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Was heißt Fortschritt?

Musik-Konzepte 100

 

Hrsg. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn,

edition text+kritik, April 1998

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157 Seiten, 24,- DM.

Seitdem der Zivilisationsprozeß mit entfesselter Technik und hemmungslosem Wachstum verwechselt wurde, zeigt die Fortschrittsdebatte Züge einer Bewußtseinsspaltung. Zwar sind Technizismus und Naturausbeutung in Verruf geraten; zwar ist die Bilanz der Katastrophen augenfällig: dennoch halten Effizienzsteigerung und Profitmaximierung weiterhin über die Köpfe der Arbeitsgesellschaft hinweg die sinnverlassene Verwertung des Werts in Gang. Anschauungsmaterial für den Widerspruch zwischen rationaler Erkenntnis und irrationaler Praxis liefert die gesellschaftspolitische Fortschrittsdiskussion jedenfalls genug.

              "Was heißt Fortschritt?": der 100. Band der Musik-Konzepte ist ein Band der Diagnose, zumal der Neuen Musik, und ein Band der Kritik am ästhetischen Fortschritt. Vornehmlich am ästhetischen Fortschritt als einem Par-force-Ritt des technischen Kalküls. Häufig argumentieren die Autoren, darunter zahlreiche Komponisten der zeitgenössischen Musik,, wie Boehmer, Lachenmann, Rihm, Schnebel, Spahlinger, Ullmann, Zender oder Zimmermann, gleichsam wie in Sorge, der konstruktivistische Sog der Neuen Musik könnte allzu leicht in die Falle einer instrumentellen ästhetischen Vernunft geraten.

              Am Vergleich zwischen ökonomischen und ästhetischen Strukturen interessieren heute vorrangig die Verluste. Die Verluste des technisch-industriellen Fortschritts und die Verluste im musikalischen Prozeß der Rationalisierung. Was muß der abendländische Fortschrittsbegriff ausblenden, um sich als Fortschrittsbegriff etablieren zu können? Worin beschneidet der Rationalitäts- und Rationalisierungsprozeß der Musik deren Kraft, das zivilisatorisch Verfemte zu bewahren? Solche Fragen lenken in der vorliegenden Ausgabe der Musik-Konzepte den Blick auf die Wahnsinnsschatten der Vernunft, auf ihre Kontrollbesessenheit und ihre Widersprüche bis in die Kompositionstechnik hinein. Von hier aus thematisiert Konrad Boehmer den "Fall Boulez". Von hier aus thematisiert Jakob Ullmann den christlich gefärbten Werk- und Textcharakter des abendländischen Musikdenkens als einen Engpaß, als eine Sackgasse. Kritik wird laut an den "kampfstarr entschlossenen Reihen" einzelner Parteiungen innerhalb der Neuen Musik, so bei Wolfgang Rihm.(1) Kritik am jeweiligen Alleinvertretungsanspruch auf Fortschrittlichkeit. Und Mathias Spahlinger weist auf jenes Verdrängte hin, das der Kahlschlagspolemik der Avantgarde und ihrer Überheblichkeit "vergangenen Bewußtseinsstufen" oder den "Bewußtseinsstufen anderer Kulturen" gegenüber zum Opfer fällt, um sich in anderen Sparten schadlos zu halten.(2) Plädiert wird dagegen für ein Fortschrittsverständnis, das die "Versöhnung mit dem Überwundenen, Zurückgelassenen" einschließt(3); für eine Musik des Eingedenkens und eine musikalische "Archäologie des Bewußtseins"(4). Daß Boulez in den 50er-Jahren verkünden konnte, Komponisten, die die Notwendigkeit der seriellen Kompositionsmethode nicht "gefühlt" hätten, seien "nutzlos", ist eines jener Absolutheitspostulate, die suspekt wurden.

              Macht indes solche Dogmatismus-Schelte nicht einen Vorschlag zu falscher Güte? Nur insoweit, wie Hans Zender argumentiert, als der Dogmatismus zeitgenössischer Ästhetik und Kompositionspraxis etwas Militantes und Provinzielles angenommen habe. Genauer gesagt, jene Stimmigkeitslogik, die auf einen starren Kanon des Verbotenen setzt. Die Zurückweisung von Absolutheitspostulaten kann jedenfalls nicht bedeuten, einem Pluralismus jenseits aller Wertkriterien das Wort zu reden. Auch wenn der Abschied vom Prinzipiellen nunmehr die Musik erreicht hat, ist der Verteidigung von Wahrheitsgehalt und Erkenntnischarakter keineswegs das schlechte Gewissen des Elitären einzureden. Darin stimmen sämtliche Beiträge des Bandes überein.

