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Stockhausen-Klavierstück-XI

Zeitstruktur und Zeiterfahrung in der Neuen Musik

Ständig gleich gegenwärtig

​Paris 1913: Uraufführung von Debussys Jeux; Erstauflage von Prousts Du côté de chez Swann. Neue Zeit- und Wahrnehmungsmodelle in beiden Werken. Prousts poetische ›Deformation der Zeit‹, vom Autor der Recherche selbst einmal mit Einsteins Relativitätstheorie verglichen(1), verlangt zum Erfassen der ›Fiktionalität seelischer Ganzheit‹ in den »états successifs« und »moi successifs« etwas anderes als eine ichkonstante Bespiegelungslektüre. Debussys diskretes Kontinuum der Schnittwechsel und perspektivischen Brechung ständig sich ändernder Gestaltvarianten etwas anderes als das de- und rezentrierende Umkreisen des Subjektpols. Gefordert ist die Fähigkeit strukturellen, transsubjektiven Lesens und Hörens. Und wenn thematisches Komponieren auf der linearen Dramaturgie physiognomisch konturierter Motiv-Charaktere basiert, dann zeigt Debussys athematische Konzeption, was für die Zeitstruktur der Neuen Musik entscheidend wird: transversale Bezüge aus verschiedenen, gleichwertigen Zeitlinien, asymptotisch, nicht teleologisch angelegt, orientiert mehr an Symmetriebrechungen als an zielfixierten Verlaufsformen.

     Der Gedanke von der Musik als einer Zeitkunst ist weit weniger interessant als die Überlegung, was denn aus der Zeit selbst und ihrer Erfahrung geworden sei. Noch bis zu Schönbergs Erwartung war Musik abbildhaft durch die Artikulation einer psychologischen Zeit, die über alle Sprünge und Risse hinweg mit dem Ich-Bewusstsein und seiner Affektbühne kommunizierte. Reguliert von der Mensur des Takts war der Sprachcharakter der Musik die Sonde, um Zeit im Strom der Affekte zu orten; der Pakt zwischen Zeit und Sprache der Garant, der im Wechsel der Affekte Maß hielt. Mag zum vielberedeten Abstraktwerden der musikalischen Zeit, zum Abrücken der Musik vom Abbildprinzip ähnlich den bildenden Künsten auch beitragen, dass Neuer Musik das gleichnishafte Sprechen über die Zeit und deren Fließen kaum noch gerecht wird: Ebenso entscheidend dürfte sein, dass die Abkehr vom Maß affektiver Erlebniszeit die musikalische Zeit in einen Zustand des Maßlosen versetzt. Der Augenblick als Intervall verschwindet in einer entgrenzten Simultanität, die die Einbildungskraft wie in Kants Erhabenem über die Grenzen des mentalen Bindungsvermögens hinausführt.

     Meint die Rede vom Abstraktwerden der Zeit in der Neuen Musik also womöglich auch, dass die Abkehr vom Tableau der Affekte ein gleich bleibendes Höchstmaß an Intensität in allen Momenten erzeugt? Eine Intensität, deren scheinbare Kontrastlosigkeit mitunter wie zeitleer wirkt? Strukturen, die wie in Stockhausens Momentform »sofort intensiv sind und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetzter ›Hauptsachen‹ bis zum Schluss durchzuhalten suchen«? Strukturen, in denen »ein jedes Jetzt (...) für sich bestehen kann«?(2) Erfolgt der Gang der Musik ins Innere der Zeit also um den Preis, dass die Kompositionen zeitlos werden, weil sie sich der Dramaturgie von Erwartung und Erinnerung verweigern?

