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  Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik

 

 

 

 

Helmut Lachenmann: temA für Flöte, Stimme und Violoncello. Eine Musik aus dem Jahr 1968, komponiert am »Leitfaden des Leibes«(1), am Formenkreis des Atems, auf den bereits der anagrammatische Titel des Stücks anspielt. Von ruhiger Atmung über geflüsterte Dialoge bis hin zum ›schreienden Einatmen‹ soll die Sängerin über ein Repertoire ebenso vertrauter wie ausgefallener Vokaltechniken verfügen, einschließlich der Tremolo-Arten Schnarchen und Knattern: Eine Artikulation unablässig komponierter Plötzlichkeiten, die den Seelenton der Stimme auf den Körper hin erden. Gegen die Kontroll- und Purifizierungsmacht des Zivilisationsprozesses und gegen die Normen ästhetischer Sublimierung entdeckt Lachenmann im physischen Material von Stimme und Sprache eine Sprache innerhalb der Sprache. Dem Kruden, Geräuschhaften über eine Anverwandlung der »mechanisch-physikalischen Bedingungen«(2) der Klangerzeugung Gehör zu geben, darauf kommt es an, und damit auf die Befreiung der stimmlichen Partialtriebe. Atmen, röcheln, stöhnen, schreien – nichts wird tabuisiert. Alle expressiven Qualitäten, die bislang gegen den guten Ton der etablierten Musiksphäre verstießen, werden rehabilitiert. Gegenstandslos wird die Unterscheidung zwischen Rohem und Gekochtem, deren kulturgeschichtlicher Wertung zufolge Schnarchgeräusche als animalisch gelten, ruhiges Atmen dagegen als menschlich sublimiert. Lachenmanns musikalische Archäologie des Verfemten nimmt das bislang Knechtische der unteren Produktionssphäre ernst, die der Organe, um den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs zu enttarnen. Erfahrbar wird der Zusammenhang zwischen der Physis des Klangs und dem musikalischen Diskurs. Darin zugleich ein Stück ästhetischer Metaphysikkritik: Sinn ist von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu trennen wie die Botschaft von ihrem Medium. Verabschiedet wird ein Ideal der Läuterung, das sich lange genug hinter austarierten Ordnungen und sauberen Töne verschanzt hatte. Klang verstanden als »Nachricht seiner Hervorbringung«(3) hebt die Hierarchie zwischen Geist und Materie auf und mit ihr das Gefälle zwischen der Idee und dem Botenstoff des Sinnlichen. – Was aber hat Lachenmanns Musik mit Schönheit, mit Wahrheit zu tun?

     »Der Ruf nach Schönheit heute [...] verdient mehr denn je unser Mißtrauen. Er verrät sich an seinem Geschrei nach ›Natur‹, nach Tonalität, nach dem Positiven, dem ›Konstruktiven‹, nach ›endlich wieder Verständlichkeit‹, er verrät sich an seinen treuherzigen Bruckner, Mahler- und Ravel-Zitaten. Es wird höchste Zeit, daß der Schönheitsbegriff den Spekulationen korrupter Geister entzogen und dafür in eine umfassende Theorie des ästhetischen Denkens und des Komponierens [...] einbezogen wird«. »Er muß vielmehr zum reflektierten Anspruch und zum stets an der Wirklichkeit von neuem geläuterten Leitbild der Komponisten werden, die [...] den Auftrag der Kunst weder in der Flucht vor noch im Kokettieren mit den Widersprüchen sehen, welche doch das Bewußtsein unserer Gesellschaft prägen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihnen und in ihrer dialektischen Bewältigung.«(4) Als Lachenmann 1976 das »Problem des musikalisch Schönen heute« thematisierte, war die Richtung klar. Basiert die Tradition des Schönen zunehmend auf einem Katalog an Verschleierungen, Verboten und Vermeidungen, gewinnt zeitgenössisches Komponieren seine Wahrheit dadurch, daß es Musik gegen die Ausgrenzungsgeschichte und gegen die Verkrustungen des »ästhetischen Apparats«(5) zum sinnlichen, gesellschaftskritisch geschulten Erkenntnismedium befreit. Dabei insistiert Lachenmanns Begriff des »reflektierten Anspruchs« auf dem Aufklärungsprozeß der Musik, auf ihrer Emanzipation von kultischen, religiösen und feudal-repräsentativen Belangen. Daß sich im Zug dieser Autonomisierung das Erkenntnispotential der Musik immer weniger mit einer kontemplativ verfaßten Schönheit verträgt, läßt vor allem das Werkmodell des Organismus als Leitbild des Schönen brüchig werden: die Reflexion gesellschaftlicher Widersprüche zersetzt den Schein des Runden und Ganzen im Namen des Wahrheitsgehalts »zerrütteter« Werke, die als »Gegenstand des Denkens« gesetzt sind und »am Denken selber Anteil« haben.(6) Hat Musik etwas mit Wahrheit zu tun, steht es ihr nicht frei, sich unbekümmert zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten. Unter solchen Oppositionsgeboten haben Schönheit und Wahrheit kaum noch etwas mit dem Kontemplationszauber vergangener Tage zu tun.

