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Das Ungeheure und die Gelassenheit

Martin Heideggers Nähe zur Neuen Musik

 

 

Obwohl sich Martin Heidegger so gut wie nie zu musikästhetischen Fragen geäußert hat, sind strukturelle Korrespondenzen zwischen seinem Denken und der Musik der Gegenwart unverkennbar: Parallelen etwa zwischen Heideggers Kritik des Erlebnisses und einer Musik, die sich der narzisstischen Spiegelfunktion ihrer Hörer entzieht. Vor allem aber macht Heideggers Destruktion der Philosophie den Übergang vom Begründungs- zum Ereignisdiskurs einer nachmetaphysischen Ära bewusst und damit einen Wandel, der für die Geschichte der Neuen Musik von entscheidender Bedeutung ist. Von Bedeutung zumal für jene Brechung gewohnter musikalischer Konstruktions- und Wahrnehmungsmuster, in der die Regie des ästhetischen Subjekts an Boden verliert und ins Grundlose gleitet. Dass dieses Entgleiten für Heidegger zu einem Weg ins Offene, Freie wird - jenseits des Ideenrepertoires des abendländischen Humanismus und seiner Sinngebungen -, spricht für die Brisanz einer Philosophie, deren Reflexion zum Problem der Zeit, der Leere, des Todes oder der Gelassenheit zahlreiche Facetten gerade auch der Neuen Musik in einen bislang ungewohnten Kontext der Deutung rückt.

Heideggers Nähe zur Neuen Musik (Monolog-Fassung) (Südwestrundfunk 2010)

Bspl. 1: Peter Ablinger, Voices and Piano (Martin Heidegger)

 

A           Martin Heidegger und die Neue Musik - ein provokantes, gar absurdes Thema? Absurd insofern, als es dabei nicht um das „Sujet Heidegger“ in zeitgenössischen Kompositionen geht, wie im Fall von Jo Kondos Holzwegen, von Hans G. Helms Golem oder wie im Fall des eingangs gehörten Ausschnitts aus Peter Ablingers Voices and Piano. Absurd vielmehr deshalb, weil einige strukturelle Korrespondenzen zwischen der Philosophie Heideggers und der Neuen Musik thematisiert werden sollen. Hat indes nicht Heidegger selbst sich in seinen Schriften so gut wie nie über Belange der Musik geäußert? Und bestätigen nicht allein schon die Bedeutung der Malerei und weit mehr noch der Vorrang der Dichtung in Heideggers Auseinandersetzung mit der Kunst und den Künsten die Abwegigkeit unseres Themas? Und falls sich Heideggers Kunstverständnis tatsächlich, wie so oft behauptet wird, eher an Hellas als am Heute orientiert: läuft dann das „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ - eines der Leitmotive aus Heideggers Kunstwerkaufsatz von 1936 - für die Musik der Gegenwart nicht vollends ins Leere?

Fragen über Fragen also. Und doch: nach wie vor richten sich geisteswissenschaftliche Diskurse allzu hartnäckig am Dogma der Wörtlichkeit aus. Kein Wunder also, dass Heideggers Enthaltsamkeit in musikalischen Dingen den Schluss nahelegt, der Philosoph sei für den Bereich der Musik, gar der Neuen Musik ohne jedes Interesse. Abgesehen davon, dass der Skandal von 1933 immer noch allzu leicht und allzu bequem von einer Auseinandersetzung mit Heideggers Philosophie entlastet: Wie sollte gerade einem von Heideggers Werk her gestützten Desinteresse am Thema „Heidegger und die Neue Musik“ in den Sinn kommen, die Abhandlung des Philosophen über den „Satz vom Grund“ könnte für die Musik der Gegenwart womöglich mehr Gewicht haben als so manche fachspezifische Analyse?

