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Spuren,

  Schnitte,

    Schleifen

Das Tonband als Instrument

DeutschlandRadio Berlin (2003)

Bspl. 1: Samuel Beckett, Das letzte Band [1´10]

 

Krapp’s Last Tape: Becketts Einakter von 1958. Ein alter Mann spielt sich ein Stück Leben vor: alljährlich auf Band gesprochene Jahresrückblicke und Erinnerungen; etwa die an ein dubioses Erleuchtungserlebnis, konserviert vor 30 Jahren. Das Tonband: als akustisches Gedächtnis vermeintlich lebendige Gegenwart und doch nur ein Archiv toter Vergangenheit. Die Mechanik des Vor- und Zurückspulens: Suche und Sucht nach dem geglückten Augenblick und im Wahn, ihn dingfest machen zu können, eine regelrechte Parodie auf Prousts «mémoire involontaire». Technik als Surrogat. Ist das Tonband möglicherweise das zweckgerechte Instrument enttraditionalisierter Gesellschaften, die speichern, registrieren, mumifizieren müssen, je mehr die Zeugenschaft von Erzählung und Überlieferung schwindet und mit ihr das Erbe gelebter Erfahrung?

Speichern und Wiederholen: gängige Techniken des Tonbands. Und doch zeigt der Formenkreis der Wiederholung vielfältige Varianten, je nach dem Grad der Differenz in der Wiederholung; abgesehen davon, ob Wiederholung überhaupt möglich ist. Während die Wiederholung bei Samuel Beckett Züge einer Totenmaske annimmt, verwandelt Alvin Luciers Stück I am sitting in a room Wiederholung in eine Szene der Verwandlung, die weder im Muster der Kopie noch in dem der Variation aufgeht.

 

Bspl. 2: Alvin Lucier, I am sitting in a room [Tr. 1, 0´00–1´14]  [1´14]

 

«Ich sitze in einem Raum, verschieden von dem, in dem Sie sich gerade befinden. Ich nehme den Klang meiner sprechenden Stimme auf und spiele ihn in den Raum zurück, wieder und wieder, bis die Resonanzschwingungen des Raums sich selbst verstärken, so dass jede Ähnlichkeit mit meinem Sprechen, ausgenommen vielleicht der Rhythmus, zerstört wird. Was Sie dann hören werden, sind die natürlichen Resonanzschwingungen des Raums, artikuliert durch Sprache. Ich halte diese Aktivität weniger für die Vorführung eines physikalischen Sachverhalts als für einen Weg, sämtliche Unregelmäßigkeiten zu tilgen, die mein Sprechen haben mag.»

Es ist der Raum, der bei Lucier zum Akteur wird: Der Raum mit seinen je spezifisch architektonischen und akustischen Eigenschaften. Wenn der von Lucier gesprochene Text, von einem ersten Tonbandgerät aufgenommen, über Lautsprecher in den Raum zurückgespielt, auf ein zweites Tonbandgerät aufgenommen, erneut abgespielt, wieder aufgenommen wird und so fort, verstärken sich von Aufnahme zu Aufnahme die Resonanzeigenschaften des Raums: Bis die Sprache in Klang, in Musik übergeht. Ein Prozess mit fließenden Grenzen und Geschwindigkeiten und ein Prozess, der ohne Tonband nicht zu realisieren ist. Und wenn der Raum bei der Ausstrahlung des akustischen Signals allmählich alle Frequenzen der Sprache mit Ausnahme seiner Eigenfrequenzen ausfiltert, kann er womöglich, wie in Luciers Middletown-Aufnahme von 1980, schon nach 40 Minuten zu klingen beginnen. Denn, so Lucier, «jeder Raum hat eine Melodie, die so lange verborgen bleibt, bis sie zum Klingen gebracht wird».