     Daß Schönheit in der abendländischen Tradition als splendor Dei, als Glanz Gottes, als ein Medium der Einheit, der Klarheit und des Wohlproportionierten, schließlich der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, zwischen Endlichem und Unendlichem ihre Nähe zum Vollkommenen schwerlich verleugnen konnte: all das macht deutlich, wie sehr das Schöne und mit ihm das Häßliche den wahrheitsfundierten Grunddualismus von Gut und Böse beerben. Erst im Lauf der Verfallsgeschichte der Transzendenz und einer weltimmanent prosaischen Reflexion des Schönen emanzipiert sich Kunst von diesem Dualismus. Mit der Konsequenz, daß das, was nach verbreitetem Vorurteil die Szene der Neuen Musik in ein Ghetto des Unzumutbaren mit dem Stigma des Häßlichen verwandelt, in erster Linie auf eine Radikalkur der Entwöhnung zurückzuführen ist: auf eine Entwöhnung von der Ich-Ästhetik der Projektion, schließlich der des leicht Konsumierbaren. Während sich gängige Rezeptionsgewohnheiten an einer Musik mit hohen Wiedererkennungswerten und einer Dauerimmunisierung gegen das Unbekannte ausrichten, verweigert sich zeitgenössisches Komponieren den Spiegelwänden, die das musikalische Subjekt seit gut dreihundert Jahren seiner eigenen affektiven Bestätigung wegen aufgezogen hatte.

     Während das Häßliche etwas mit Anarchie zu tun hat, mit dem Formlosen und Vieldeutigen, mit archaischen Schrecknissen und Ängsten, mit dem also, was sich dem Integrationsbegehren der Form und der Autonomie des Subjekts zu entziehen droht, lassen sich die Kulturgeschichte der Schönheit und ihr Wahrheitsgrund als Entdämonisierung lesen. Das Schöne als Zähmung des einst Furchtbaren wird zur Befreiung vom Bann des undurchschaut Mythischen. Es ist dieser Kontext, der Nietzsche vom »biologischen Wert des Schönen« reden läßt. Das Schöne »steht [...] innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Lebensteigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben [...]. Hiermit ist das Schöne [...] als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte«. Das Schöne an sich »existiert so wenig als das Gute, das Wahre«.(7) Weil sich jedoch die Idee der Schönheit aufs Engste mit der Souveränität des Subjekts und dessen Repräsentanz im Formgesetz des Kunstwerks verbunden hatte, mußte das Kolonisierungsunternehmen der Künste gegenläufige Tendenzen erzeugen. Denn je mehr der Formalismus der Form dominiert, umso mehr wird Konstruktion zur leeren Herrschaft über arrangierte Stoffe und Materialien. Die durchgeformte Totalität zeigt totalitäre Züge. Aus diesem Grund hat bereits die Ästhetik des deutschen Idealismus den Formtrieb mit Verhüllungstaktiken zu mildern gesucht: Formgewalt verlangt Verschleierung. Als Vernunftindex der Schönheit hat sie zwar den Stoff zu besiegen, doch muß ‹der Künstler, wenn er seine Hand an die [gestaltlose] Masse legt, um ihr Gewalt anzutun, es vermeiden, diese Gewalt zu zeigen›.(8)