Beginnen wir deshalb mit einer deutlicheren Spur, mit einer Spur aus den Jahren von Heideggers Sein und Zeit. Bekanntlich gilt die Angst in Heideggers erstem Hauptwerk als jene „ausgezeichnete Befindlichkeit“, die radikal vereinzelt und kraft dieser Vereinzelung die alltägliche Verfallenheit an das „Man“ durchbricht. Denn erst die Angst ermöglicht jene „Freiheit des Sich-selbst-wählens“, die mit der „Erschlossenheit des Daseins“ die Wirklichkeit zu einer bloßen Möglichkeit unter vielen entzaubert.

Ist es nun ein Zufall, dass Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene mit dem Untertitel „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“ im selben Jahr 1929 komponiert wurde, in dem auch Heidegger das Phänomen der Angst nachhaltig analysiert? In einem Klima der Bedrohung und des Ausgesetztseins zwischen den beiden Weltkriegen?

B            „In der Angst […] ist es einem unheimlich. […] Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. […] Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. […] Die Angst offenbart das Nichts. Wir >schweben< in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. […] Nur das reine Da-sein in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da. Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts andrängt, schweigt im Angesicht seiner jedes >Ist<-Sagen.“

A           Wenn uns aber - so möchte man Heidegger ergänzen - das Andrängen der Angst das Wort verschlägt, könnte dann vielleicht die Musik dem Unheimlichen der Angst eine Stimme geben? Die Stimme einer Erschütterung zudem, da ja auch Schönberg aus dem Schock der Angst heraus die Mauer der Gleichgültigkeit und der Abschottungsrituale zum Einsturz bringen will? Die Mauer des „Man“ also, dem „Jeder […] der Andere [ist] und Keiner er selbst“?

 

Bspl. 2: Arnold Schönberg, Begleitmusik zu einer Lichtspielszene, op. 34

                        

A           Nun zählt Schönberg freilich nicht zu jener Rubrik „Neuer Musik“, unter die der gängige Sprachgebrauch die Geschichte des Komponierens seit 1945 subsumiert. Dennoch zieht sich von Schönberg her bis in unsere Tage der Strang einer musikalischen Kunst des Schreckens, deren Charakterisierung als „Katastrophenmusik“ etwa auch noch die Werke der 1968 geborenen Komponistin Olga Neuwirth für sich in Anspruch nehmen. Und galt eine Musik des Grauens nach der beispiellosen Barbarei des NS-Regimes nicht lange Zeit als die einzig authentische? Eine Musik also, die sich gegen Masse und „Man“ dem Entsetzen zu stellen und standzuhalten hat?

Gleichwohl steht Neue Musik längst nicht mehr unerbittlich in Waffen. Und möglicherweise öffnet gerade diese Überschreitung ihres katastrophischen Potenzials den Horizont für eine Musik ohne Menschheitspathos, die dennoch alles andere als belanglos, gar inhuman wäre. Für eine Musik somit, deren Wandel von einer Kunst des Widerstands und der Detonationen hin zu einer Kunst jenseits der ethisch-metaphysischen Impulse von Klage und Anklage verläuft. Wäre indes ein solcher Wandel nicht mit Heideggers berühmter „Kehre“ vergleichbar? Mit der Kehre von einer Fundamentalontologie des angstdurchbebten Daseins und seines entschlossenen Entwurfscharakters hin zur Seinsgeschichte des „Seyns“ und hin zu einem offenen Raum der „Gelassenheit“, frei von den Koordinaten der Metaphysik?

Heidegger und die Neue Musik. Konzentrieren wir uns also vorrangig - vom Kurs einer Kehre, eines Wandels her - auf eine evidente Wegparallele zwischen Heideggers Denken und dem Komponieren Neuer Musik, nämlich auf die Destruktion des Erbes der Metaphysik. Was heißt nun aber Metaphysik und was macht ihre Konstanten aus? Für Heidegger liegt eines ihrer Leitmotive darin, dass die Metaphysik

B            „das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens denkt. Denn das Sein des Seienden hat sich seit dem Beginn der Philosophie und mit ihm als der Grund […] gezeigt. Der Grund ist jenes, von woher das Seiende […] in seinem Werden, Vergehen und Bleiben als Erkennbares, Behandeltes, Bearbeitetes ist, was es ist und wie es ist“. „Der Grund hat [so] den Charakter des Gründens als ontische Verursachung des Wirklichen“.