 

Bspl. 3: Alvin Lucier, I am sitting in a room [Tr. 1, 43´30 (aufbl.) – 45´21]  [1´51]

 

Sprache – allgemein und doch persönlich zugleich aufgrund der Eigenheiten jeder einzelnen Sprechweise, bei Lucier etwa der des Stotterns. Text und Stimme – aufgrund ihrer Verwandlung in reinen Klang zugleich Medien einer spielerischen Verflüchtigung von Begriff und Identität. Verlieren sich mit der Klarheit von Stimme und Sprache allmählich die Merkmale personaler Unverwechselbarkeit und die Spuren der Gattung, dann löst sich diese Dekonturierung auch von einer Denkökonomie, die darauf trainiert ist, Wahrnehmungen eher auf den Begriff zu bringen als sich ihnen zu überlassen. Auf den Begriff bringen, vom Phänomen abstrahieren: Im Fall Luciers könnte das bedeuten, die für unnötig erachtete Verwandlungssequenz der Komposition auf ihren Anfang und auf ihr Ende und damit auf einen physikalischen Versuch zu reduzieren. So wie das Lucier denn auch als Vorschlag von einem Toningenieur zu hören bekam. Und was das Ideal der Speichermedien betrifft, das Ideal der unzerstörbar klaren Reproduktion der Daten: ihren Gesetzen nach wäre I am sitting in a room schlicht ein Desaster.

Klarheit, Genauigkeit und Beständigkeit sind Inbegriffe der Speichertechnik. Doch während Forschung und Industrie bei der Herstellung von Tonbandgeräten eine äußerst konstante Drehzahl und eine nahezu perfekte Synchronität zu erreichen suchen, macht die ästhetische Praxis im Umgang mit den Apparaten nicht selten gerade deren technische Irregularitäten produktiv, das Nicht-Perfekte, die Störung, den asymmetrischen Bruch. So basiert etwa Steve Reichs It’s gonna rain auf dem Faktum der Gleichlaufschwankung; darauf also, dass es keine zwei Tonbandmaschinen gibt, die absolut synchron laufen. Das Verfahren selbst ist so einfach wie verblüffend. Grundlage der Komposition ist eine jener ekstatischen Auslegungen der Bibel, hier der Erzählung von der Sintflut, wie wir sie aus Gospel-Meetings kennen.

 

Bspl. 4: Steve Reich, It’s gonna rain [Tr. 4, 0´00 – 0´13]  [0´13]

 

Reich lässt nun die Predigtworte «It’s gonna rain» in Form zweier exakt gleicher Bandschleifen auf zwei Bandgeräten abspielen. Mit dem Resultat, dass der Verlauf der Schleifen neben Synchron- und Echostrukturen immer wieder hochkomplexe Rhythmen zeitigt.

 

Bspl. 5: Steve Reich, It’s gonna rain [Tr. 4, 5´00 (aufbl.) – 7´47]  [2´47]

 

Das Faszinierende an Reichs It’s gonna rain liegt in der geradezu expressiven Intensität, mit der der mechanische Rapport wie in einem akustischen Kaleidoskop immer wieder in eine Fülle an Differenzen und Differenzierungen umschlägt. Wobei das Zusammenspiel der beiden Bandmaschinen zum Generator für unendlich feine Zwischenwerte wird. Zwischenwerte, die als nichtlineare, mikrostrukturelle Fluktuationen unvorhersehbare Wirkungen auf der Makroebene erzeugen, das heißt plötzlich wechselnde Energieniveaus der Interferenz.

 