 

 

Grund und Grundloses

 

Wenn Kants Kritik der reinen Vernunft ihr »Zeitalter« als das »eigentliche« der »Kritik« bezeichnet, »der sich alles unterwerfen muß«(9), spielt sie auf jene Prozesse der Aufklärung und der Selbstreflexion an, die von nun an auch die ästhetische Wahrheit binden. Wirkungen dieser Selbstreflexion zeigen sich in der Auseinandersetzung mit dem »Satz vom Grund«, der als eines der Strukturgesetze neuzeitlicher Theorie und Praxis ein von Folgerichtigkeit, Zusammenhang und Notwendigkeit gesteuertes Sinnrepertoire der Wahrheit legitimiert: »Nichts ist ohne Grund«. Ästhetisch manifestiert sich der »Satz vom Grund« im Organismus des Kunstwerks und seiner unveränderlichen Einheit von Teil und Ganzem, schließlich in den verschatteten Konsequenz- und Kausalitätsgeboten mimetischer Logik. So arbeiten die syntaktischen, affektiv gestischen Sprachmodelle der Musik bis hin zur Wiener Schule einem Muster an Wahrheit und Schönheit zu, das am Begründungs- und Bestätigungsverlangen der Identität des Selbstbewußtseins Maß nimmt. In den gesetzten Ordnungen sich selbst wiederzufinden, wird zur Rendite eines Schönheits- und Wahrheitstypus, der in der Einheit des Subjekts verortet ist. Mag auch für Schopenhauer die Erfahrung der Kunst, zumal die der Musik, den »Satz vom Grund« aufheben, wird diese Erfahrung doch durch Werke ausgelöst, die ihrerseits die Spur des »Satzes vom Grund« hörbar machen.

     Erst über ihre antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Impulse treibt Musik die Auflösung des »Satzes vom Grund« ins Innere ihrer Strukturen. Sind indes Sinn und Wahrheit verschwistert, ändert sich mit einem Komponieren, das die mnemonische Souveränität des Subjekts in Frage stellt, auch die Essenz ästhetischer Wahrheit. Mit der Verweigerung narzißtischer, an der Gefühlsästhetik der Lust orientierter Spiegelungen wird in der Frühzeit der Neuen Musik eine kritische Wahrheitsdoktrin relevant, die die Aura des Schönen und ihre Sicherheit verdächtig werden läßt. Mag auch die hochgerüstete Konstruktion seriellen Komponierens nochmals eine letzte, extreme Probe auf den »Satz vom Grund« leisten, der Hörerfahrung nach löst sie jeden Begründungszusammenhang ins Grundlose auf: mit der Aufhebung des syntaktischen Sprachgestus wird Musik gegen Kausalitätsverletzungen immun. Statt dessen erzeugt sie eine Maßlosigkeit, die dem Synthesis- und Wahrheitsanspruch des Subjekts zum Abgrund wird. Mit dem Außerkraftsetzen eines an der Gedächtnis- und Gefühlsökonomie des ästhetischen Subjekts orientierten Kunstideals öffnet sich Musik jenen vielberedeten transhumanen Tendenzen, die voreilig mit Inhumanität verwechselt werden(10). Korrespondieren aber Schönheit und Wahrheit, vom Organismus des Werks her gedacht, über die Einheit des Komponierten mit der des Subjekts, muß das Zersetzen des Scheins der Einheit ästhetisches Entsetzen auslösen. Gerade die Geschichte der Neuen Musik legt davon beredtes Zeugnis ab.

