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Wo bleibt das Gefühl?

Fragen an die Musik der Gegenwart

 

 

Musik und Gefühl, wie wäre das zu trennen? Gilt Musik nicht ihrer Natur nach als eine Kunst der Affekte? Und doch ist diese Wesensbestimmung samt ihrer Orientierung an der dur-moll-tonalen Empfindungswelt durch und durch historisch. Umso erstaunlicher, dass Neue Musik trotz einer solchen Relativierung vom breiten Publikum weiterhin rigoros abgelehnt wird: nach Art einer geschichtlich beispiellosen Singularität, deren unmenschliche Konstruktionen auf bislang unerhörte Weise die Vertreibung aus dem Paradies des gefühlvollen Wohllauts besiegeln. Abgesehen davon, dass sich zeitgenössisches Komponieren längst schon mit dem Formenkreis des Melos auseinandersetzt: Weshalb sollte die Musik der Gegenwart den Funktionalismus des modernen Lebens konsumfreundlich abfedern, anstatt darauf zu reagieren, was der Kult des Gefühls und seine Vermarktung mittlerweile an ästhetischer Erkenntnis blockieren? Wenn aber Neue Musik das Ich-Monopol der Emotionen auflöst, worauf zielt dann das Neue, Andere ihrer Kompositionen?

Wo bleibt das Gefühl?

Fragen an die Musik der Gegenwart

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Bayerischer Rundfunk, 2008

 

 

Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra, 2. Satz [Tr. 2, 0´00-2´47] [2´47]

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Ein Konzert; ein Violinkonzert; komponiert 1987. Neue Musik also! Oder doch nicht? Diese gefühlvollen Takte aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra: Berühren sie, irritieren sie, verärgern sie? Womöglich sollte man mit Kompositionen solcher Fasson kurzen Prozess machen und sie umstandslos zum Kitsch erklären. Zu einer kommerziellen Wellnessmusik, regressiv in jeder Note. Gemessen am Wahrheitsideal der radikalen Neuen Musik wäre man damit immerhin mit sich im Reinen.

Oder macht es sich ein solches Urteil zu leicht? Wäre nicht auch eine Einschätzung mög­lich, die das Komponierte ernster nimmt? Eine Einschätzung, die in Glass’ Violinkonzert eine Musik des „Als-ob“ mithört? Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleich­sam eine in Anführungszeichen? Eine Musik somit, die selbstverliebt in sich kreist und mit der kulinarischen Aufbereitung alltäglicher Sequenzen und Kadenzen etwas vom einsam­keitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart zelebriert? Raffiniert zehrt die Komposition vom Kult des Gefühls, um diesen Kult und seine melodischen Relikte sofort wieder durch tonale Versatzstücke zu unterlaufen. Eine cool gestylte Softmusic, fast ohne Eigenschaften. Beschreibt diese tönende Hohlraumversiegelung einer diffusen und leeren Innerlichkeit nicht einen Grundzustand heutigen Lebens? Hat demnach eine gewisse Dosis an Gefühl auch noch in der sogenannten Ernsten Musik unserer Zeit eine Zukunft? Oder ist Philip Glass’ kühl melodisches Violinkonzert eher ein Dokument und weniger ein Kunstwerk, so­fern das Kunstwerk dem fortgeschrittensten Stand der ästhetischen Produktivkräfte ver­pflichtet ist und damit dem Vorrang des „Formgesetzes“ vor der Tendenz zur Schilderung? Als Kunstwerk hätte sich gegenwärtiges Komponieren mithin anders anzuhören. Etwa so:

 

Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00-2´13] [2´13]

 

So kennt man sie, die Neue Musik, gefühlsabstinent bis zum Äußersten. Während das Vio­linkonzert von Philip Glass die melodisch fundierte Ich-Rhetorik als Sprache, als die Spra­che voraussetzt, unternimmt Helmut Lachenmanns Ausklang für „Klavier mit Orchester“ eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Die historische Dimension dieses Sprachgrunds auszuloten, sein Werden und Vergehen, und zwar über die Andeutung und den Entzug musikalischer Sinneffekte, darum geht es in Lachenmanns Komposition. Lachenmann interessiert nicht das melodiös gefühlvolle Wechselspiel des Konzertanten, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Zielt Glass aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Ermöglicht somit erst die Demontage jeder Gefühlsdramaturgie eine neue, ereignishafte Präsenz der Klänge? Hat folglich zeitgenössische Musik, die ihren Namen verdient, etwas mit dem Unberechenbaren zu tun, fern von allen sentimentalen Ichlegenden?

