressierte, die keine Partituren lesen können, eine wichtige Rolle bei der strukturalen Auffassung des Komponierten spielen dürfte, existieren qualitätvolle Auf­nahmen dieser Art so gut wie nicht. Absurd wäre es auch, wollte man das Phänomen einer informati­onsbedingten Sensibilisierung für Menschenrechts- und Umweltfragen in Abrede stellen, wenigstens in Regionen, die sich den Luxus von Ethos und Liberalität leisten können: in Zukunft dürften es rassisti­sche Exzesse und ökologische Delikte zumindest ihrer Akzeptanz nach schwerer haben. All das kann nicht als pures Humanitätsmarketing abgetan werden. Und daß es den bis in die soziale und psychische Mikrophysik hineinreichenden teletechnischen Codes gelingt, ein Heer von lemurenhaft angepaßten Arbeits- und Konsumidioten zur bloßen Schnittstelle der Ware Öffentlichkeit zu instrumentalisieren, bleibt eher unwahrscheinlich. Ein Blick auf die verhärmten Gesichter vor gut sortierten Warenbergen und ihre von pausenlosen Nebenbei-Musiken angetönte Einsamkeit genügt. Manches spricht dafür, daß die kulturindustrielle Warendynamik noch in ihren entstellten Animationen einer Ebnung des ökono­mischen Gefälles zuarbeitet: als die nicht mehr zu tilgende Ahnung einer global befreiten Fülle ohne den bisherigen Blutzoll von Armut und Verelendung. Trotz ihrer monolithischen Züge bleibt in den Konsum- und Freizeitressorts ein untergründiges Unbehagen zumal der unterprivilegierten Schichten dem asketischen Aufschub und der gleichmacherischen Verlogenheit politischer Bescheidenheits- und Verzichtsappelle gegenüber spürbar. Zugegeben eine privatistisch gepanzerte und nicht selten von Xe­nophobie und Ausgrenzungsparanoia verhärtete Resistenz, die angesichts eines vom ökonomischen Würgegriff deformierten Lebens aber kaum verwundert.

Führt ein Weg von der »Visio Dei« des Nicolaus Cusanus über Nietzsches »grosses Auge« zum verinnerlichten Tele-Blick, dann zugleich einer zum Ende jener Transzendenz im Zeichen des Sündenfalls und einer infiniten Perfektibilität, die häufig genug einer Entwertung gesellschaftlicher und politischer Belange Vorschub leistete; ein Weg zum Ende der Differenz unter dem Bann jenseitiger Schuld und eines diesseitigen Verrats am Hier und Jetzt: gegen die Geduld des Wartens und ihre eschatologische Vertröstung, gegen das quantitative Fortschrittskalendarium der Aufklärung und gegen die Unerreichbarkeit sollensbedingter Approximationsfiguren – und sei es um den Preis von Nietzsches »letztem Menschen«. Das Problem der Rechtfertigung der Welt, woran der Philosoph der Geburt der Tragödie laborierte, verflüchtigt sich zum Phantomschmerz des letzten Metaphysikers vor dem unwi­derruflichen Einzug der Transzendenz in die Immanenz und der mundanen Fixierung des Blicks. Adornos These zu möglichen Erosionstendenzen der geschlossenen Gesellschaft wäre demnach auch in ihrer zweiten Perspektive ernst zu nehmen. »Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren sie [sc. die Menschen] die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, daß damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Ge­sellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegra­tion; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert. [...] Die totale Vergesell­schaftung brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne daß bis heute zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Befreiung.«54 Vorerst jedoch ist »dem immensen Beachtungsdefizit in Massengesellschaften durch Freigabe des Exhibitionismus für alle gesteuert«; »der Unfähigkeit, mit sich selbst und mit ande­ren etwas Rechtes anfangen zu können, durch die schlagartigen Erwartungserfüllungen aller Art, die durch Stimulationen, Effekte und so rasch wieder erlöschende wie aufblitzende Reize« gespeist werden, »nur nicht durch das, was langen Atem und Versenkung in die Sache braucht«; schließlich »dem Hunger der Dekonzentration durch unaufhörliche Dosen von Parole, Reizwort, abstract und Information.«55 Während die Kulturindustrie die alten Kampfcodes von Selbstbehauptung qua Ausgrenzung, von Sichfügen und Beherrschen konserviert, wird bislang nur in der Kunst der Moderne und derjenigen mancher außereuropäischer Kulturkreise – an den dezentrierten Entgrenzungen Mallarmés, Cages oder an japanischer Shakuhachi-Musik – erfahrbar, was dem gesellschaftskonformen Unterhaltungsdelirium am meisten verhaßt ist: Delinearisierung und Dehierarchisierung ohne Regression.