     Zeigt also die mimetisch gedämpfte Gründungs- und Begründungsmacht des »Satzes vom Grund« musikalische Wirkung, solange Komponieren einer sprachgestischen Syntax und damit dem verbunden bleibt, was Nietzsche das Symbolische der Musik nennt, verwischt sich die Grenze zwischen Sinn und Sinnlosigkeit erst mit dem Ende der Korrespondenz zwischen der syntaktischen und syntaxähnlichen Qualität des verbalen und musikalischen Sprachcharakters. Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre wechselseitige Allianz auf. Das Zerbrechen der semantischen Analogien zwischen Sprache und Musik erzeugt eine fremde, weil transsubjektive Topik des Sinns, die gemessen am überkommenen syntaktischen Kanon des Sinns sinnlos erscheint. Deshalb auch versucht sich die philosophische Deutungshoheit, deren Grammatik dem Sog des identifizierenden Urteils und damit der Ontologie des Subjekts kaum entgehen kann, immer vergeblicher an Eingemeindungen zeitgenössischen Komponierens in das Traditionsrepertoire des Wahren und Schönen. Etwa wenn sie das am »metaphysischen Sinnverlust«(11) gemessene Sinndefizit Neuer Musik an das Ethos des Wahrheitsgehalts rückbinden will, sofern die »Wahrheit [...] avancierter Musik« eher darin aufgehoben sei, »durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft« zu dementieren, als »von sich aus positiven Sinnes mächtig« zu sein(12). Eine Rückbindungsformulierung, die die Wahrheit des Komponierten gesellschaftskritisch vorentscheidet.

     Solche Vorentscheidungen verweisen mit ihrer Abstraktionshypothek auf eine Entwertung des Garantiefonds des Wahren und Schönen. Neue Musik wird deshalb zugleich zu einem Aufklärungsprozeß zweiter Ordnung, indem sie das Übergreifen des Erkenntnisregimes der Sprache über die ästhetischen Phänomene bewußt macht. Befreit sich zeitgenössisches Komponieren von der Deutungshoheit der Philosophie, beendet es zugleich die Vernunfthierarchie des Logos gegenüber der sinnlichen Erkenntnis der Aisthesis. Seitdem die Vermittlungsökonomie des Werkbegriffs mit einem Komponieren kollidiert, das subjektcodierte Sinndepots auflöst, hebt sich jenes hermeneutische Gefüge aus Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik per Gewaltenteilung auf, dessen Vermittlungsdichte einstmals den Wahrheitsgehalt des musikalischen Werks ausmachen sollte. Erst aufgrund dieser Gewaltenteilung als einer zwischen dem Guten, Wahren und Schönen jedoch läßt sich eine der Umwertungen Neuer Musik verstehen: die vom Ästhetischen zum Aisthetischen, vom Logos der Wahrheit zum Sensorium der Wahrnehmung.

 

 

Feldman oder der »große Maßstab«

 

Was besagt es nun, wenn neuerdings immer öfter von der Schönheit des Feldmanschen Spätwerks die Rede ist?(13) Vom Kanon der Tonalität her bedeutet »schön« die Kraft einer Organisation, die die Einzelheiten des Komponierten innerhalb der Geschlossenheit eines beziehungsreichen, in seiner Folge durchhörbaren Werks miteinander vermittelt, das wie etwas Gewachsenes erscheint; innerhalb eines Werkorganismus also, der sich im Bewahren des unmittelbar Vergangenen und im Vorgriff auf ein perzeptiv schon Erahnbares adäquat rezipieren läßt. Mit dieser Koordinationsregie entspricht das Formgedächtnis des Werks der Synthesis des Selbstbewußtseins, das »aus steten Gegensätzen eine Einheit zusammen[knüpft]«, die »zwischen Momenten, die sich gegenseitig aufheben müßten, eintritt«. Erst diese Verknüpfungsarbeit macht »Leben und Bewußtsein, und insbesondre das Bewußtsein als eine fortlaufende Zeitreihe möglich«.(14) Einem solchen Werk- und Rezeptionsverständnis kontrastiert Feldmans Musik, indem sie ein Charakteristikum des klassischen Schönheitskanons, das Format des Begrenzten und Faßbaren unterminiert. Statt dessen verflüchtigt sich in Feldmans späten Kompositionen die Wahrnehmung zu einem Nullsummenspiel »verfälschter Assoziationen«. Feldmans Musik versiegelt sich gegen die Innerlichkeitsform des Gedächtnisses, indem sie das Gedächtnis selbst thematisiert: seine Vernetzungsarbeit, seine Zeitfenster, seine Leerstellen und Ausfälle. Damit sich aber »Form« zum unberechenbaren »großen Maßstab« wandelt, muß das Gedächtnis sich selbst fremd werden. Deshalb deformiert Feldman Form als sicheres Terrain. Sein Spätwerk wird zu einer nomadischen Musik, die anders als gängig proportionierte »Musikformen« das Weiße des Gedächtnisses zirkulieren läßt. Gedächtnis reimt sich bei Feldman auf Genese: Es zehrt sich auf, indem es sich erzeugt. Darin ist Feldmans Musik für das Fassungsvermögen ähnlich überdeterminiert wie diejenige Cages, die uns als eine Entstereotypisierung der Wahrnehmung beim Vergessen helfen soll, um nicht in Standardisierungen zu versinken. Schönheit transformiert sich vom Ästhetischen zum Anästhetischen – gegen den Sog des Gewohnten und gegen den ästhetischen Schein, seit Platon das Fluidum des Schönen.

