top of page

»...diese Verflechtung des streng-trockenen Technischen

  mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen«

Goethe und Beethoven

Wechselseitige Spiegelungen im Inkommensurablen

Südwestrundfunk 1999

​Beethoven, Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 1-73. (1'55'')

Der Anfang von Beethovens Neunter Symphonie macht bewusst, wie Musik ihre kompositorischen Mittel zu reflektieren beginnt. Die Exposition des Hauptthemas nimmt sich in einer Geste der Revision zurück, um in einem zweiten Versuch den kritischen Punkt des ersten Modells zu überwinden: durch den Einsatz eines he­belartig wiederholten Motivpartikels. Auch wenn der zweite Ansatz trotz des Ein­griffs erneut ins Leere läuft, bedeutet die Reformulierung eine Verwerfung des ersten Entwurfs und die Besinnung auf eine veränderte Strategie.

Beethoven, Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 1-73.  (1'55'')

 

Mit dieser Verwerfung erweckt Beethoven den Eindruck eines komponierten Irr­wegs. Was sonst dem Skizzenbuch anvertraut blieb, geht in die Gestalt des Werks selbst ein und zersetzt dessen Homogenität.

       Der Tribut, den Kunst der „Prosa der Welt“ zu entrichten hat, nähert Goethes und Beethovens Spätwerk einander an. Zurückgedrängt wird die ästheti­sche Stilisierung; die Macht der Formung, die dem Stoff gönnerhaft den Schein der Freiheit gewährt. Überdeutlich werden die Gesten des Eingriffs und die The­matisierung des Materials. Eine Facette dieser Thematisierung und der damit zusammenhängenden Selbstreflexion des Kunstwerks repräsentiert in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre zu Gunstenkung des im Hintergrund wirkenden allwissenden Autors zugunsten eines Redakteurs, der die Organisation der Stoffmassen aufdeckt. Das liest sich dann folgendermaßen:

Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil (...) wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten.(378)     

Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit ei­nigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt.(258)         

Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar von einigen Jahren anzukündigen, weshalb wir gern, wäre es mit der ty­pographischen Einrichtung zu verknüpfen gewesen, an dieser Stelle einen Band abgeschlossen hätten.(244)

Von solchen redaktionellen Eingriffen ist der Weg zur Schnitt- und Blendentech­nik in den Tempo- und Gestaltwechseln der späten Streichquartette Beethovens nicht weit. Auch hier entäußert sich der Eingriff des Autors zur Dehnung und Raffung von Kontinuität und Zeit.

Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130, 1. Satz, bis ca. T. 34 (2'10'').

 

Mozart hat jenes „überhand nehmende Maschinenwesen“ des beginnenden In­dustrialismus nicht mehr erlebt, auf dessen traditions- und bewusstseinsattackie­rende Wucht Goethes und Beethovens Spätwerk reagiert. Zumal durch den enzy­klopädischen Zug einer umfassenden Geschichtspräsenz. Bei Beethoven vom Tanz bis zur Fuge, von Rezitativ und Aria bis zur Sonate reichend; bei Goethe, allein im Rhythmischen, vom Altdeutschen bis zur Antike, vom romanischen Formenkreis bis zu aktuellen Neubildungen. Eine Materialfülle, die oft in ver­schwenderischer Lässlichkeit präsentiert wird. Oder mit einer großzügigen Flexi­bilität der Disposition. Der Austausch ganzer Sätze in Beethovens letzten Streich­quartetten erinnert an Goethes Verfahren, Spruchsammlungen als eine bewegliche Masse der Wanderjahre einzusetzen, um im wahrsten Sinn des Wortes Bände zu füllen.