     Nun ist Zeitleere im Gegensatz zur Zeitfülle zunächst eine Empfindung des Hörbewusstseins. Auch wenn es absurd wäre, Zeit gegen die Objektivität komponierter Zeitstrukturen auf ein rein subjektives Phänomen zu reduzieren: Dass die rezeptive Einigungskraft bei zeitgenössischen Kompositionen so oft ins Leere läuft, hängt mit der abendländischen Abwertung des passiven, unwillkürlichen Gedächtnisses zum identitätsgefährdenden Kontrollverlust zusammen. Einer Abwertung von der Subjektnorm der aktiven Synthesis her. Ihre Präferenz ist es auch, die an Cages entstrukturierten Strukturen den Verlust eines jeglichen Vorher und Nachher kritisiert. Cages Musik, die die Verwechslung von Zeit und Ökonomie aufheben will, wird zum blinden Spiegel eines Bewusstsein, das den Augenblick nur als die privilegierte Ekstase einer Zeit des Aufschubs denken kann. Was mit dem Ende der teleologischen, theologisch verschatteten Zeit alles an Möglichkeit und Freiheit real wird, wird überhört. Mag Neue Musik gegen die Waage der Syntax auch das Unwägbare der Struktur setzen: Sie ist kein Niemandsland der Zeit. Dazu wird sie erst unter dem Dogma einer subjektzentrierten Ästhetik. Die Sucht jedenfalls, beim Hören von Musik ständig sich selbst zu bespiegeln, wird von zeitgenössischen Kompositionen kaum noch gestillt. Stattdessen geht es um die Verflüssigung eingefahrener Gedächtnismuster und um das Aussetzen eines akkumulativen Zeitbewusstseins, das eng mit dem Eigentumsprinzip verschwistert ist: mit dem Verbuchen von Identität als der Sinnrendite des Sichwiederfindens und der Selbstbestätigung im Bekannten.

     Das klassische Zeitmodell der tonalen, sprachgestisch fundierten Musik regelt vor allem eines: dass zu jedem Zeitpunkt nicht jede Kombination zwischen Struktur und Zeichen, zwischen dem Gesamtorganismus und den Einzelmomenten möglich ist. Etwa was die harmonische Grammatik anbelangt. Es handelt sich bei dieser Axiomatik um eine Erzeugung von Sinn durch ständige syntaktische Wertungen und um eine Axiomatik, die das Ökonomieprinzip Zeit mit rudimentären logischen Mustern verschränkt. Solche Regelsymmetrien zwischen komponierendem Ich und kompositorischer Substanz lösen sich in der Neuen Musik auf. Zeit spielt in ihr nicht mehr die Rolle einer morphologischen Hebamme, die wie im motivisch-thematischen Diskurs die Einzelmomente effizient ins Licht des Satzorganismus zu ziehen hat.

     Mit der Neuen Naturwissenschaft teilt Neue Musik den Abschied von intuitiven Zeitvorstellungen wie jener vom augenblickssummierenden, linearen Kontinuum. Relevant wird dagegen die Idee einer nach den Kriterien von Wahrscheinlichkeit und Emergenz ausgefalteten Zeit. Mit unendlichen Zwischenwerten und der Kraft von Randbedingungen, die sich nicht sofort auf Null hin einebnen lassen. Das zeigt sich auch daran, dass avancierte Kompositionen ihrem Zeitverlauf nach nicht mehr formalisierbar sind. Während die dur-moll-tonale Grammatik in einer kompositionstechnischen Metasprache skizziert werden konnte – einer Art algorithmischer Komprimierbarkeit in der Tradition generalbassmäßiger Bezifferung –, sind solche Analyse-Codes bei zeitgenössischen Werken unmöglich geworden. Sie können nicht in einer formelhaften Nomenklatur stenographiert werden. Die Beschreibung des Systems ist das System selbst. Dieses Irreduzible, Nichtberechenbare verweist dem Zeitaspekt nach auf eine Komplexität, die ins Zufällige hinüberspielt. Komplexes wie Zufälliges vom Bewusstsein her verstanden als Zustände der Überdeterminierung: Gemäß jenen Unberechenheitsgraden des Unvorhersehbaren, Nichtvoraushörbaren, bei denen das am sprachgestischen Werk geschulte Gedächtnis aufläuft. Voraushörbarkeit wird zur Wiederholung des Komponierten, ähnlich wie Vorhersagbarkeit bei Phänomenen des deterministischen Chaos zur Wiederholung des Systems.