     Wenn das Schöne laut Kants Kritik der Urteilskraft das Gemüt in »ruhiger Kontemplation« beläßt(15); wenn bei Schiller der »Spieltrieb« als harmonische Wechselwirkung zwischen Form- und Stofftrieb »Zeit in der Zeit aufzuheben« vermag(16), dann lassen Feldmans überdimensionierte Spätwerke die sinnstiftende Einbildungskraft ins Leere laufen. Im Modulieren von Mikrovarianten verschiebt Feldman Patterns gegen die Tradition des musikalisch Sinns, indem er Musik daran hindert, syntaktisch zu gerinnen. Mit der Folge, daß die Ordnungs- und Ortungsfilter und mit ihnen die Integrationskraft des Gedächtnisses schwinden. Im Bruch mit intuitiven Zeitvorstellungen nähert sich Hören einem ungedeckten Geschehenlassen, statt das Komponierte ständig auf das Einheitsverlangen der »produktiven Einbildungskraft« zu recodieren. Indem Feldman die Theorie ästhetischer Wahrheit zur Praxis der Wahrnehmung versinnlicht, entmystifiziert er die Basis des Schönen wie Joyces Stephen Dädalus, dem es möglich scheint, »die Rechtfertigung für jede Form der Schönheit [...] zu finden«, sofern nur »der Mechanismus der ästhetischen Wahrnehmung untersucht« werde. »Das Wahrnehmungsvermögen muß in Aktion erforscht werden.«(17) Diese Aktion komponiert Feldman aus, wenn er die Differenz zwischen objektiver Zeitstruktur und subjektiver Erlebniszeit auf eine Verstörung konventioneller Rezeptionsmuster hin zuspitzt, auf die Verstörung der Zeit als der inneren Form des Selbstbewußtseins qua Identität.

     Indem die Selbstreferenz von Feldmans Musik auf keinen ihr vorausliegenden Sinn mehr verweist, indem sie sich von der Sinn- und Affektrhetorik des Subjekts befreit, läßt sie die Empfindungsalternative des Schönen und Häßlichen hinter sich. Feldmans Musik ist eine jenseits gängiger Polarisierungen, die dem Komponisten zufolge als Nötigungen des Entweder/Oder nicht in der Sache, sondern in der europäischen Tradition des Geistes gründen. Feldmans Kunst ist eine jenseits der Scheidung nach Wahrheit und Schein, nach Wesen und Erscheinung, nach Grund und Oberfläche. Gegen die narrative Dramatik setzt sie das Ereignis. Sie dämpft die Sinngier der Sprache – »ich versuche, nichts einen Namen zu geben«(18) – und begegnet dem philosophischen Hunger nach Auslegung mit einem Fasten der Semantik. Weniger noch greift für Feldmans Spätwerk und seine Durchdringung von ›Intimität und großem Maßstab‹(19) die für die Postmoderne unermüdlich bemühte Kategorie des Erhabenen als Ausweg aus der Polarität des Schönen und Häßlichen: eben weil seine Musik des überforderten Fassungsvermögens sich nicht auf »Ideen« der Vernunft und des Sittlichen hin transzendiert, sondern dem an sich selbst irrewerdenden ‹Spiel der Einbildungskraft› als der Idee ihrer Immanenz eingebunden bleibt. Ist diese Immanenz aber nicht gerade der Beweis für eine Schönheit ohne Transzendenz, die deshalb der Tradition nach keine Schönheit mehr ist?