Seit dem 19. Jahrhundert bahnt das Gesanglich-Melodische am zuverlässigsten den Kö­nigsweg in die Innerlichkeit des Gefühls. Schon 1837 präzisiert Heinrich Heine am Bei­spiel Rossinis jene Drift ins Private, in der sich das „Gefühl eines Einzelnen“ und das „Vorwalten der Melodie“ im „Ausdruck eines isolierten Empfindens“ miteinander verbin­den. Kein Wunder, dass Rossini der „Zeit der Restauration“ zum musikalischen Kronzeu­gen werden konnte, einer Zeit, in der die „Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten“.

Was aber heißt überhaupt Gefühl? Und was kritisiert und vermisst das breite Publikum an Neuer Musik und deren angeblich so seelenlosen Konstruktionsexzessen? Vorrangig be­deutet Gefühl in dieser Kritik den Wunsch sich zu fühlen. Deshalb soll Musik die weite Bühne der Projektionen aufschlagen, eine Bühne all jener Fantasien und Sehnsüchte, die eine hyperaktive Leistungsgesellschaft reguliert und stranguliert.

 

Bspl. 3: Giacomo Puccini, Manon Lescaut, Intermezzo (Atto 3) [Tr. 10, 0´00 - 5´20] [5´20]

 

Ist es nicht grandios, dieses Panorama der Passionen, dieses Kraftwerk der Emotionen? Was wäre daran problematisch? Nichts, außer dass Puccinis Drama von Liebe und Tod die Ekstase des Augenblicks mit der Aura der Ewigkeit auflädt. Als Protest gegen die Askese der Realität blendet der Traum vom großen Passionato den Aufbruch zu neuen Ufern aus. Ergriffenheit ist nur schwer zum Abschied zu bewegen. Und schließlich wäre da noch das Vorurteil, die Abkehr vom Gefühlsprivileg des Ich ziehe den Verrat am Menschen, gar eine menschenverachtende Kunst nach sich.

Nochmals: Nichts gegen den Zaubersog der Affekte, aber alles gegen seine Ausschließ­lichkeit. Verschanzt sich doch hinter dieser Ausschließlichkeit der zeitlos überspannte An­spruch des Ich-Regiments mit seinem Gebot: Musik muss ein Spiegel sein, Musik muss mein Spiegel sein, in dem ich mich wiedererkennen, in dem ich mich bespiegeln kann. Die Welt der Töne: ein einziger Resonanzkörper meiner selbst. Es ist dieses alte Spiel von Echo und Narziss, das alles Fremde abwehrt. Tabu ist, was verstört. In der unstillbaren Sehnsucht, immer nur sich selbst zu begegnen, verkümmert freilich die ästhetische Urteils­kraft. Angstbesetzte Abwehr wird zur kläglichsten aller Musen, ja sie wird amusisch, wo es zuzulassen gilt, was nicht sofort von den eintrainierten Filterverfahren und Sinngebungs­agenturen auf Bekanntes hin entschärft werden kann. Deshalb gerät Neue Musik mit ihrer Abkehr von der bestätigenden Spiegelfunktion so rasch zur Kränkung des narzisstischen Ich.

Gewiss, unter dem ökonomischen Druck von Konkurrenz und Rendite und dem ständigen Zwang zur Selbstoptimierung werden Praktiken der Verwöhnung lebens-, ja überlebens­notwendig. Dazuzugehören, sich nicht einsam fühlen, sich belohnen - was wäre verständli­cher? Wer oder was sollte in einer Welt der gnadenlosen Immanenz und der Frist des Nur-einmal-Lebens noch verlangen können, unnötig Schmerz zu ertragen? Oder Sinne und Verstand auf Verluste und Versagungen hin zu schärfen, die kaum noch als Verlust oder Versagung erfahren werden? Um sich den Dissonanz- und Geräuschhöllen einer Musik auszuliefern, die einem Eissturm gleich in die Wärme privater Wunschlandschaften ein­bricht?