     Riskiert man für die Zeitmodelle der Neuen Musik ein gemeinsames Charakteristikum, dann liegt es im Eindringen in zeitliche Mikrostrukturen. So wie die Quantenmechanik die Makro-Ebene der klassischen Physik verließ; so wie in der Kernphysik die einheitsstiftende Wirkung der Schwerkraft ihre Absolutheit eingebüßt hat, so hat sich auch in der Musik des 20. Jahrhunderts jene Universalkonstante relativiert und verfeinert, die die Größen der musikalischen Grammatik auf das Gravitationsgesetz einer einheitlichen Zeit hin ausgerichtet hatte. Newtons »absolute, wahre und mathematische Zeit«, die »gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand« dahinfließt und allen Ereignissen das Maß der Gleichzeitigkeit vorgibt(3), ist ihrem Totalitätsanspruch nach auch ästhetisch längst passee. Deshalb konnte Stockhausen in der Sprache der neuen Physik schließlich von »Mikro- und Makrozeit«, von »Feld« und »Quantelung« sprechen. Und wie die Quantenmechanik den Determinismus zu Gunsten statistischer Modelle aufgab, so orientierte sich auch das Komponieren an »statistischer Formvorstellung«, an den »Graden der Dichte von Tongruppen« etwa.(4) Eine Formvorstellung mit eminenten Auswirkungen auf das Verhältnis von »Struktur und Erlebniszeit«: Wird mit dem Zerfall der Einheitszeit die Struktur variabel und mit der variablen Struktur der Zeitverlauf, verschieben sich die Lesarten der Zeit in Richtung eines Ensembles von Intensitäten, die weniger subjektgesteuert als systemgebunden sind.

     Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit zu Gunsten verschiedener »Eigenzeiten« außer Kraft setzt; dass die Quantenmechanik mit Wahrscheinlichkeitswerten arbeitet, die strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Umdenken von Phänomenen verlangt, die vormals umstandslos dem durch und durch regellosen Zufall zugeschlagen wurden: All diese Positionen finden ihre ästhetischen Parallelen. Zumal bei Cage. Auch bei ihm bedeutet Gleichzeitigkeit die Zeitgleichheit unterschiedlicher Eigenzeiten: die der jeweiligen Interpreten und Klänge nämlich. Auch in seiner Musik unterbindet die Nichtvoraussagbarkeit jegliches prophetische Hören. Allein schon weil keine Aufführung der anderen gleicht. Und was den Zufall anbelangt: er ist in der Auseinandersetzung mit Cage das Reizthema schlechthin.

     Generell hält Neue Musik Distanz zu zielgerichteten Formationen, die die Einzelmomente in Funktionsträger einer Idee verwandeln. In ihr spielen Zeitlabyrinthe, Zeitgitter eine Rolle, an denen das hypotaktisch trainierte Hören immer wieder abprallt. Und wie sehr hypotaktische Verfahren mit dem logischen wie ästhetischen Denken abendländischer Vernunft identisch waren, lässt sich am Katalog des »pará« als Differenz zum Hauptstrom der Tradition ablesen. Ob die Rede vom Paradoxen, vom Paralogismus, von der Paranoia oder von der Paralyse ist: Verzeichnet werden Abweichungen, Auflösungen, Vernunftwidrigkeiten. Erst die Moderne kann die psychiatrisierten Para-Aspekte zu tragenden Ausdrucksmitteln emanzipieren: Sei es dass die Parrhesie zu einer Sprache jenseits der Syntax durchbricht, sei es dass die Parataxe Strukturen enthierarchisiert oder Neue Musik, indem sie immer wieder die Allianz zwischen Gedächtnis und Identität aufbricht, Zeit zur Para-Zeit entbindet.