A           Soweit die Diagnose der Philosophie. Und die der Musik? Auch die Musik der Moderne steht von Beginn an in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Dessen Gründungs- und Begründungsmacht - „Nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich am nachhaltigsten in der Einheit der Werke zur Zeit der tonalen Epoche: in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und in den dieser Logik zufolge erst möglichen Regelverstößen. Erinnert sei nur an Mozarts hintersinniges Sextett KV 522 mit dem Titel Ein musikalischer Spaß. In solchen gleichsam an logische Hohlformen der Musik erinnernden Gesetzmäßigkeiten von Folgerichtigkeit, Zusammenhang und Notwendigkeit kultiviert auch die Musik einen Sinnfundus an Wahrheit, zumal die organisch durchgeformten Werke der tonalen Ära aufs Engste mit der Einheit von Ich und Subjekt korrespondieren. In der begründeten Identität der Werke sich selbst als eine Einheit von Begründungen zu finden, wird zum Kanon schlechthin.

Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen und antinarrativen Tendenzen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ ins Innere der Struktur. Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der Affekt- und Gedächtnisregie der Hörer gegründete Allianz auf. Mag auch die hochgerüstete Konstruktion serieller Musik zum letzten Mal und in sämtlichen musikalischen Parametern eine gewichtige Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten: ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich das durchrationalisierte Begründungssystem serieller Kompositionen bereits ins Grundlos-Abgründige auf. Genau dieser Wechsel vom Begründungs- zum Ereignisdiskurs aber markiert - mit Heidegger gedacht - den Übergang zur metaphysikkritischen Musik der Gegenwart.

 

Bspl. 3: Pierre Boulez, Structures pour deux pianos

 

A           Dem Zwang des metaphysischen Denkens, für jedes Seiende ein „Warum“ zu finden, allem auf den Grund zu kommen, um es kausal und methodisch zu verorten, wird das Abgründige zur sinnlosen und bedrohlichen Leere. Umgekehrt bleibt die Destruktion der Metaphysik stets an den Sprung ins Abgründige und Unbegründete gebunden. Hat nämlich das metaphysische Denken laut Heidegger

B            „je nur Seiendes aus Seiendem abgeleitet, weil es auf dem >Boden< der >Tatsachen< bleibt“, dann ist im Unterschied dazu das „Sein […] kein Boden, sondern das Bodenlose“.

A           Demnach begreift sich Heideggers „Destruktion“ der Metaphysik und ihrer „Seinsvergessenheit“ als ein Denken und An-denken des Unverfügbaren ohne jede Sicherung und Stütze. Kompromisslos aber ist dieses Denken noch als Einsicht in die Grenzen dieser Destruktion, genauer: in die Grenzen der Sprache dieser Destruktion, sofern eine argumentativ operierende Sprache wie die der Philosophie ihrem auf Gründe bedachten Diskurs kaum je entkommt. Denken indes, das von Belang ist, zumal das Denken von „Sein“ und „Ereignis“, hat sich auszusetzen. Vergleichbar einer Musik, die, wie der Komponist Helmut Lachenmann betont, auf die Besinnungslosigkeit einer >überforderten Zivilisation< mit der radikalen

B            „Brechung des Vertrauten“ durch eine „Situation“ der „Verunsicherung“, ja durch eine „bewusst ins Werk gesetzte >Nichtmusik<“ zu antworten hat.