Keine moralisierenden Klagen und Anklagen also, mag auch die globalisierte Wohlfühl­kultur ihren Tribut fordern, um die Erschöpfungs- und Depressionsfallen einer Welt im pausenlosen Stress aufzuhellen. Den Tribut etwa, dass musikalische Erfahrung unter der Schockstarre des lädierten und nostalgisch veranlagten Ich zu ertauben beginnt. Entgegen aller Werbung werden Abenteuer außer Kraft gesetzt, zumindest ästhetisch, falls Aben­teuer etwas mit Wagnis und Ereignis zu tun haben, mit aventure und adventura und dem Advent des Unverfügbaren. Doch um diesen Verlust zu spüren, müsste erst einmal ver­misst werden, was nicht vermisst wird, solange das Credo des Publikums lautet: Nur keine Erschütterung, die das tonal-codierte Hör- und Gefühlsrecycling sprengen könnte! Wie im Märchen Vom Hasen und vom Igel ist das narzisstische Igel-Ich immer schon zur Stelle, um die Klangwelt blitzschnell nach dem Maß von Lust und Unlust zu sondern. Musik als Selbstbestätigungsdroge - warum nicht? Selbst dann noch, wenn dadurch jedes Geheimnis, jede Entdeckung ausgetrieben wird.

Und was gäbe es nicht alles zu entdecken! Allem voran das Phänomen, dass Neue Musik längst nicht mehr unerbittlich in Waffen steht, die Rede von ihrer durchweg aggressiven Panzerung demnach endgültig zum Klischee geworden ist.

 

Bspl. 4: Liza Lim, The Heart's Ear [Tr. 4, 5´35 - 7´51] [2´16]

 

Was hätte dieser 1997 komponierte interkulturelle Dialog der Australierin Liza Lim noch mit inhumanen Klang-Attacken zu tun? Trotzdem geht die Komposition The Heart's Ear, in der sich die Musik aus einem orientalischen Melodie-Fragment heraus auffächert, nicht in einer der üblichen Crossover-Mixturen mit ihren gefällig-gefühligen Exotismen auf. Im Gegenteil: die Materialbasis des Werks, ein arabisch-türkisch gefärbtes Sufi-Melisma, wird bei Lim gleichsam zur Hefe eines vielfältig sich verzweigenden Organismus, durch den der melodische Triebgrund nur schattenhaft hindurchtönt. Lims Musik verästelt sich unentwegt in einer Verwandlung der Basismelodie, wuchernd bis hinein in die feinsten Faserungen des vierteltönigen Mikrogeflechts: Ein Gewebe, mittelpunktslos mit wildwüchsigem Ei­genleben, das trotz seiner melodischen Grundtextur die Orientierung entzieht. Solches Komponieren verlangt ein Hören, das sich auf die Dezentrierung der Komposition einlässt; ein Hören, das sich öffnet, frei vom Zwang der Ich-Kontrolle und der Zentralregie des Ge­dächtnisses. Ist diese Musik nun eine ohne Gefühl? Oder anders gefragt, was wäre in dieser Musik Gefühl und was nicht?

 

Bspl. 5: Liza Lim, The Heart's Ear [Tr. 4, 8´51 - 10´57] [2´06]

 

„Musik ist Gefühl!“. Gilt dieser konsumfreundliche Glaubenssatz nicht zu Recht? Ist Mu­sik nicht ihrer Natur nach die Kunst der Leidenschaften? Und doch trägt diese Wesensbe­stimmung nur - und auch dies lediglich vergröbernd -, solange wir uns auf die romantische Tradition der dur-moll-tonalen Empfindungswelt fixieren. Erst als der Druck der tech­nisch-rationalen Weltbemeisterung zunahm, gewann das Reservat der Gefühle an Gewicht, getrennt von dem, was einst von Verstand und Vernunft nicht zu trennen war. Aufgrund dieser durch und durch geschichtlichen Gleichsetzung von Klang und Gefühl handelt es sich im Fall der Neuen Musik also keineswegs um jene Singularität, als die sie weithin ab­gewehrt wird: Als wäre Neue Musik der Sündenfall der Musikgeschichte, der das Ich aus dem Paradies des Wohlklangs und der Sinnlichkeit vertreibt.