     Als mit der Entmächtigung der Subjektpotenz die Vorstellung von der absoluten Einheitszeit brüchig wurde, begann sich allmählich auch die Idee von der Schicksalsmacht Zeit zu entzaubern. Gegen deren Formdogmatik setzen die variablen Formen der Neuen Musik die Praxis von »Verantwortung und Freiheit«. Wenn in Mathias Spahlingers 128 erfüllte augenblicke Auswahl und Wiederholung einzelner Momente aus dem Repertoire der 128 losen Partiturblätter den Ausführenden überlassen bleiben, wirkt sich die Entscheidung der Interpreten nicht nur auf den Formverlauf aus: sie wird zum Bestandteil des Werks. Mit dem Resultat je individueller Fassungen, die den Zwang der Zeit und des geschlossenen Werks und damit den einer Kontinuität brechen, die jede andere ausschließt. Die Zeit variabler Formen verhandelt das Verhältnis von Freiheit und Struktur, das Standhalten von Momenten in einer Struktur. Abgesehen davon, dass die Wandelbarkeit variabler Formen zur Anspielung auf die Veränderbarkeit von Ordnungen und Systemen wird, hat diese proteische Vielfalt nichts mehr mit jenem Organismus-Ideal zu tun, in dem jedes Einzelne »seiner Stelle und seiner Funktion nach« unverrückbar durch die »Idee des Ganzen« bestimmt sein soll.(5) Deshalb entgeht dem Vorwurf, die verschieden vielen, gleich gültigen Realisationen variabler Formen wären gleichgültig im Sinn des Beliebigen und Formlosen, dass gerade variable Strukturen es ermöglichen, Zeit gegen die Macht ihrer Umklammerung von außen her zu begreifen.

     In ihrer Reflexion der Zeit hat Neue Musik Ähnlichkeit mit dem, was die neuere Philosophie als ein Denken nicht nur der Differenz, sondern aus der Differenz bestimmt. Im Bewusstsein dafür, dass sich Töne und Klänge nur durch die Trennung und Unterschiedenheit von allen anderen Tönen und Klängen realisieren können. Durch eine Differenz also, die der Struktur immer schon vorausliegt, ja erst vom Spiel der Differenz in der Struktur erzeugt wird. Niemals direkt greifbar, eher von der Qualität eines mobilen Nullpunkts, dem Nullphonem Jakobsons ähnlich. Dass dieser Abschied vom tragenden Grund eines Wesensprinzips zahlreiche Umwertungen zur Folge hat, liegt auf der Hand.

     Lange galt Musik als eine hohe Schule der Gedächtniskunst. Mit dem Medium Zeit war ihr das Wechselspiel von Augenblick, Erinnerung, Vergessen und Wiederholung eingeboren. Dass musikalische Zeit dabei um der ästhetischen Stimmigkeit willen auf die empirische Zeit mit Resonanzen und Reflexionen zu antworten hat, heißt für die Neue Musik, sich mit der polyspektralen Wahrnehmung des Ichs und seinen mnemonischen Erosionen auseinander zu setzen. Aber auch mit den daraus resultierenden Entgrenzungen des Bewusstseins. Wenn Tristan Murails Mémoire/Erosion nach wechselseitig sich auslöschenden Rückkopplungen in Verzerrung und Rauschen endet, weitet sich der Aspekt der Störung zugleich auf eine neue Wahrnehmung hin: auf die der Gleichrangigkeit von Rauschen und Signal. Ähnlich der Qualität des »Weißen« bei Mallarmé oder der Stille bei Cage. Von hier aus werden nicht nur Frakturen und Sprünge anders gewertet. Mit dem Rang des Leeren und des Vergessens ändert sich auch der des Bewusstseins. Vergessen gilt nicht mehr als eine kognitive Blindstelle, sondern – wie schon bei Proust – als ein Moment der Regeneration. Galten dem klassischen Zeitmodell Stille und Rauschen als leer und unrein und damit als eine Art Parasitentum am Organismus der Konstruktion, werden in der Neuen Musik oft genug die »blancs« zum Ereignis – gegen das Schwarze von Text und Notation. »Blanc« verstanden als das Weiße, Unbeschriebene, Blanke; als Rauschen, Ausfall und Zero; mit dem verwandten Formenkreis von Schnee und Staub, der in der Neuen Musik so überaus markante Spuren hinterlässt.