A           Ohne hermeneutische Nötigung lässt sich deshalb bereits Lachenmanns Destruktion der Musik hin zu einer „Nichtmusik“ des befreiten Hörens mit Heideggers Destruktion der Philosophie hin zu einer Nichtphilosophie des befreiten Denkens vergleichen. Geht es doch in beiden Fällen um eine Rücknahme metaphysischer Ausschlussverfahren. Wenn Lachenmanns „Musique concrète instrumentale“ die Verschränkung zwischen der Physis des Klangs und dem musikalischen Diskurs erfahrbar macht, plädiert sie für eine metaphysikkritische Option, sofern Sinn von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu trennen ist wie die Botschaft von ihrem Medium. Der Klang - mit Lachenmann verstanden als „Nachricht seiner Hervorbringung“ - hebt den Dualismus zwischen der Idee und dem tönenden Botenstoff des Sinnlichen auf und mit ihm jene Spaltung zwischen Geist und Materie, die der Gründungsakt der Metaphysik freisetzt und in zahlreichen Varianten tradiert.

Natürlich verliert mit der Zurücknahme solcher Spaltungen auch die spaltende und über Zugelassenes und Ausgeschlossenes verfügende Instanz des neuzeitlichen Subjekts ihre Privilegien. Ihre Privilegien verliert damit auch die von Heidegger monierte Definition des Menschen als eines „animal rationale“ samt ihren im Namen des Humanismus fixierten Spaltungs- und Wertungsmustern des Animalen und Rationalen. Verbünden sich indes seit der Renaissance Metaphysik und Humanismus zu einer Art Weltentschlüsselungs- und Welteroberungsemphase, dann ist, mit Heidegger gedacht, die Metaphysikkritik der Neuen Musik immer auch Subjekt- und Humanismuskritik: Kritik wohlgemerkt an einem nur insofern geist- und vernunftzentrierten Humanismus, als Geist und Vernunft sich von der Niederung des Kreatürlichen abspalten und schließlich doch nach Art der Dialektik von Herr und Knecht in einem Gewaltverhältnis davon abhängig bleiben.

 

Bspl. 4: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester

 

A           Helmut Lachenmann: Ausklang, Musik für Klavier mit Orchester. Wo wäre in dieser Komposition die Grenze zwischen Idee und Stoff, zwischen Konstruktion und Eruption nach dem Modell des „animal rationale“ zu ziehen? In einer Komposition, die sich zur Tiefenbohrung in den Sprachgrund der Musik schärft? So, als wollte Lachenmann über die Andeutung und die gleichzeitige Verweigerung musikalischer Sinneffekte die historische Dimension dieses Sprachgrunds ausloten - sein Werden und sein Vergehen - und zugleich Fühlung mit dem Abgrund dieses Sprachgrunds aufnehmen? Mit einem Abgrund, der als Demontage narrativer Zeit- und Affektdramaturgien eine neue, andere, freiere Präsenz der Klänge ermöglicht und die Musik - um mit Heidegger zu sprechen - nach dem Abschied von der Metaphysik des Subjekts in Bereiche des Unberechenbaren, des Unverfügbaren und Unbekannten gelangen lässt. Wenn aber Heidegger zufolge die Metaphysik eine Rationalität ausformt, die stets nach zureichenden Gründen verlangt, dann kann gerade das Ablassen vom Gründen und Begründen eine „Lichtung des Offenen“ aufschlagen: im Wagnis des Unwägbaren und Beispiellosen nämlich.