       Dieses organisatorische Laisser-faire führt ins Innere der Werke. Sie lassen das Gebot strenger Durchorganisation hinter sich und werten im Abrücken von einer unabänderlichen Folgelogik die autonomen Teile gleichgewichtig auf. Dass die Wortsprache auf ein zeitliches Nacheinander angewiesen ist, das es ihr im Gegensatz zur Musik nicht erlaubt, unterschiedliche Motive und Themen simultan zu überlagern, kann Goethe deshalb in den Wanderjahren auf musiknahe Weise überschreiten. Indem der Roman die Folgelogik aufbricht, lockert er die Vermittlung des Einzelnen in der Zeit und lässt die Motivkreise in räumliche Gleichzeitigkeit zueinander treten. Schließlich greift ja die Musik selbst diese Konstellation auf: in Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli. Auch sie sind auf Verräumlichung hin angelegt: in Form eines Zirkels experimenteller Modellvarianten. Weit entfernt von den gesteigerten Variationen der Neunten Symphonie und mit einem Hang zur Typisierung wie er den Charakteren in Goethes Wanderjahren eignet. So versenkt sich die zwanzigste Variation in ein Themensubjekt am Rand seiner Identität: entindividualisiert und ins Abstrakte gewendet, vor seiner endgültigen Auflösung nur noch durch die Periodik des Ausgangsmodells bewahrt. Wie bei Goethe ist die Unverwechselbarkeit des Helden, die Einzigartigkeit des Subjekts nicht mehr von Belang. Faust wird in der ‘Tragödie zweitem Teil’ nur mehr als eine „Art von durchgehender Schnur“ benutzt, „um darauf die verschiedensten ‘Weltenkreise’ aneinander zu reihen“(Eckermann, 13. 2. 1831), während Wilhelm Meister in den Wanderjahren als Individualität im „funktionellen Figurenspiel der Erzählkreise“ (Borchmeyer, 304) verschwindet. Was könnte mehr vom übermächtigen Weltgetriebe zeugen als das Phänomen, dass sich die heldische Individualität ins Typische auflöst?

Beethoven, Diabelli-Variationen (Thema + Variation Nr. 20). (2'32'')

 

Fraglos auch die Gemeinsamkeiten in der Überlagerung von Sprache und Gegen­sprache. Dass die Cavatina aus Beethovens Streichquartett op. 130 über einem met­risch konstanten Puls rhythmisch freischwebende Melodiepartikel wie „be­klemmt“ stocken lässt, erinnert an das Unterlaufen syntaktischer Ordnungen bei Goethe. Etwa im Mittelteil der fünften Strophe der Marienbader Elegie, der etwas atemlos Abgerissenes annimmt. Wie in Beethovens Cavatina die periodische Re­gularität von irregulären Sequenzen mit prosaisch-realistischer Wirkung durchsetzt wird, so beginnt in Goethes Elegie die strenge Stanzenform, die die seelische Erschütterung auffangen soll, im zeitweisen Verlassen der wohlartikulierten Diktion zu beben: durch Überdehnung der grammatischen Bahn im Aufschub klarer Bezüge.

Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte        
Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden   
Mit jedem Stern des Himmels um die Wette       
An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden
;          
Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere        
Belastens nun in schwüler Atmosphäre.

Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130, Cavatina, T. 33 (3. Viertel) - T. 52 (1. Viertel) (1'52'').

Die Cavatina aus dem Streichquartett op. 130 von 1825: sie ist Beethovens große Ele­gie, vergleichbar der berühmten Marienbader Goethes von 1823. Beide Konfessio­nen thematisieren das Motiv des Herzens und seiner Qualen."Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide." Figuren der Enge, der Angst werden akut. „Beklemmt“ steht über dem von Ces-Dur nach as-Moll führenden Mittelteil von Beethovens Cavatina. Vom „wüsten Raum beklommner Herzensleere“ spricht Goethes Elegie. Und immer wieder die Hoffnungssehnsucht, kontrapunktiert der Erfahrung äußerster Einsamkeit. „Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen“. Wird bei Beethoven das rezitativische Stammeln des „Beklemmten“ von kantablen Teilen flankiert, die flüchtig auf Leonores Hoffnungsarie aus dem Fidelio anspielen, „dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle“ auch in Goethes Spätgedicht. Und sei es nur in der Erinnerung. Momente des Aufschwungs und des Sturzes in beiden Monologen.

 

Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130, Cavatina.(7'18'')

 

Entgegen der Überzeugung, dass alles gesagt werden kann, wissen der späte Goethe und der späte Beethoven von der Bedeutung des Ungesprochenen, Nichtkomponierten. Von dem, was sich aus der wechselseitigen Spiegelung der Teile ergibt, wie Goethe dies 1827 formuliert:

Da sich manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.(Goethe an K. J. L. Iken, 23. 9. 1827.)