Nach einem halben Jahrtausend europäischer Subjektpräsenz mit ihren philosophischen, naturwissenschaftlichen, industriellen und wirtschaftlichen Emanzipations- und Expansi­onsschüben hat sich die Geschichtlichkeit des Subjekts zum Glauben an seine Überge­schichtlichkeit verhärtet, mag es mit dieser Absolutheit auch kaum noch zum Besten ste­hen. Allzu hohl klingt allein schon die Rede von der Einzigartigkeit des Individuums in­nerhalb funktional komplexer und extrem arbeitsteiliger Gesellschaftssysteme. Seitdem Leben die Bewältigung widersprüchlichster Denk- und Handlungsweisen verlangt und zwischen Abhängigkeit und Beliebigkeit zu zerrinnen droht, fällt es schwer, das Patchwork der Rollenmuster unter dem Begriff der Autonomie zu verbuchen.

Zudem ist die Geschichtlichkeit des subjektivierten Ich am Wandel der Musikepochen und ihrer Stilvarianten ablesbar. Melodie und Melodisches sind ebenso wenig fixe Gegeben­heiten wie der Fundus an Emotionen und Affekten. Auch wenn wir unter dem Gefühlsbo­gen einer Melodie eine eingängige, durchhörbare, auf Spannung und Entspannung ange­legte Relation von Tönen verstehen, deren Steigen und Fallen sich ich-rhetorisch auflädt: Die Melismen des Hochmittelalters, die nicht Einzeltöne, sondern Formeln kombinieren, bezeugen ein anderes Melodiekonzept, falls hier überhaupt von Melodie zu sprechen wäre. Nicht anders die „Prosamelodik“ der Renaissance-Polyphonie mit ihrer Vermeidung von Ton- oder Tongruppen-Wiederholungen. So hat denn auch Johannes Ockeghems Requiem aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit den Erlebnisfolien heutiger Ich-Qualitäten nicht das Geringste zu tun. Und doch wäre es aberwitzig, diesem Werk aufgrund solcher Gefühlsabstinenz den Rang eines Kunstwerks abzusprechen.

 

Bspl. 6: Johannes Ockeghem, Requiem, Tractus [Tr. 4, 6´07 - 8´13] [2´06]

 

Umbauprozesse gehören auf der Großbaustelle der Musik zum Alltag. Solche Umbaupro­zesse aber schulen das Ohr, historisch zu hören, historisch zu denken. Lange Zeit waren Melodie und Melodisches die grandiosen Gefühlsverstärker und Ich-Multiplikatoren. Aber eben nur für lange, nicht zu jeder und keineswegs für alle Zeit. Selbst wenn sich unsere Kultur der Musikdrogen kaum noch einen Klang ohne nachhaltige Gefühlsresonanz vor­stellen kann: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde Musik erneut resistent gegen mar­kante Melodieprofile und ihren Effekt der Einfühlung. Es war insbesondere die Ausfaltung der zwölftönigen Skala in gleichrangige Akkordwertigkeiten, die der Spannung zwischen Konsonanz und Dissonanz und damit der Sprache des Gefühls den Boden entzog. Dass in­nermusikalische und außermusikalische Entwicklungen freilich in Wechselwirkung stehen, liegt auf der Hand.