Neue Musik vollzieht dieses Wagnis in Kompositionen, die eher auf ein ungedecktes Geschehenlassen setzen, anstatt das Komponierte auf das Einheitsverlangen des rezipierenden Bewusstseins hin zu hören, ja zu verhören. So entäußert sich etwa die Vielfalt der patternhaften Mikrovarianten in Morton Feldmans späten Kompositionen umso eher zu einer Schwebe im Offenen, je mehr sich diese Vielfalt von der Formeffizienz des Satzes vom Grund und seinen ästhetischen Varianten löst. Distanz zum Satz vom Grund aber bedeutet bei Feldman vor allem, das Gedächtnis als oberste Kausalinstanz sich selbst fremd werden zu lassen. War Musik fast durchweg eine hohe Schule des Gedächtnisses, thematisiert Feldman das Gedächtnis selbst: seine Vernetzungsarbeit, seine Leerstellen, seine Zeitfenster. Dabei verwickelt der „große Maßstab“ in Feldmans späten Stücken, die ihrer Zeitausdehnung nach nicht mehr durchhörbar sind, das Hören immer wieder in den Wandel kaum bemerkbarer Motivmodulationen. Musik wird zu einem Nullsummenspiel aus Scheinwiederholungen und unscharfen, weil vermeintlichen Akten des Wiedererkennens. Sie entzieht sich der Kalkulierbarkeit zerleg- und beherrschbarer Formen und damit dem Fassungsvermögen des Gedächtnisses. Vergleichbar dem Ereignisdenken Heideggers bahnt Musik eine Spur ins Namenlose, eine Spur, die Feldman selbst aufgreift, wenn er davon spricht, „keine Sprache“ etablieren und „nichts einen Namen […] geben“ zu wollen.

 

Bspl. 5: Morton Feldman, String Quartet (II)

 

A           Frei von der Ich-Rhetorik der Affekte, ihrem Widerstreit und ihren Zuspitzungen, erinnert Feldmans transsubjektive Musik an Heideggers „Zeit-Spiel-Raum der Gelassenheit“. Ist doch auch dieser „Zeit-Spiel-Raum“ einer, dessen „verweilende Weite“ erst dem erfahrbar wird, der sich, so Heidegger,

B            „als Subjekt überwunden hat und […] das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt“. Denn „Gelassenheit ist in der Tat das Sichloslassen aus dem [Ich-Entwurf des] transzendentalen Vorstellen[s] und so ein Absehen vom Wollen des Horizonts“.

A           Und wie sich Heidegger vom „transzendental-horizontalen Vorstellen“ der Metaphysik und ihrem frontalen, auf Fronten ausgerichteten Polarisierungs- und Objektdenken abkehrt, so entgrenzt sich auch Feldmans Musik zur Weile und Weite eines Zeit-Spiel-Raums, indem sie vom Willen zur effizient kalkulierten Form ablässt. Es ist dieser vom Souveränitätszwang des Subjekts befreite Duktus des Lassens und Zulassens, mit dem sich das Ereignis von Feldmans Musik ohne heroische Verfügungsgesten und jenseits falscher Idyllen dem musikalischen Satz vom Grund entzieht. Entrückt doch ein Komponieren, das sich nicht mehr vom Ertrag der Konstruktion her entwirft, die Musik über den Entzug des konstruktiven Grundes und damit über den Entzug des Formgedächtnisses ins abgründig Offene. „Das Offene des Ab-grunds“ freilich ist, wie Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie notiert, „nicht grundlos“.

B            „Abgrund ist nicht das Nein zu jedem Grund wie Grundlosigkeit, sondern das Ja zum Grund in seiner verborgenen Weite und Ferne“. Der „Zeit-Raum als Ab-grund“ ist zwar zugleich „Versagung des Grundes“. „Versagung aber ist nicht nichts, sondern eine ausgezeichnete ursprüngliche Art des Unerfüllt-, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung“.

A           Offenheit als abgründige Leere wird für Heidegger zum Möglichkeitsraum des Unverfügbaren, frei von jeder rational-rationellen Begründungstotalität, sofern „Ratio“ den Methoden des „vorstellenden Denkens“ gemäß zuinnerst auf „Rechnung“ und Berechnung basiert. Entsprechend wandelt sich auch Feldmans Musik vom belanglosen zum subversiven Spiel einer Fülle ohne Grund und „Warum“; zu einer dem rationalen Begriff nach unergründlichen Fülle, deren Momente sich nicht mehr nach metaphysischen Konditionen als Träger einer Idee verrechnen lassen. Feldmans späte Kompositionen verweisen auf keinen ihnen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Weder geht es in ihnen um den Phantomschmerz des dezentrierten Subjekts noch um den Sturz in metaphysische Sinnleeren, ohne dass Feldmans Musik jemals das „Rätsel“ der Kunst, ihren „Stoß ins Offene“ und „Ungeheure“ tilgen würde. Denn, so Heidegger im Ursprung des Kunstwerks:

B            „Je reiner [das Kunstwerk] alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, dass solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen. Aber dieses vielfältige Stoßen hat nichts Gewaltsames; denn je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus. Dieser Verrückung folgen, heißt: die gewohnte Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten“.

 

Bspl. 6: Morton Feldman, Palais de Mari

 

A           Heidegger und Feldman verabschieden sich vom anthropozentrischen Spiegel. Denken und Musik umkreisen ein Unverfügbares - nennen wir es ruhig das Unverfügbare des „Seins“ -, das nicht mehr durch Herrschafts- und Verfügungskategorien umstandslos auf den Menschen zurückzurechnen ist. So ist Feldmans Musik bereits auf Seiten des Komponisten eine Musik des Hörens, die den Tönen zu- und nachhört, um, so Feldman,

B            „nicht zu >komponieren<, sondern Klänge - frei von jeder kompositorischen Rhetorik - in die Zeit zu projizieren“ und Stücke zu schreiben, die „Dingen“ gleichen, die „sich aus sich heraus entwickeln“.

A           Gerade weil sämtliche kausal orientierten Sinnmuster am akausalen Duktus der Musik abgleiten, verwandelt Feldmans Zeit-Spiel-Raum seine Bahnen und Bahnungen in eine Musik, die sich aus sich selbst heraus entfaltet. Wie der Zeit-Spiel-Raum Heideggers liegt auch derjenige Feldmans jenseits verordneter „kausaler Wirkungszusammenhänge“. In ihm irisieren Nähe und Ferne, weil es kein Zentrum gibt, von dem aus sich Nähe und Ferne bestimmen ließen. Indem Feldman, wie Cage es umschreibt,

B            „innerhalb weiter Grenzen die ersten [Klänge]“ nimmt, „die daherkommen“, verlagert er „die Verantwortung des Komponisten vom Machen aufs Akzeptieren“.

A           Durch diesen Akt des „Akzeptierens“ entzieht Feldman seiner Musik der Gelassenheit den Grund. Genauer: den Grund in Form einer Willensinstanz, die einer vorgeplanten Konstruktion zufolge über Zugelassenes und Ausgeschlossenes entscheidet. Zugleich schwindet mit dem Entzug dieses konstruktiven Grundes auch die Gründungs- und Begründungsmacht des Subjekts ins Grundlose, weil Unbegründbare. Auch seitens der Musik wird zur Gewissheit, dass das zum Absoluten stilisierte Subjekt den Grund seiner Weltpräsenz nicht mehr rein aus sich begründen kann. An der Unmöglichkeit, das Unberechenbare der Musik im Repertoire einer verbindlichen musikalischen Sprache verorten zu können, scheitern die Allmachtsfantasien, jederzeit Herr über das Wo und Wie, über das Wann und Warum zu sein. Was an Feldmans nicht mehr durch- und aushörbaren Kompositionen fasziniert, ist vielmehr das „Ereignis“ der Musik. Und zwar - wie in Heideggers spätem Vortrag Zeit und Sein - das Ereignis des „Es gibt Zeit“. So wird Feldmans Musik der Entschleunigung gegen die quantifizierende Vernichtung der Zeit zu einer Musik der Gabe: Gabe verstanden als jener Freiraum des Gewährens, der sich der Zeitökonomie des Tauschs und der Verrechnung entzieht.