Eine der faszinierendsten Stellen abendländischen Komponierens findet sich im E-Dur-Terzet­tino von Mozarts Così fan tutte. Um im Horizont des »desir« die Projektionen von Sehnsucht und Begehren zum Unbekannten und Abgründigen zu verrätseln, öffnet die Musik im Trugschluß eines wechseldominantisch verminderten Akkords das tonale Terrain plötzlich aufs Bodenlose hin. Obsessiv wiederholt steht dieser präzise Traumklang, der das Wort auf eine unendliche Reise schickt, in seiner Entrückung und seiner bedrohlichen Schwebe zwischen Erfüllung und Versagung wie eine chimärische Chiffre gegen das organisierte Glück und die gestanzten Träume des digitalen Zeitalters. Er innerviert über die private Wunschlandschaft des Belcanto-Zaubers und seine in Natur gespiegelte Meteorologie der Seele hinaus die Frage, ob die Kraft des Eros den Todessog einer Zivilisation des destruktiven Anankasmus doch noch eindämmen könne. Bis dahin aber, das heißt solange nicht ausgemacht ist, daß die Hoffnung auf ein Ende der Surplusökonomie und ihrer schamlosen Kluft zwischen Arm und Reich mit Inkonsequenz gleichzusetzen sei, gilt wohl: »wer immer in einer Wüste Sahara lebt, der kann ohne Fata Morgana [...] gar nicht existieren«56.

 

Nachweise und Anmerkungen

 

  1        Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Kritische Studienausgabe, Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 6,

             S. 258.

  2        Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 205.

  3        Ebd.

  4        Nietzsche, Ecce homo, S. 259.

  5        Vgl. Francesco Petrarca, Brief an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro, in: ders., Dichtung und Prosa, Hg. Horst Heintze, Berlin

            1968, S. 251ff.

  6        Jean Paul, Titan, in: ders., Werke in zwölf Bänden, hg. von Norbert Miller, München 1975, Bd. 6, S. 966, 1007.

  7        Joseph von Eichendorff, Viel Lärmen um nichts, in: ders., Sämtliche Erzählungen, München 1991, S. 152.

  8        Adalbert Stifter, Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, in: ders., Die Mappe meines Urgroßvaters,

            München 1986, S. 281ff.

  9        Blaise Pascal, Pensées, Hg. Jacques Chevalier, Paris 1954, S. 1113.

10        Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Bd. 3, S. 9.

11        Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, KSA 1, S. 875.

12        Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887-1889, KSA 13, S. 540, 543.

13        Nikolaus von Kues, De visione Dei, in: Geschichte der Philosophie, Bd. 2 (Mittelalter), Hg, Kurt Flasch, Stuttgart 1982 , S. 506.

14        a. a. O., S. 509. Vgl. auch Nikolaus von Kues, De quaerendo Deum, in: ders., Philosophisch-theo­logische Schriften, Wien 1982, Bd. 2,

            S. 571, 583.

15        Nikolaus von Kues, De visione Dei, S. 514.

16        a. a. O., S. 510.

17        a. a. O., S. 522.

18        a. a. O., S. 529.

19        a. a. O., S. 510.

20        So Marshall McLuhans eigene Variante.

21        Nikolaus von Kues, a. a. O., S. 521f.

22        a. a. O., S. 512.

23        Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 331.

24        Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 350.

25        Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 239.

26        Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 198.

27        Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, KSA 6, S. 390f.

28        Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 618.

29        Claude Lévi-Strauss, Mythologica 1, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt/M. 1976, S. 31.

30        Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders., Werke in zwölf Bänden, Hg. Wilhelm Weischedel,

           Frankfurt/M. 1968, Bd. 11, S. 54.

31        Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt/M. 1982, S. 63.

32        Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969, S. 139.

33        Vgl. Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 1969, S. 21ff.

34        Friedrich Hölderlin, Hyperion, in: ders., Sämtliche Werke, Hg. Friedrich Beißner, Frankfurt/M.-Wien-Zürich 1965, S. 717.

35        Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973, S. 82.

36        Vgl. dazu Christoph Türcke, Vermittlung als Gott. Kritik des Didaktik-Kults, Lüneburg 1994.

37        Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/M. 1982, S. 198.

38        a. a. O., S. 83.

39        Antonin Artaud, Le Théatre et son Double, Paris 1966, S. 12.

40        Hölderlin, Sämtliche Werke, S. 177.

41        Hölderlin, Friedensfeier, in: ders., Sämtliche Werke, S. 346; Christian Dietrich Grabbe, Don Juan und Faust, Stuttgart 1963, S. 42.

42        Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied u. Berlin 1967, S. 122.

43        Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 52, Frankfurt/M. 1982, S. 10f., 34f.

44        Marcuse, a. a. O., S. 116f.

45        Ebd.

46        Adorno, Stichworte, in: ders., GS 10.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 711.

47        Stéphane Mallarmé, Verskrise, in: ders., Sämtliche Dichtungen, München 1992, S. 284.

48        Vgl. zum Problem der Linearisierung den ersten Teil von Jacques Derridas Grammatologie, Frankfurt/M. 1983, insb. S. 144ff.

49        Barthes, Leçon, Frankfurt/M. 1980, S. 34.

50        Vgl. Barthes, Die Lust am Text, S. 62.

51        Gustave Flaubert, Briefe, hg. von Helmut Scheffel, Zürich 1977, S. 181.

52        Marx, a. a. O., S. 70.

53        Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Sämtliche Werke in fünf Bänden, München 1980, Bd. 5, S. 584f.

54        Adorno, Negative Dialektik, in: ders., GS 6, Frankfurt/M. 1973, S. 339f.

55        Hermann Schweppenhäuser, Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg 1986, S. 93.

56        Theodor Fontane, Die Poggenpuhls, Stuttgart 1969, S. 30.

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