     Gegen den Transit der Begriffe, als den sich die Geschichte der Philosophie auch verstehen läßt, verwandelt und verdichtet Neue Musik den Kanon des Wahren und Schönen zum Riß des Unverhofften. Zudem gewinnt ein Komponieren der Umwege und Verzögerungen, der leisen Töne und des Ritardandos wie dasjenige Feldmans Qualitäten des Eros, je mehr die Sinne den Verstand verlieren, je mehr sie auf die Instant-Mentalität schneller Befriedigung und Konsumeffizienz trainiert werden. Indem Neue Musik fast durchweg das »Lustprinzip« der »Wiederholung« im »Wiederfinden der Identität«(20) enttäuscht, erinnert ihre Verwandlung sinngarantierender Aha-Erlebnisse in Ereignisse des Unerwarteten an das, was Goethes Tasso unter visuellen Vorzeichen thematisiert: »Wenn ganz was Unerwartetes begegnet, / Wenn unser Blick was Ungeheures sieht, / Steht unser Geist auf eine Weile still, / Wir haben nichts, womit wir das vergleichen.«(21)

     Ob das Ereignishafte zeitgenössischen Komponierens weiterhin den Gestus des »Un-geheuren« gegen das »Geheure«(22) und den des Entsetzens im Aufheben des »Satzes vom Grund« verfolgt, indem es vom Belagerungszustand einer durchökonomisierten Begründungs- und Berechenbarkeitsmanie entsetzt, oder ob es die Kompetenz der Sinne gegen deren Entsinnlichung im Ohr behält: Längst hat die neuere musikalische Entwicklung gezeigt, daß sie die Entscheidung zwischen einem »bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk« und einer »Entfaltung der Wahrheit«(23) hinter sich lassen kann, ohne deshalb zum belanglosen bricolage zu werden, differenzlos zu dem, was ist. Immer weniger rechtfertigt sich Musik als eine Ethik zweiter Potenz und immer mehr versteinern subjektkanonische Sinnmodelle gegenwärtigem Komponieren zur Mauer hohler Wahrheitsbegriffe.

 

 

Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Wahrnehmung

 

Über die Trias von Schönheit, Natürlichkeit und Wahrheit hatte das Organismusmodell – gerichtet gegen die Künstlichkeit der Kunst und die Aufdeckung der Genese der Werke – Kunst und Ästhetik metaphysisch codiert: im Zeichen des Vollkommenen. Daß allerdings »das Vollkommene [...] nicht geworden sein [soll]«, entlarvt der Genealoge Nietzsche als »mythologisches« Relikt im Namen genialischer Schöpfungs- und Werkfantasien. Um solche »Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen«, hat die »Wissenschaft der Kunst« solcher Mythenbildung »auf das bestimmteste zu widersprechen«.(24) Und nicht nur die Wissenschaft der Kunst, sondern die Kunst, die Musik selbst. Die Logik des Komponierten, das seine Notwendigkeit aus Freiheit erzeugt, wird schon in den Ellipsen des beethovenschen Spätwerks als scheinhaft entlarvt. In den Antistrukturen des Unwiederholbaren und des Zufalls Neuer Musik schließlich geht es nicht mehr um die Gedächtnistrassen des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns, sondern um Epiphanie, verstanden als Bruch im Begründungs- und Kausalitätsdenken. Musik entfaltet sich zu einer komplexen und ausschnitthaften Textur, die sich der Stille und dem unmerklichen Auftauchen und Verschwinden von Momenten öffnet. Gegen die Metaphysik der Wahrheit als einer der sinnstiftenden Wiederholung beschreibt die Nicht-Wiederholbarkeit aleatorischer Formen eine rätselhafte Figuration zwischen der Einmaligkeit des Ereignisses und der Serie von Differenzen. In den Streuungen des Wahrscheinlichen zergeht die exklusive Wahrheit vom inneren, die Einheit des Selbstbewußtseins organisierenden Sinn der Zeit. Der Einwand, in eben dieser Dezentrierung als einer der sozialen Tendenz liege die Wahrheit Neuer Musik, betrifft bereits einen Wahrheitsanspruch der soziologischen Metaebene.