              Es geht also nicht um eine angebliche Wertneutralität, die ins Belieben stellt, welche Musik man komponiert und hört, und mit dem Verrat an den Werken und an der Geschichte auch einen Verrat am Publikum begeht. Notwendig ist vielmehr ein Aufsprengen der Ausschlußverfahren, ohne an Niveau nachzulassen. Das Andere soll ernstgenommen, immanent musikalisch reflektiert werden. Die Tradition nicht weniger wie das Abseitige, Zurückgebliebene, Ideologische: von der Esoterik Stockhausens über die Nostalgie der populären Avantgarde bis hin zur industriell gefertigten Erlebnis- und Zurichtungsmusik. Bestätigt wird diese selbstreflexive Öffnung der Musik durch jenen vielschichtigen Perspektivismus, den neuere Kompositionen gerade in der Auseinandersetzung mit der Tradition entbinden; Ruzickas Tallis etwa oder Schnebels Schubert-Phantasie, auf die Ernstalbrecht Stiebler verweist.

              Mit Nietzsche hat die neuere französische Philosophie bewußt gemacht, wie sehr die lineare Konstante, die ebenso das Fortschrittsmodell bestimmt, in der Urteils- und Sinnmoral der Sprache Regie führt. Stockhausen hat dies für die Schriftpraxis der Musik aufgedeckt, Cage hat in seinen graphischen und operationalen Konzepten daraus die Konsequenz gezogen. Cage insbesondere hat den Preis des Rationalisierungsprozesses der abendländischen Musik schockhaft vor Ohren geführt und neue Wege jenseits des Werk- und Textideals eröffnet. Verständlich deshalb, daß sein Name in den Essays des Bandes auffällig häufig vorkommt. Erst Cages Schneisen der Stille haben den Angst- und Verwertungsgrund des geschlossenen musikalischen Zeitbegriffs entlarvt, mit einem Höhepunkt in der Lückenlosigkeit seriellen Komponierens. Den Zusammenhang der musikalischen Zeit also mit Prinzipien der protestantischen Ethik. Cage war es außerdem, der den Fortschrittsirrsinn unentwegter Innovation kompositorisch ad absurdum geführt hatte. Ein Zweifel am Fetisch des Neuen, der unter Verweis auf Cage auch die Fortschrittsdiskussion der Musik-Konzepte durchzieht. Beispielsweise im Motiv von der "Kraft des Stillstands" oder im Motiv von der "befreiten Wahrnehmung des Jetzt". Von diesem "befreiten Jetzt" habe Cage als einer der wenigen gewußt, wie Helmut Lachenmann anmerkt.(5)

              Daß Walter Benjamin in einem kritischen Band zum Thema Fortschritt präsent sein würde, war zu erwarten. Schließlich sah Benjamin den "Begriff des Fortschritts" in der "Idee der Katastrophe" fundiert. Verwunderlich ist nur, daß Benjamins "Engel der Geschichte" in keinem der Beiträge als ein Sinnbild auch der Neuen Musik erkannt wurde. Während die ökonomisch-politische Eiszeit andauert und in der Zumutung der reglementierten Bedürfnisse, der Scheinalternativen, der Phantasielosigkeit und des Lebensbetrugs kaum noch adäquat wahrgenommen wird, zeigt die Neue Musik verwandte Züge zu jenem Engel Paul Klees, den Benjamin beschreibt,

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als wäre er in Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind

aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. (...)    Der En-

gel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewen-

det. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Kata-

strophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleu-

dert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammen-

fügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen

hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt

ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhau-

fen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.(6)

 