Zeit jedoch verweist das Dasein auf Endlichkeit und damit auf jenes „Sein zum Tode“, dessen Bewusstsein für Heidegger den Unterschied zum „vulgären Zeitbegriff“ und zur „uneigentlichen Zeitlichkeit“ ausmacht. Mit dem Einlassen des Todes als einer existenzialen Bestimmung des Daseins aber ergibt sich eine weitere Parallele zwischen Heideggers Metaphysikkritik und der der Neuen Musik. Sind es nicht gerade ihre Kompositionen, die die Spur des Todes nicht mehr nur als ein gleichsam programmmusikalisches Sujet reflektieren, sondern Endlichkeit und Kontingenz in der Struktur selbst verankern? Sei es aufgrund von Lecks oder Leerstellen, die als Rauschen in den Werken aufbrechen, oder sei es aufgrund einer Überdeterminierung durch variable Formen oder hohe Kom-plexitätsdichten, die jedes prophetische Hören außer Kraft setzen: das heißt jedes im Gedächtniskontinuum subjektiver Innerlichkeit gesicherte Voraus- und Zurückhören und mit ihm die Illusion einer musikalisch gewährten Unsterblichkeit.

 

Bspl. 7: Tristan Murail, Mémoire / Erosion

 

A           Unter dem Zugriff der Kybernetik als einer Macht der allumfassenden Steuerung steht das Ereignis der Kunst für das Nicht-Steuerbare. Muss doch das Kunstwerk, so Heidegger in seinem Athener Vortrag über Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens,

B            „in das den Menschen nicht Verfügbare, in das Sich-verbergende zeigen, damit das Werk nicht nur sagt, was man schon weiß, kennt und treibt“. Das Werk muss also auf das verweisen, „was sich weder planen noch steuern, weder berechnen noch machen lässt“.

A           Und so wie zahlreiche Partituren der Neuen Musik ins Unwägbare weisen, so gilt es in den Zonen der Kunst generell, sich der logisch-kausalen Sinnarmatur als der theoretisch-praktischen Regulierungsmacht schlechthin zu entwöhnen, wenigstens in Ansätzen. Zu entwöhnen gilt es sich laut Heidegger aber auch jener Deutungswerte, die das Kunstwerk als ästhetischer, psychologischer oder soziologischer Firnis überziehen. Dass sich Heideggers Philosophie in solcher Strenge mit den antipsychologischen und antiästhetischen Facetten Neuer Musik trifft, liegt auf der Hand. Man denke nur an Cage, dem es auf „Kompositionen“ ankam,

B            „deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinnerung (Psychologie) und gleichermaßen frei von Literatur und den >Traditionen< der Künste“.

 

Bspl. 8: John Cage, Atlas Eclipticalis

 

A           Heideggers Versuch, die Logik der Metaphysik im „Wirbel eines ursprünglicheren Fragens“ aufzulösen, hört immer auch - wie das Ohr der Neuen Musik - das Unhörbare im Hörbaren und das Schweigen als Grund der Sprache mit. Ergibt sich deshalb nicht auch von Heideggers „Sigetik“ als einer Kunst des Schweigens und „Erschweigens“ her eine Brücke zur Neuen Musik? Trotz Heideggers Präferenz der Sprache als dem „Haus des Seins“? Ist somit nicht gerade die Neue Musik aufgrund ihrer Ferne zum Bild- und Abbildhaften, zur verbalen Logik und zum Narzissmus des Erlebnisses ein adäquates Medium für das, was Heidegger als „Ereignis“ denkt? Zumal doch „Ereignis“ und „Seyn“ „nie unmittelbar [zu] sagen“ und zu vergegenständlichen sind, schon gar nicht im syntaktischen Gefüge von Grund- und Aussagesätzen?