So absurd es daher wäre, von reinen Gefühlen auszugehen - Gefühle sind stets historisch gefärbt und gebrochen -, so absurd wäre es, Emotionen und Affekte seit den Zeiten der in­dustriellen Revolution nur noch als kommerzialisiert und marktkonform zu begreifen. Schmerz, Wut, Verzweiflung sind bislang immer noch nicht wegsediert, mag die pharma­kologische Steuerung der Stimmungen und Befindlichkeiten auch zunehmen. Dennoch ist nicht zu unterschätzen, wie sehr die Pflicht zu Aktivität und Effizienz eine rasche Beseiti­gung emotionaler Dysfunktionalität verlangt. Und dass in der Ära der Bilder und Internet­welten und in einem Klima der Anonymisierung die sogenannten weichen Gefühle bis hin­ein in den Bereich von Liebe und Sexualität konsumstrategisch und klischeeorientiert be­setzt werden - nicht zuletzt auch musikalisch - ist eine Binsenweisheit. Genau diese affek­tive Gängelung aber ist es, auf die ein Teil der Neuen Musik kritisch antwortet.

Wird auf dem Bazar der Massenmedien noch das vermeintlich Intime öffentlich inszeniert und zum Fremden, werden somit Empfindungen nicht selten zu manipulierbaren Versatz­stücken, dann finden solche Zurichtungen ihren adäquaten musikalischen Ausdruck in Gestaltmodellen der Stereotypie. Entsprechend reagiert der Automatismus der Wiederho­lung in Michael Reudenbachs (Bruch)Stück(en) auf die Wiedererkennbarkeit des Melodi­schen und die Verhärtung dieser Wiedererkennbarkeit zur Gefühlsroutine. Reudenbachs (Bruch)Stück(e) entlarven eine Ökonomie der Emotionen, in der sich das Ich an die Sti­mulationsmaschine Musik anschließt, um mit den Zumutungen des Daseins auch jede Be­drohung der Selbstsicherheit im Bekannten abzudämpfen.

 

Bspl. 7: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) [Tr. 9, 2´57 - 4´26] [1´29]

 

Keineswegs geht es Reudenbach um eine Herabsetzung des Gefühls, wohl aber darum, was aus den Gefühlen unter der Dominanz der Märkte und Medien geworden ist. Die eingefro­renen Gesten in Reudenbachs (Bruch)Stück(en) werden zu einem Reflex des mechanisier­ten Lebens, der existenziell gemeint und zugleich von slapstickartiger Wirkung ist. Die vom subjektiven Zeitsinn getragene Repräsentanz des Melodischen und Affektiven läuft leer und schärft sich in den Rupturen dieses Leerlaufs schockhaft zu einer Entstandardisie­rung des Gewohnten.

 

Bspl. 8: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) [Tr. 9, 2´57 - 6´02] [3´05]

 

Zeitgenössisches Komponieren verabschiedet sich von jenen Spiegelwänden, die Ich und Selbst seit gut dreihundert Jahren ihrer eigenen Idealisierung wegen aufgezogen hatten. Während sich gängige Rezeptionsgewohnheiten an der tonalen Immunisierung mit hohen Wiedererkennungswerten ausrichten, beharrt Neue Musik auf der Entwöhnung vom Fe­tisch des Erlebnisses und des leicht Konsumierbaren.

Musik, die mehr sein will als eine Möblierung von Stimmungsnischen, reagiert auf das Monopol, mit dem die Rituale des Gefühls und ihre Vermarktung mittlerweile Sinne und Erfahrung blockieren. Anders als die emotionalen Massagen, bei denen sich die allgegen­wärtige Pop-Musik und eine zurechtgehörte Klassik ergänzen, hält Neue Musik am Expe­riment von Grenzgängen fest - und dies nicht selten auf eine verführerische Weise.

 

Bspl. 9: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 3´13 - 4´50] [1´37]

 