Diese Rhetorik des Verschweigens und der Andeutung durch wechselseitige Er­hellung hat viel mit dem zu tun, was in der Ornamentik Negativform heißt. Da­mit, dass ein Muster, eine gewebte Textur, ein geschriebener Text das von ihnen Begrenzte und Ausgesparte zu einem zweiten Muster, einer zweiten Textur, einem zweiten Text ausformen. Als eine solche Negativform konturiert sich in den Spätwerken Goethes und Beethovens das Problem, wie denn nach dem Zerfall der Dreifaltigkeit von Gott, Wahrheit und Sprache noch zu schreiben, zu kompo­nieren sei, ohne in Unverbindlichkeit oder romantische Fluchttendenzen ab­zugleiten.

       Eine Möglichkeit liegt darin, die Sprache für die Härte der Realität und deren poetische Transfiguration geschmeidig zu halten. Es ist, als würde Goethes offene Form dem Roman der Wanderjahre Fenster öffnen, durch die die „Prosa der Welt“ eindringen kann, um das Werk nicht von innen her zu sprengen. Goethe selbst war es ja, der sich anlässlich der Wanderjahre über den Versuch mokiert hatte, „das Ganze systematisch konstruieren und analysieren zu wollen“. Gebe sich doch der Roman „nur für ein Aggregat“ aus, für einen „Verband der disparatesten Einzelheiten“.

           Dennoch: das Risiko, dem Goethe die Prosa der Wanderjahre im Pakt mit der „Prosa der Welt“ aussetzt, ist enorm. Bekannt sind die Stellen über das We­berhandwerk, die Goethe als ungefilterte Sachprosa in den Roman einlässt:

 

Rechtsgedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, linksgedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke, fleißige Spin­nerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5000 Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen.

 

Goethe bezeichnet solche Legierungen von Prosa und Poesie als eine „Verflech­tung des streng-trockenen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen“. Oder als den Versuch, „einen hinlänglich realen Zettel zu einem poetischen Ein­schlag vorzubereiten“. Ein Gleichnis aus dem Gebiet der Weberei, das für das lose und mit neuen Bindungstechniken arbeitende Alterswerk Goethes an Bedeutung gewinnt - und für dessen Kritiker.

       Das Ineinandergreifen von „Zettel“, also den längsverlaufenden Kettfäden des Webstuhls, und „Einschlag“, den vom Weberschiffchen quergezogenen Schussfäden, repräsentiert für den Dichter das lebendige Verwobensein von Natur und Geschichte, von Gesetz und Erscheinung, von Dauer und Wechsel. Großar­tig formuliert im Antepirrhema aus Gott und Welt:

 

So schauet mit bescheidnem Blick    
Der ewigen Weberin Meisterstück,   
Wie ein Tritt tausend Fäden regt,      
Die Schifflein hinüber herüber schießen,      
Die Fäden sich begegnend fließen,   
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt!   
Das hat sie nicht zusammengebettelt,          
Sie hats von Ewigkeit angezettelt;    
Damit der ewige Meistermann          
Getrost den Einschlag werfen kann.

Sicher hat die Zeile: „wie ein Tritt tausend Fäden regt“, den bereits von einem Punkt aus gesteuerten Webstuhl vor Augen. Einen Webstuhl, der seine Einzelme­chanismen sinnvoll kombiniert wie die 1805 von Jacquard konstruierte Webma­schine. Bei ihr dirigiert ein System von Lochkarten das Spiel der Schäftestellungen und das Ausheben der Kettfäden, mit dem Resultat einer äußersten Vielfalt und Feinheit an Mustern und Geweben.

           Natürlich ist die Analogie zwischen Text und Gewebe augenfällig. Sprache als Textur, als Text, als ein Netz, in dem sich die Erfahrung von Welt in mannig­faltigsten Mustern bricht. Dass sich im Gewirr der Worte der gedankliche Faden nicht verlieren darf; dass entsprechend der Verriegelung der Kett- und Schussfä­den die Bindungskräfte des Satzgefüges mobilisiert werden; dass die Sperrung oder die Freigabe der einzelnen Kettfäden das Abweben des Musters bedingt, während die Sprache durch Sperrung oder Freigabe einzelner grammatischer Bah­nen dem Muster von Sinn und Fabel zuarbeitet: die Vergleiche ließen sich beliebig fortsetzen.