Ungeklärt bleibt für Heidegger allerdings, ob der Kunst im Zeitalter des „technisch organisierten Menschen“

B            noch die „höchste Möglichkeit ihres Wesens inmitten der äußersten Gefahr gewährt ist“. „Wird Kunst mit der Metaphysik [nicht] hinfällig? Verbirgt sich hinter der Beunruhigung durch die gegenstandslose Kunst vielleicht eine noch viel tiefere Erschütterung? Das Ende der Kunst? Die Ankunft von etwas, wofür wir keinen Titel haben?“

A           Doch selbst wenn die Kunst der Gegenwart Heideggers Befürchtung zufolge immer mehr zu einem „gesteuert-steuernden Instrument[.] der Information“ werden sollte: Vorerst bleibt ihr - hin und wieder zumindest - die Kraft, die Schranken des Selbstverständlichen zu durchbrechen und auf das hin zu sensibilisieren, was nicht in der „öffentlichen Ausgelegtheit des Man“ aufgeht.

Uns aber, „ausgeworfen aus dem Garten der Natur“ wie in Hölderlins Hyperion, stünde es an, auf der Hut zu sein. Auf der Hut vor unserem Zynismus gegenüber den Zu- und Anmutungen in Heideggers Gedanken über „Sein“ und „Gelassenheit“. Begreifen wir also die Opfer, die uns eine Ratio aufbürdet, die sich umso geistiger dünkt, je rationeller und technischer sie über die äußere und innere Natur triumphiert. Vielleicht werden wir dann vorsichtiger, unsere Selbst- und Weltentfremdung zum Maß zu nehmen, sobald wir an Heideggers Denken die Geduld verlieren. Und vielleicht beginnen wir dann vom Ungeheuren und von der Gelassenheit der Neuen Musik und von Heideggers Denken des „Ereignisses“ her zu ahnen, wie sehr das Heroentum des Bezwingens und Akkumulierens die Welt und das Leben erst monströs und unmenschlich werden lässt.

Wie heißt es doch in Heideggers Brief Über den Humanismus unter Absage an jede nicht nur sprachliche Sinn-Effizienz:

B            „Doch das Sein - was ist das Sein? Es >ist< Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muß das künftige Denken lernen.“

 

Bspl. 9: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

                                                    

 

Musikbeispiele

Bspl.   1: Peter Ablinger, Voices and Piano (Martin Heidegger) [Tr. 10, 1´10 - 2´06]

    [Nicolas Hodges]   [KAIROS 0013082KAI]

Bspl.   2: Arnold Schönberg, Begleitmusik zu einer Lichtspielszene, op. 34 [Tr. 13, [Tr. 13, 3´02 - 5´33]

         [BBC Symphony Orchestra, Pierre Boulez]   [Sony SMK 48462]

Bspl.   3: Pierre Boulez, Structures pour deux pianos [Tr. 13, 0´00 - 2´41]

           [Pierre-Laurent Aimard, Florent Boffard]   [Deutsche Grammophon 445 833-2]

Bspl.   4: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00 - 2´27]

         [Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini][col legno 31862]

Bspl.   5: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 3´13 - 7´08]

       [Ives Ensemble]   [hat[now]ART 4-144]

Bspl.   6: Morton Feldman, Palais de Mari [Tr. 2, 0´00 - 2´56 ] 

 [Markus Hinterhäuser]   [col legno WWE 1 CD 20070]

Bspl.   7: Tristan Murail, Mémoire / Erosion [Tr. 1, 14´32 - 17´38´] 

[Ensemble L´Itinéraire, Charles Bruck]   [ACCORD 202122]

Bspl.   8: John Cage, Atlas Eclipticalis [Tr. 2, 0´00 - 3´04]

                 [The Orchestra of the S. E. M. Ensemble, Petr Kotik]  [Wergo 286 216-2 / WER 6216-2]

Bspl. 9: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [CD 2, Tr. 10, 9´40 - Tr. 11, 2´01]

[Elizabeth Keusch, Sarah Leonard, Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi, Mayumi Miyata, Salome Kammer , Staatsopernchor und Staatsorchester Stuttgart, Lothar Zagrosek]   [KAIROS 0012282KAI]

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