     Das Schöne konnte im Dienst der Selbsterhaltung stehen, weil Künstler, Werke und Rezipienten über die Idee der Autonomie miteinander kommunizierten. Als Organismus nimmt auch das Kunstwerk Subjektqualität an. So wird das Schöne zum bejahenden Selbstgenuß, schließlich zur privatisierten Entlastung auf dem Weg ins Gelobte Land der Innerlichkeit. Als Ausgleich von Spannungen der Aura des Göttlichen nachempfunden, repräsentiert sich die Autarkie des Schönen vornehmlich in den Qualitäten der Kontemplation und des Quietivs. Kunst wird zur »milden Narkose«, zum »Linderungsmittel« inmitten eines »Lebens«, das »zu schwer für uns [ist]«, weil es »zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben« abverlangt.(25) Schon Kants Definition: »schön ist, was ohne Begriff allgemein gefällt«, zielt auf eine Physiognomie des Schönen im Zeichen formaler Zweckmäßigkeit und einer Anpassung an das subjektive Erkenntnisvermögen. Daß diese statische Verfaßtheit mit der Produktionsdynamik der Moderne kollidieren mußte, war abzusehen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts läßt die Macht industrieller wie genealogischer Produktions- und Erkenntnisprozesse transhistorische Ideale wie Wahrheit und Schönheit suspekt werden. Zudem kontrastiert dem Präsenzanspruch des Schönen – der perfekte Werkkosmos kennt keinen imperfekten Zustand, keine Leerstelle, keinen Mangel an Fülle – das nicht Darstellbare, nicht Hörbare, Unrealisierbare Neuer Musik, ihr bewußt Imperfektes also. Vorbei die »schöne organische Innerlichkeit«, in der »jede Schicht signifikant und subjektiv« war.(26) Vorbei aber auch jene Deutungen, die in der Nachfolge Adornos der Neuen Musik allzu lange ein gutes Gewissen verschaffen wollten, indem sie sie zum schlechten Gewissen der Gesellschaft erklärten.

     Von Daseinsapotheosen und Leidensapologien gleicherweise entfernt verabschiedet sich Musik von der rhetorischen und affektiven Subjektbühne. Wie bei Kafka schweigen während ihrer furchtlos nüchternen Odyssee die Sirenen. Die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel im Kurs auf viele Ithakas. Die Spannung zwischen der Verzauberungsinstanz des Schönen und der Entzauberungsinstanz des Wahren, die die Ästhetik der Neuen Musik lange Zeit gesellschaftskritisch vorentschieden hatte, wird hinfällig. Was freilich in einer Musik, die nicht mehr auf das »Entsetzen der Geschichte«(27) oder das »perennierende Leiden«(28) im Bestehenden einzuschwören ist, als subjektferne Kälte empfunden wird, ist keine Kälte der Musik, sondern eine im Empfinden des rezipierenden Bewußtseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte um seiner Selbstbestätigung willen da zu sein. Schönheit und Wahrheit verlieren ihren rhetorischen Habitus, sobald die Sinnmacht des Subjekts in Richtung kompositorischer Denkmodelle überschritten wird, die – ohne zynisch und menschenverachtend zu sein – um eine produktive Leere kreisen. Sie hat Foucault im Anschluß an Heideggers Humanismuskritik »le vide de l´homme disparu« genannt. »In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken.(29) Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.« Selbst wenn sich neuerdings eine Musik des Leisen sowie zahlreiche Installationen der Klangkunst wieder einem anthropomorphen Maß nähern, geht es dabei keineswegs um eine Gefühlsästhetik des Schönen. Unbekümmert um geschmackspsychologische »likes and dislikes« weist Musik eher in eine Richtung, die Adorno einmal die »opferlose Nichtidentität des Subjekts« genannt hat(30) und Heidegger die Abkehr vom verfügenden und rechnenden Monopol des »animal rationale«(31). Der Weg von der Begründungsmanie des Serialismus, seinem Kalkül im Triumph der Methode, hin zur Destruktion der Struktur und zur Gelassenheit Cages, schließlich zur bewegten Stasis Feldmans skizzieren eine Karte der Neuen Musik, in der sich Wahrheit in die Phänomene von Wahrscheinlichkeit und Wahrnehmung auflöst.