           Brisant werden die Parallelen allerdings im Fall der Faust II-Parodie Fried­rich Theodor Vischers von 1862. Sie stößt sich am Mechanischen in Goethes später Sprache; an ihrer, wie Vischer argwöhnt, industriellen Reproduzierbarkeit. Ausgeworfen vom Selbstläufertum einer Wortmaschine, deren Getriebe es bloß­zulegen gilt. Steht also hinter den Sprachmustern des späten Faust-Dramas der Automatismus eines Kalküls? Ein Goethe'scher Sprachmotor, der eine Art fab­rikmäßiger Poesie-Ware ausstößt? Etwa so wie bei der geistvollen Jacquard-Ma­schine hinter dem Organismus der Gewebemuster der Mechanismus des Ge­stanzten steht? Vischer jedenfalls setzt seine Mechanismus-Schelte in eine virtuose Persiflage um. Er will die Technik, das Künstliche in Goethes Kunstsprache auf­decken, die Machbarkeit des Gemachten. So antworten Goethes ‘Chor der Rosen streuenden Engel’:

Rosen, ihr blendenden,
Balsam versendenden! 
Flatternde, schwebende,          
Heimlich belebende     
Zweigleinbeflügelte,    
Knospenentsiegelte,    
Eilet zu blühn! -

die „Geister“ von Vischers Drittem Faust mit dem Hohn maschineller Geläufigkeit und mit der perfekten Anverwandlung einer Sprachmanier des Goethe'schen Zweiten:

 

Selig derjenige, 
Der die Helenige,         
Mehr krinolinische       
Als heroinische,           
Nicht sehr natürliche,  
Wächsern figürliche,    
Klassisch beschwatzende,       
Mannsgeist befratzende,          
Dann die euphorische, 
Hüpfend emporische,  
Auf und ab purzliche,  
Springende, sturzliche, 
Naseweis knabische,    
Gummiarabische,         
Sturmdrangpoetische,  
Wilde, phrenetische,    
Lordische, britische,    
Launische, wittische,   
Zweifelzerbissene,       
Weltschmerzzerissene, 
Willen kastrierende,     
Dasein negierende,      
Prüfung bestanden!

Hat Goethe die selbstauferlegte Prüfung seines in Musik hinüberspielenden Sprachexperiments Faust II also doch nicht bestanden? Sicher hat Vischers geniale Parodie die Gefährdung einer Poesie aufgedeckt, die die prosaische Welt bis in die rapporthafte Schematik des Sprachgewebes einlässt. Aber er hat mit dem Risiko die Widerstandskraft dieser Sprache übersehen. Übersehen also, mit welchem Wagnis Goethes Faust II Extreme eingeht und durch deren Inkommensurabilität an Ausdruck gewinnt. Dass die poetische Sprache abstürzt, wenn sie sich von der „Prosa der Welt“ reinzuhalten sucht, ist das eine. Dass sie abstürzen kann, auch wenn sie sich dem Prosaischen stellt, im Sturz aber wieder in Poesie umzuschlagen vermag, das andere. Und noch etwas hat Vischer übersehen: dass das Einlassen mechanischer Momente zum Bewältigungskanon der Kunst um 1820 gehört.

       Vischer hätte also auch bei Beethoven fündig werden können. Etwa wenn im zweiten Satz der Neunten Symphonie der orgiastische Rhythmus zerfällt, abbricht und im Stillstand endet: ähnlich der Wirkung auslaufender, abbrechender und er­neut anhebender Rotationen. Mechanisierungen, die den Verlauf auf die Folie lee­rer Zeit hin durchschlagen. Eine Plötzlichkeitserfahrung der frühen Moderne und zugleich eine Entbürdung von formender Regie. Dass sich der Rang eines Komponisten danach bemisst, inwieweit er den tonsprachlichen Fundus von Stereotypie zu entbinden weiß, vergisst Beethoven im Umkreis dieser Abbrüche bewusst. Er inflationiert den Quintenzirkel mit Absicht. Unbekümmert um das Vermittlungssoll kompositorischer Logik nähert sich die Musik der Schablone an. Komponierte Zeit verrinnt in die empirisch leere.