     Eine andere Umwertung betrifft das Phänomen der Komplexität, die nicht mehr ausschließlich als Abbild einer komplexen Welt mit einer hochgerüsteten Faktur der Werke zu verwechseln ist. Die Höherwertung einer an logischer Vielschichtigkeit orientierten musikalischen Zeit- und Ereignisdichte gegenüber einer als Ereignisleere missverstandenen anderen, zweiten Komplexität greift nur noch bedingt. Dass im Vergleich mit Feldman dissonant zerklüftete Bekenntnismusiken wie Selbstläufer einer leeren Subjektdramaturgie wirken, ist eine Konsequenz davon. Überdies sind gerade Feldmans Kompositionen wichtig für eine Karte der Zeitstrukturen Neuer Musik, weil sie mit der Ästhetik der Repräsentation brechen. Sie repräsentieren nichts Vor- oder Nachgeordnetes mehr: weder hierarchische Gefälle wie die von Wesen und Erscheinung noch eine ablösbare Semantik des Sinns. Das Zeitspiel der Wiederholung und der Differenz von Mikrovarianten, die Überlistung des Gedächtnisses gegen seine erkennungsdienstlichen Hörgewohnheiten charakterisiert eine Musik, die komplex ist, eben weil sie die ichgesteuerte Spaltung von Kohärenz und Inkohärenz hinter sich lässt. Gerade das Abrücken von einer Ereignisdichte erster Ordnung kann das Bewusstsein über die Gedächtnisspuren des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns zur Aufmerksamkeit eines mikroakustischen Zeitsensoriums bringen. So in Sven Åke Johanssons Komposition Vom Gleichwertigen und Ungleichwertigem, deren tastend nomadisierender Verlauf um minimale Abweichungen in der Zeit kreist: um das Changieren des vorgeblich Gleichen und damit um die Koordinaten von Bestimmtheit und Unbestimmtheit im Einzugsbereich von Erwartungshorizonten.

     Sind nach Kant Zeit und Bewusstsein nicht zu trennen: ihre Fusion differenziert sich gleichwohl historisch aus. Wenn in der Neuen Musik die Filter der Subjektzeit demontiert werden, trifft Musik zwar immer noch auf ein Ich-Bewusstsein, nun allerdings auf eines, das sich weder auf einen wahren Subjekt-Kern noch auf eine vom Wechsel seiner Gedanken und Empfindungen unabhängige Wesenhaftigkeit des Ich berufen kann. Dass sich die Metapher vom Gewebe als eine der häufigsten im Beschreibungsrepertoire der Neuen Musik findet, registriert genau diese Auflösung. Keine Substanz mehr, taucht das Ich effektgleich aus einem sich unentwegt strukturierenden und entstrukturierenden Geflecht von Gedanken und Affekten auf, eine semantische Fraktur im Gefüge von Welt und Sprache.