Es sind namentlich die späten Kompositionen Morton Feldmans, die beinahe rätselhaft hörbar machen, wie Neue Musik das Melos einlassen kann, ohne dem Affektsog des Me­lodischen zu erliegen. Das Spiegel-Ich scheint bei Feldman nur noch wie eine Fata Mor­gana am fernen Horizont auf. Zwar schickt auch Feldmans Musik Wellen der Irritation über das Gelände der wohltemperierten und normierten Gestimmtheiten, nur eben keine der Eruption, sondern unmerkliche, in ihrer Wirkung aber nicht weniger intensiv. Man könnte dabei an Brechts Laotse-Gedicht denken: „Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.” So wird Feldmans Pianissimo zum Einspruch gegen den Hörsturz einer akustisch überreizten Welt und ihren Sensationsamok. Mehr noch aber ist seine Musik eine der Verführung, sofern Zeit-Haben und Sich-Zeit-Lassen, sofern Geduld und Gelassenheit oder das Senken der Ich-Schranken ohne ständige Rückversicherung Eigenschaften des Eros sind. Mit ihrem subtilen, nicht mehr durchhörbaren Veränderungs- und Verwirrspiel von Mikrovarianten und Motivmodulationen, ihren Scheinwiederholungen und Unschärfen erzeugt Feldmans irisierende Musik eine Spur ins Offene, eine Spur, die die linear-kausale Ordnung und mit ihr die erkennungsdienstliche Ortung des Gedächtnisses zum Vibrieren bringt und zwi­schen Erwartung und Erinnerung in unablässiger Schwebe hält.

 

Bspl. 10: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 4´51 -7´08] [2´07]

 

Obwohl von einer geradezu mediterranen Leichtigkeit verweigern sich Feldmans späte Kompositionen dem Pathos so mancher Alibi-Moderne. Feldman entdramatisiert die melo­dische Überwältigung der Musik, indem sich der „große Maßstab“ seines zeitgedehnten Spätwerks vom Echoraum der Innerlichkeit distanziert. Wäre deshalb von einer Musik ohne menschliche Proportionen zu sprechen? Anstatt das Komponierte ständig auf das Einheitsverlangen des Bewusstseins hin zu hören, ja zu verhören, nähert Feldman die Wahrnehmung einem ungedeckten Geschehenlassen an. Mehr noch: Indem er das traditio­nell auf wenige Takte konzentrierte Gefühlssiegel der Melodie zu einer Art ziellosem Me­los weitet, mischt sich Feldman in das Selbstgespräch der Neuen Musik ein; in das Ge­spräch darüber, wie denn in Zeiten der Entsubjektivierung noch zu komponieren sei, ohne in den Ton der Ichlastigkeit mit einzustimmen und ohne sich zwischen der Zerstörung oder der Verklärung des Affektrepertoires dieser Ichlastigkeit entscheiden zu müssen.

Feldmans Spätwerk entgrenzt sich zu einer transsubjektiven Musik „between categories“, wie der Komponist selbst einmal einen seiner Essays betitelt hat: zu einer Musik zwischen den Kategorien. Weder unerbittlich noch anbiedernd, weder ich-denunzierend noch ich-hö­rig, weder gefühlsresistent noch gefühlsselig, weder katastrophisch noch nostalgisch, ist dieser Musik mit den Rastern der Zweiwertigkeit nicht mehr beizukommen. Auch nicht mit dem Raster von Zusammenhang und Nicht-Zusammenhang.

 

Bspl. 11: Morton Feldman, Triadic Memories [CD 1, Tr. 1, 11´44 - 14´25] [2´41]

 

Dass wir aus einer immer rastloseren Moderne mit ihren An- und Überforderungen nicht einfach aussteigen können, ist kein Argument gegen ästhetische Sensibilisierung. Das heißt gegen eine Sensibilisierung, die die Aufrüstung der Geschwindigkeit durch eine Entrüs­tung der Sinne entschleunigt; eine Sensibilisierung aber auch, die spürt, was die Bändi­gungsarmatur des subjektivierten Ich inzwischen an Zumutungen produziert. Das Herr-sei­ner-selbst-Sein und die Maximierung des Willens waren Schubkräfte der ökonomisch-technischen Expansion abendländischen Zuschnitts, bis sich das Projekt vom Subjekt in den von ihm in Gang gesetzten Prozessen aufzureiben begann. Nicht nur musikalisch wurde der heroische Charakter substanzlos, weil sein Entwurf und seine Praxis zu sehr be­lastet waren. Was musste die Herrschaft der Selbstbeherrschung in ihrem Namen nicht al­les ausschließen, sobald das Rationale und das Rationelle zum Wesen des Subjekts stili­siert worden waren und die künstlich abgespaltenen Gefühle dem Verinnerlichungsressort zumal der Kunst zufielen - oft genug mit den Zügen einer Ersatzreligion.