Beethoven, Neunte Symphonie, 2. Satz, T. 9 (der Whlg. des ersten Scherzoteils) - T. 176 (1'32'').

Beethovens Erschütterung des Kontinuums antwortet auf die Krise der Tradition. Dass der gesellschaftliche Verlust von Tradition und Kontinuität nicht mehr guten Gewissens im Kunstwerk kaschiert werden kann, entmächtigt dessen Anspruch, Zeit ungebrochen zu organisieren. Störungen der Zeitordnung freilich bedeuten Irritation von Sinn. Eine Irritation allerdings, die neue, ungewohnte Assoziations­höfe öffnet.

       Goethes und Beethovens Spätwerk ordnet sich nicht mehr um ein benennbares, verbindliches Zentrum, das die erloschene göttliche Bindungskraft durch sinnhafte Weltmodelle beerbt. Innerhalb des ästhetischen Kosmos soll zwar alles gleich nah zum Mittelpunkt sein, der Mittelpunkt selbst jedoch entzieht sich ins Leere. Das Zentrum löst sich in die gleichgewichtigen Gravitationsschwer­punkte der Teile auf, die ihren Zusammenhang untergründig stiften. Bei Beetho­ven durch das Symbol eines Viertonmotivs, das die Klammer zumal der Streich­quartette opp. 130, 131 und 132 liefert. Bei Goethe durch das Leitmotiv der „Entsa­gung“ und das des „Kästchens“, das den Roman der Wanderjahre hochsymbolisch und real zugleich durchzieht, unerschlossen und geheimnisvoll wie eine black box, um modern zu sprechen. Auch in den späten Beethovenquartetten wird das ‘Knüpfen’ von „Assoziationen“, die „halblatent bleiben“, „wesentlicher als die manifeste motivische Arbeit“(Carl Dahlhaus). Entscheidend bleibt das Prinzip der Streuung in einer zur Offenheit tendierenden Form und die Anforderung an die Koordinationskraft der Leser und Hörer.

       Die offene Form weitet sich ins Unendliche, weil die Aufkündigung der Folgelogik die Teile unendlich mobil werden lässt. Wenn sich der Beginn von Beethovens Opus 130 keineswegs wie eine eindeutige Anfangsgeste anhört, son­dern nicht weniger wie die Fortspinnungssequenz innerhalb einer Komposition, oder wenn Goethes Wanderjahre mit einem „Ist fortzusetzen“ enden, dann sind dies frühe Beispiele für eine Destabilisierung des Beginnens und Schließens und damit für eine Entmächtigung der Form selbst, ihres Alphas und Omegas näm­lich.

Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130, 1. Satz, Beginn bis T. 4 (2. Viertel). (0'25'')

Ähnliches in der letzten der Bagatellen op. 126, deren sechs Anfangstakte zugleich wie entschiedene Schlusstakte wirken:

Beethoven, Bagatelle op.126, 6, Beginn bis ca. T. 12. (0'25'')

Anfangstakte, die das Stück dann tatsächlich unverändert als Schlusstakte einsetzt.

Beethoven, Bagatelle op.126, 6, T. 63 bis Ende.(0'25'')

Anfang und Ende sind verwechselbar, austauschbar: wohl eine der radikalsten Arten, Form als Entwicklung zu verabschieden. Wie sich indes mit der Relativie­rung von Anfang und Ende auch die Vermittlung im Innern der Werke lockert, zeigt Goethes und Beethovens Spätwerk durch die bewusst eingelassenen Ausspa­rungen. Durch die Leerstellen des Verschweigens in den Wanderjahren oder in Form der verweigerten Mitte in Beethovens Streichquartetten, etwa ihren zu har­ten Kontrasten gerafften Modulationswegen. Hinter all dem steht eine Idee des Poetischen, die Goethe 1827 so formuliert:

je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion desto besser.(RO86)

 

Dass diese Inkommensurabilität den Zufall begünstigt, liegt auf der Hand. In den Wanderjahren sieht Goethe etwas wie im „Leben selbst“ am Werk:

Notwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelungen, bald vereitelt, vereint,

 

wodurch das Buch

eine Art von Unendlichkeit erhält, die sich ins verständige und vernünf­tige Wort nicht durchaus fassen noch einschließen läßt.(an Johann Friedrich Rochlitz, 23. 11. 1829).