     Gegen das Vorurteil, das Fiktionale am Subjekt ernst zu nehmen bedeute einen Verrat am Menschen, und gegen das Vorurteil, Ästhetik wäre umstandslos in Ethik aufzulösen, dürfte heute eine Musik am Puls der Zeit sein, die von Systemzusammenhängen ausgeht. Eine Musik mit Zeitstrukturen, die das Ich als einen Knoten in der Textur des Systems begreifen. Zeitmodelle der Neuen Musik werden demnach zum Prüfstein, bis zu welchen Schichten eine Komposition vordringt. Bleibt sie auf der Ebene der Subjektrhetorik stehen oder legt sie deren Sprachgrund frei. In einer Auseinandersetzung mit der Gattung des Solokonzerts ermöglicht beispielsweise Lachenmanns Ausklang erst auf Grund des Aussetzens der subjektdramatischen Zeit und der affektiven Subjekt-Klischees jene Präsenz der Klänge, die ihre geschichtliche Ladung ernst nimmt. Erst indem die musikalische Zeit nicht zum Generator einer Sinnspur des kompositorischen oder solistischen Subjekts wird, können sich die Mittel differenzieren und das Hörbewusstsein emanzipieren. Anders Rihms Musik für Violine und Orchester, »Gesungene Zeit«. Sie setzt die musikalische Sprache als gegeben voraus. Ihre Rhetorik amalgamiert sich mit einem Zeitverlauf, der die Idee des substanziellen Subjekts nicht aufbricht, sondern über einen Fundus an expressiven Masken lediglich variiert. Organisiert in Lachenmanns Ausklang die Zeit mit einem Abstieg zum Sprachgrund der Musik einen Abstieg zum Artikulationsgrund von Sinn und Subjekt, geht Rihms Zeitentwurf immer schon vom subjektverbürgten Sinn des Ausdrucks aus. In der Gesungenen Zeit getragen vom Melos als der stabilsten Brücke ins Refugium der Innerlichkeit. Dass freilich die Zeitorganisation systemreflexiver Kompositionen den subjektexpressiven Gestus keineswegs eliminieren muss, zeigt Gerald Eckerts Nachtschwebe. Ihre Formulierung fragiler Gleichgewichtszustände lässt die Subjektspur ein, indem sie sie unentwegt ins Schemenhafte verwischt und dekonturiert. Und erst indem die Komposition die Auflösung der einstigen Dreieinigkeit von Subjektspur, Sprachcharakter und Ausdrucksgestus reflektiert, ohne sie subjektnostalgisch auszukosten, gewinnt sie jene diagnostische Schärfe, die den Schatten des Subjekts einer unberechenbaren Systemdynamik aussetzt, ohne ihn endgültig auszulöschen. Zeit bedeutet hier die Zeit offener Systeme.

     Um offene Systeme, in denen der Mittelpunkt überall und nirgends liegt und in denen Zeit zu einer alles durchdringenden Variablen wird, geht es auch in Stockhausens Komposition Punkte für Orchester von 1952. Einer Urszene der Neuen Musik. »Alles wird Hauptsache, kein Formglied soll über das andere herrschen«. Den Einwand, Strukturen, in denen »alles Hauptsache wird«, würden einem Zustand permanenter Nebensächlichkeit und einer Zeit des Unterschiedslosen verfallen, widerlegt das Werk als formallogische Sprachfalle. Natürlich steuert die Zeitorganisation der Punkte keine automatenhaft unveränderte Dichte, sondern Mikroprozesse der Intensität: die allerdings müssen erst auf ein entsprechend fein geeichtes Sensorium treffen. Für Stockhausen jedenfalls organisiert punktuelle Musik »keine Wiederholung, keine Variation, keine Durchführung, keinen Kontrast. (...) All das ist (...) aufgegeben worden. Unsere Welt – unsere Sprache – unsere Grammatik«.(6) Die Konsequenz dieses Gedankens wird klar, liest man ihn von Nietzsche her: »Ich glaube, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.«(7) Der Abschied vom Prinzipiellen: auch für die Neue Musik ratifiziert er mit der Aufhebung der tonsprachlichen Grammatik die endgültige Säkularisierung, zumal die ihrer letzten heilsgeschichtlich inspirierten finalen Zeitmomente.