Als Arthur Rimbaud vor gut 130 Jahren vom Wagnis des Dichters sprach, „durch die Ent­regelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen“, band er dieses Wagnis an die Ent­zauberung vom Bann der Identität. „JE est un autre“ - „ICH ist ein Anderer“. Rimbaud wusste nur zu gut, dass erst mit der Abrüstung der egozentrischen Panzerung und ihrer af­fektiven Spiegelwände fühlbar wird, was anders wäre als das Kontrollsubjekt in der Uner­schütterlichkeit seiner Selbstbehauptung. Lassen sich aber von dieser Überschreitung her, an der die Neue Musik unbeirrbar festhält, nicht auch die Träume vom großen Passionato der Gefühle mit anderen Ohren wahrnehmen? Keineswegs weniger intensiv, aber bei wei­tem nicht so nostalgisch, so absolut? Und liegt nicht gerade in dieser milden Entzauberung durch die Geschichte eine neue Freiheit: die nämlich, feiner, offener, hellhöriger hören zu können?

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Bspl. 12: Morton Feldman, Flute and Orchestra [Tr. 1, 22´06 - 23´33] [1´27]

Bspl. 12 ab 23´30 Kreuzblende mit Bspl. 13!

Bspl. 13: Giacomo Puccini, Edgar, Preludio (Atto 3) [Tr. 6, 2´42 - 3´45] [1´03]

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Musikbeispiele

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Bspl.   1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra 2. Satz                                   [Tr. 2, 0´00 - 2´47]   [2´47]

Gidon Kremer, Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi

(Deutsche Grammophon 437 091-2)

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Bspl.   2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester                     [Tr. 1, 0´00 - 2´13]   [2´13]

Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini

(col legno 31862)

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Bspl.   3: Giacomo Puccini, Manon Lescaut, Intermezzo (Atto 3)                                 [Tr. 10, 0´00 - 5´20]   [5´20]

Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Riccardo Chailly

(DECCA 444 154-2)

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Bspl.   4: Liza Lim, The Heart's Ear                                                                            [Tr. 4, 5´35 - 7´51]   [2´16]

Ensemble für Neue Musik Zürich

(hat[now]ART 148)

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Bspl.   5: Liza Lim, The Heart's Ear                                                                          [Tr. 4, 8´51 - 10´57]   [2´06]

Ensemble für Neue Musik Zürich

(hat[now]ART 148)

​

Bspl.   6: Johannes Ockeghem, Requiem, Tractus                                                       [Tr. 4, 6´07 - 8´13]   [2´06]

The Hilliard Ensemble

(Veritas Edition 7243 5 61219 28)

 

Bspl.   7: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e)                                                          [Tr. 9, 2´57 - 4´26]   [1´29]

ensemble recherche

(RCA RED SEAL 74321 73595 2)

​

Bspl.   8: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e)                                                           [Tr. 9, 2´57 - 6´02]   [3´05]

ensemble recherche

(RCA RED SEAL 74321 73595 2)

 

Bspl.   9: Morton Feldman, String Quartet (II)                                                   [CD 1, Tr. 1, 3´13 - 4´50]   [1´37]

Ives Ensemble

(hat[now]ART 4-144)

 

Bspl. 10: Morton Feldman, String Quartet (II)                                                   [CD 1, Tr. 1, 4´51 - 7´08]   [2´07]

Ives Ensemble

(hat[now]ART 4-144)

 

Bspl. 11: Morton Feldman, Triadic Memories                                                 [CD 1, Tr. 1, 11´44 - 14´25]   [2´41]

Markus Hinterhäuser

(col legno WWE 31873)

 

Bspl. 12: Morton Feldman, Flute and Orchestra                                                       [Tr. 1, 22´06 - 23´33]   [1´27]

Roswitha Staege, Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken, Hans Zender

(cpo 999 483-2)

Bspl. 12 ab 23´30 Kreuzblende mit Bspl. 13!

Bspl. 13: Giacomo Puccini, Edgar, Preludio (Atto 3)                                                    [Tr. 6, 2´42 - 3´45]   [1´03]

Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Riccardo Chailly

(DECCA 444 154-2)

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