Ist es deshalb verwunderlich, wenn die Wanderjahre dem Autor des Tristram Shandy ein Denkmal setzen? Laurence Sterne also, der den Zufall als Produktivkraft der Abbrüche, der Um- und Abwege feiert, um zwischen dem Zerstückelten und Entlegensten Funken zu schlagen? Die Aphorismen, die Goethes Wanderjahre Sterne widmen, sind deshalb kommentierende Spiegelungen des eigenen Spät­werks.

Auch jetzt im Augenblick sollte jeder Gebildete Sternes Werke wieder zur Hand nehmen, damit auch das neunzehnte Jahrhundert erführe, was wir ihm schuldig sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden können.(482)

Aphoristische Verdichtungen formulieren auch Beethovens späte Bagatellen; wie die Spruchsammlungen in Goethes Wanderjahren entlastet von ausgreifender Ar­gumentations- und Durchführungsarbeit. Eine experimentelle Musik der raschen Anspielungen und Assoziationen und der Anforderung an eine Einbildungskraft, die der komponierten Diskontinuität unterschiedlichster Stimmungen und Gedan­ken gewachsen ist. Diesem, wie Goethe an Sterne rühmt,

schnellen Wechsel von Ernst und Scherz, von Anteil und Gleichgültig­keit, von Leid und Freude.(484)

 

Dieser

Unmöglichkeit, über einen ernsten Gegenstand zwei Minuten zu denken.(484)

Beethoven, Bagatellen op. 119, Nr. 6 und 7 (3'02'').

Goethes und Beethovens späte Werke haben es mit einer Realität zu tun, die nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution, nach dem Konkurs über­zeitlicher Ideale und inmitten der frühindustriellen „Unrast“ die künstlerische Produktion immer mehr zu einer der Verweigerung schärft: im Widerstand zur tödlichen Mitte der Konvention und gezeichnet vom Trauma der Welt. Von die­sem Trauma her erhellt Goethes und Beethovens enzyklopädischer Anspruch in all seinen Brüchen und Beschwörungen den Blick auf das metaphysisch entzau­berte Asyl der Moderne. Sich der „Prosa der Welt“ zu stellen, lautet das ebenso offene wie geheime Motto. In einer Verwebung mit dem Poetischen, die Unter­scheidungen nicht mehr zulässt, wie in Goethes Wolkengestalt nach Howard:

Vor Sonnenaufgang leichte Streifen an dem ganzen Horizont hin, die sich erhoben und verflockten, sobald sie hervortrat. Die Fahne, vollkommen in Nord, stand unbeweglich, mit wachsendem Tag häuften sich die Wol­ken. In Alexandersbad stand das Barometer 28 Zoll weniger anderthalb Linie, welches nach der Höhe des Orts schön Wetter andeutet.(...)
Das leichteste Gespinst der Besenstriche des Zirrus stand ruhig am obersten Himmel, ganze Reihen von Kumulus zogen, doppelt und drei­fach übereinander, parallel mit dem Horizonte dahin, einige drängten sich in ungeheure Körper zusammen (...).

 

Wo liegt hier die Grenze zwischen Poesie und Prosa? Zwischen lyrischer Em­phase und wissenschaftlicher Präzision? Zwischen bildhafter Imagination und be­grifflicher Exaktheit? Goethe selbst hat gehofft, dass beide sich „freundlich“, „auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten“. Eine Versöhnung im Unge­trennten, von Kunst und Leben auch, wie sie im fünften Satz von Beethovens Cis-Moll-Quartett Kontur annimmt. Einem Satz, dessen poetische-prosaische Legierung von Trieb und Getriebe auf flüchtige Oasen des „piacevole“ hin durchlässig wird, des „Freundlichen“, um nochmals Goethes Wort aufzugreifen, - und auf Kinder­liedhaftes, befreit von Ernst und Askese.

Beethoven, Streichquartett cis-Moll op. 131, 5. Satz (ca. ab T. 278). (2'30'')

bottom of page