Ausgegrenzt von der Unterhaltungsindustrie wie vom philharmonischen Jetset und ohnmächtig in ihrer Wirkung protestiert die Unversöhnlichkeit der Neuen Musik im Bewußtsein, daß der Ausdruck des Verdrängten um so dringlicher wurde, je mehr sich die Welt zum System der technischen Vernunft zusammenzog. Kurzgeschlossen zwischen Produzieren und Konsumieren wird Gesellschaft im Zwang des unentwegten Funktionierens zum Vampir ihrer selbst. Sie saugt Leben aus und gefällt sich darin, keine Schatten zu werfen. Was als Störung und Widerstand an Produktivitätsverweigerung und Marktresistenz erinnert, wird schnell auf Kurs gebracht, falls es überhaupt wahrgenommen wird. Wollte man die Neue Musik charakterisieren, könnte dies am ehesten anhand der Merkmale von Störung, Irritation, Unterbrechung und Obsession geschehen. In Hans Rudolf Zellers Referat Fortschritt im Stillstand liest sich das mit Blick auf die Musique concrète folgendermaßen:

 

War die technische Weiterentwicklung der Medien stets auf die Verbesserung der Wie-

dergabe getreu dem Ideal des Schönklangs gerichtet, dominieren in ihrer experimen-

tellen Verwendung gerade die rigoros verabscheuten Störungen, vielmehr Geräusche

als Repräsentanten all dessen, was der Norm entsprechend unterdrückt und wegge-

worfen wird, obwohl dieses Material ungleich komplexer ist als das allein Erwünsch-

te oder das in der Musik Notierbare.(7)

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Obsession vor allem wird zum kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Kompositionsmodelle. Und was ist Obsession anderes als das Verlangen nach Leben in einer Ökonomie der Beschneidung?

              Neuere Kompositionen wie beispielsweise Birtwistles Mask of Orpheus oder Carters Partita lassen immerhin hoffen, der Engel der Neuen Musik könne sich zumindest ein wenig der Zukunft zuwenden. Zumal es diesen Werken gelingt, im Eingedenken von Mythos und Geschichte das Bewußtsein eines sich selbst entzaubernden Fortschritts auszukomponieren. Durch die Schichtung und den Wechsel unterschiedlichster Gefühls- und Reflexionsplateaus. Und in einer konstruktiv entfesselten Sinnlichkeit, die sich ohne die Verweigerungsaskese der musica negativa und ohne ins Reaktionäre oder Belanglose abzustürzen, der Erfahrung der vernetzten Welt stellt. Eine Musik der Emanzipation der Sinne und des Bewußtseins, die die Zuversicht stärkt, dem Ohr könne jene ästhetische Tiefenschärfe zurückgegeben werden, die im Hörsturz einer akustisch überreizten Welt verloren ging. Solche Musik ist einem Denken verwandt, das der Philosoph Jean Gebser als "diaphan" und "integral" charakterisiert hat. Auf ihn bezieht sich Hans Zenders Essay Fortschritt und Erinnerung in der Absicht, für die Musik ein Denken einzufordern, das lernt, der

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apodiktischen Form des Urteilens (...) zu entkommen (...), unvereinbare Gegensätze

nebeneinander zu ertragen, Alternativen zu gestatten, widersprüchliche Systeme ko-

existieren zu lassen; ja in solcher Koexistenz eine neue Qualität des Denkens zu er-

fahren, welche weder mit relativierender Gleichgültigkeit noch mit Pluralismus gleich-

gesetzt werden darf. (...) Strukturen werden durchsichtig, erlauben den Blick auf ihre

Genese und sind sich ihrer Vergänglichkeit bewußt. So wird es möglich, auch die (...)

verworfenen Formen der Geschichte (...) in neuem Licht zu sehen: verändert durch

die Erfahrung der Moderne, aber einem produktiven Umgang wieder geöffnet.(8)

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Dieses nicht-lineare, dieses synchrone Denken in etlichen Kompositionen der jüngeren Gegenwart realisiert und ästhetisch verwandelt zu finden, bedeutet indes ein Stück Aufklärung über die Aufklärung und deren Fortschrittsbegriff. Wie heißt es doch bei Walter Benjamin:

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Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause.(9)

 

 

(Johannes Bauer)

Nachweise

       

    1    Was heißt Fortschritt? (Musik-Konzepte 100), S. 71f.

    2    A. a. O., S. 79.

    3    A. a. O., S. 56.

    4    A. a. O., S. 149.

    5    A. a. O., S. 56.

    6    Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, GS I,2, S. 697f.

    7    Was heißt Fortschritt?, S. 141.

    8    A. a. O., S. 150.

    9    Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V,1, S. 593.

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