     »Auch das Schöne muß sterben«, heißt es in Schillers Nänie. Nur daß sich das Schöne im Untergang in Schneisen des Freien und Offenen verwandelt, die die Ordnung des Realen mit experimenteller Emphase durchqueren. Um die zu Trend und Trott verinnerlichten funktionalen Standards zu irritieren und den Eigensinn der Wahrnehmung auf eine Dissidenz des Bewußtseins hin zu sensibilisieren. Zielt Offenheit darauf, wie routinierten Sinnmustern zu entkommen sei, bedeutet die Verstörung von Sinn-Normen immer auch die von Wahrheits-Normen. Was aus dieser Verstörung wird, muß Neue Musik nicht bekümmern. Sie ist keine praktische Philosophie. Weit eher eine »Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert«(32). Und ein Versuch, die Wahrheit des Schönen im mimetischen Vermögen der Wahrnehmung zu fundieren, so wie das schon vor gut einem halben Jahrhundert Paul Valéry umschrieben hat: »Wenn ich wählen müßte zwischen dem Schicksal eines Menschen, der weiß, wie und warum eine Sache das ist, was man ›schön‹ nennt, und dem Schicksal, zu wissen, was Wahrnehmen ist, ich glaube wohl, ich würde das zweite wählen, mit dem Hintergedanken, daß dieses Wissen [...] mir alle Geheimnisse der Kunst liefern würde.«(33)

 

 

Anmerkungen

 

 1 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta,

    Bd. 3, München 1969, S. 475.

 2 Helmut Lachenmann, Drei Werke und ein Rückblick, in: Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996,

    S. 402.

 3 Ebenda

 4 Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute, in: Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, S. 106.

 5 Ebenda, S. 107.

 6 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 118f.

 7 Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, S. 576.

 8 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Schiller, Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v.

    Ger­hard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1980, Bd. 5, S. 578.

 9 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 7.

10 Vgl. dazu Martin Heidegger, Brief über den »Humanismus«, in: Heidegger, Wegmarken, Frankfurt am Main 1967,

     S. 145ff.

11 Adorno, Ohne Leitbild, in: GS 10,1, S. 449f.

12 Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 28.

13 So zum Beispiel Gisela Gronemeyer, die einen Aufsatz zu Feldmans Crippled Symmetry mit dem Titel «Momente von

     gro­ßer Schönheit» überschreibt [in: MusikTexte 4 (April 1984, S. 5-9)].

14 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Hamburg 1979, S. 124.

15 Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. 10, S. 181f.

16 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, a. a. O., S. 612f.

17 James Joyce, Stephen der Held, übstzt. v. Klaus Reichert, Frankfurt am Main 1973, S. 225.

18 Morton Feldman, Essays, hg. v. Walter Zimmermann, Kerpen, S. 184.

19 Pie-Slicing and Small Moves. Morton Feldman in Conversation with Stuart Morgan, in: Artscribe, 11, S. 35.

20 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: Freud, Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards,

     James Strachey, Frankfurt/M. 1969 ff., Bd. 3, S. 245.

21 Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso, Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, hg. v. Erich Trunz,

     Bd. 5, Mün­chen 1977, S. 162.

22 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1980, S. 61.

23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer

     und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970ff., Bd. 15, S. 573.

24 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino

     Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 2, S. 141.

25 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe Bd. 9, S. 207 u. 212.

26 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 8.

27 Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 125.

28 Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, S. 355.

29 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971, S. 412.

30 Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, S. 277.

31 Heidegger, Brief über den »Humanismus«, a. a. O., S. 164ff.

32 John Cage, Silence, übstzt. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 54.

33 Paul Valéry, Discours sur l'Esthétique, gehalten auf dem 2. Internationalen Kongreß für Ästhetik und Kunstwissenschaft

    1937, in: Valéry, Œuvres, Bd. 1, Paris 1957, S. 1296.

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Johannes Bauer

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Jenseits

der

Normen?

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