     War der Entwurf von Zeit und Zeiterfahrung seit Descartes an den vom Subjekt gebunden, stellt sich angesichts der Debatten zur Massengesellschaft die Frage, ob sich die Rede von Einzigartigkeit und Autonomie nicht schon von selbst verböte. Auch wenn es absurd wäre, die marionettenhafte Entmündigung des Individuums zu behaupten – Nietzsche sprach bereits vom »Dividuum«: Seine Zersplitterung in einer Welt des Funktionalismus ist unübersehbar. Wer heute das Wort Subjekt oder, eine Etage tiefer, das vom Individuum in den Mund nimmt, muss der Verspannung dieses Subjekts in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechnung tragen, die einander nicht nur durchdringen, sondern ihrer Widersprüchlichkeit wegen schizophrene Bewältigungs- und Entlastungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Ebenso wenig kann musikalische Zeit in einer Welt der Informations- und Kommunikationsnetze jenes zeugenschaftsresistente Kurzzeitgedächtnis ignorieren, in dem Dinge und Zeichen warenästhetisch freigesetzt flottieren. In Gang gehalten von einer elektronischen Simulationsindustrie, die als eine gigantische Maschine der Zeitüberlistung die Rede von Realität und Original fragwürdig werden lässt.

     Mit dieser Welt der Simulationen und Doubles und ihren Zeitstrukturen setzt sich Nicolaus A. Hubers Orchesterstück To »Marilyn Six Pack« von 1996 auseinander, im Rekurs auf Warhols Siebdruckserie The Six Marilyns. Huber interessiert an Warhol »die multifokale Bildkomposition«. Und ihn interessieren die »Möglichkeiten struktureller Wiederholung, bei der, im Sinne dezentralen Komponierens, die Kategorien Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden«.(8) Die multimedialen Aufführungsmöglichkeiten der Live-, Filter- und Schleifenversion dieses Klangkosmos ohne Zentrum machen Hubers To »Marilyn Six Pack« zu einem Werk der Poly-Akustik. In ihm sprengen die Serien der Loops, Spiegelungen und Doubles die Ich-Bastion des Hörens, indem sie sich zu einer plissierten Zeit verdichten, die ein tiefengestaffeltes und mehrdimensionales Hören verlangt. Was ist in der Verschränkung von Live-Aufführung und medialer Wiedergabe Original, was Reproduktion? Was in der Vernetzung simultan geschichteter Loops Gegenwart? Nimmt die Wiederholung der Wiederholung so wie in Warhols Serien die Abbilder der Abbilder nicht etwas Trugbildhaftes an, ohne im Trugbildhaften aufzugehen? Allein schon weil Hubers multifokale Musik stets auf das körperpräsente Bewusstsein der Hörer bezogen bleibt? Und weil es ihm auf neue Wahrnehmungsweisen in Analogie und im Widerstand zu den technizistisch normierten einer alltäglichen Lebenspraxis ankommt?

     Neue Wahrnehmungsweisen, neue Strategien und Listen im Entwerfen von Zeit: das ist es, was Neue Musik, verpflichtet der Philosophie des Odysseus, im Ausharren gegen den gesellschaftlichen Mainstream des Funktionalen und der Verwertbarkeit erreichen und finden will. Und wenn die elliptische Fasson vieler ihrer Zeitmodelle zum Unabschließbaren tendiert, einem Unabschließbaren, das sich in Feldmans Palais de Mari fast metaphysisch zu einer Musik ohne Passepartout auflädt, dann befreit solche Offenheit zuallererst vom Zwang des Absoluten und von der Gewalt der Totale: Im Wissen, dass Mallarmés universaler Würfelwurf nicht einzulösen und die Realisation aller Kombinationen unerreichbar ist.

Anmerkungen

 

1 Marcel Proust, Briefe zum Leben, Frankfurt a. M. 1983, S. 653f.

2  Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Köln 1963, S. 199.

3  Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, übers. v. J. Wolfers, Berlin 1872, S. 25.

4  Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, S. 77.

5  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65.

6  Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, S. 37.

7  Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA VI, S. 78.

8  Nicolaus A. Huber, Durchleuchtungen. Texte zur Musik, Wiesbaden 2000, S. 379.

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