Als Thomas Alva Edison 1877 das Liedchen «Mary had a little lamb» in einen Trichter sang und dabei die Ausschläge einer vom Schall zum Vibrieren gebrachten, an einer Membran befestigten Nadel aufzeichnete – auf einem mit Stanniol bespannten und von Hand gedrehten Metallzylinder –, revolutionierte er mehr als nur die Technik der Konservierung. Nicht nur, dass es von nun an möglich war, Schall zu archivieren und wiederzugeben. Edisons Erfindung setzt zudem eine Zeitmaschine in Gang. Wie sehr sich auch die Aufzeichnungs- und Wiedergabetechniken von Klängen und Geräuschen verfeinern sollten – vom Nadeltonverfahren über die magnetische Schallaufzeichnung bis hin zu digitalen Speicher- und Bearbeitungsmethoden: Erst mit seiner Konservierung war der Schall beweglich und manipulierbar geworden. Insbesondere durch das Magnettonverfahren. Erst jetzt konnten Klänge und Geräusche mit Schnitt- und Kombinationstechniken bearbeitet und transformiert werden. Und vor allem: sie konnten beschleunigt oder verlangsamt werden, ja sie konnten sogar – und das ist das Entscheidende – ihre Zeitrichtung ändern, vorwärts so gut wie rückwärts wiedergegeben werden. Nicht anders als die manipulierbaren Filmbilder.

Im Unterschied zum gerichteten Zeit- und Lesesinn des Buchs als Buch und fixes Medium stehen Phonograph und Kinematograph am Beginn einer neuen, anderen Art von Zeitmaschinen. Was dieser Wandel des Bewusstseins auch musikalisch bedeutet, wird klar, wenn man sich den absurden Gedanken erlaubt, Beethoven hätte beim Komponieren etwa seiner Neunten Symphonie deren Rückläufigkeit mitbedacht: nicht im Sinn krebsgängiger Kompositionsverfahren, sondern im Sinn ihrer generellen Umkehrung in der Zeit.

 

Bspl. 6: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie, 4. Satz [Tr. 5, 11´56 – 12´45 in Rückwärtswiedergabe]

Natürlich hängt die Resistenz von Beethovens Komposition gegen eine Umkehrung in der Zeit mit ihrem musikalischen Sprachcharakter zusammen, mit der davon bestimmten Relation zwischen Teil und Ganzem und mit dem Verständnis von Sinn und Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Umkehrung ist der Tod jeder Sprache: sie wird unverständlich, sinnlos. Darüber hinaus aber steht diese Resistenz in einem nicht weniger engen Zusammenhang mit dem damaligen Stand der technischen Produktivkräfte. Gravierend und doch nachvollziehbar ist deshalb der Abstand zu einer Musik, für die Sprache mittlerweile zum Klangsubstrat und Zeit zum modellierbaren Material geworden war. Weshalb sollte es noch Probleme mit reversiblen Verläufen geben? Karin Rehnqvists Komposition Davids Nimm jedenfalls setzt mit der Umkehrung eines schwedischen Volkslieds demonstrativ auf Rückläufigkeit und damit auf eine genuine Tonbandtechnik.

 

Bspl. 7: Karin Rehnqvist, Davids Nimm

 

Auch wenn zwischen einer Umkehrung der Zeit und einer Umkehrung in der Zeit zu unterscheiden ist: mit den Techniken von Film und Tonband wird vielleicht nachvollziehbarer, was Einstein für die physikalische Zeit zu bedenken gegeben hat: ob nämlich die «Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft» nicht doch «nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion» haben könnte. Hat der Richtungspfeil der Zeit, das Empfinden ihrer Unumkehrbarkeit, womöglich etwas mit Statistik zu tun, mit Wahrscheinlichkeit? Einfach, weil bislang noch keine Ausnahme vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik beobachtet wurde? Eine Ausnahme von jenem Satz also, der das Gleichbleiben oder die Zunahme der Unordnung in geschlossenen Systemen behauptet?

Wie auch immer. Damit der Gedanke der Rückläufigkeit überhaupt gedacht werden konnte und nicht als verrückt außerhalb des Bewusstseins blieb, mussten Erfahrung und Denken von Newtons Idee der «absoluten, wahren und mathematischen Zeit» Abschied nehmen. Abschied nehmen auch von den Autonomiekonzepten der Subjekttheorie bis hinein in den Gedanken von der Einheit und Beständigkeit des Ich mit all seinen semantischen Fallen. Und schließlich mussten Theorie und Praxis einander zuarbeiten, um mit der Speichermöglichkeit des Schalls seine räumlichen und zeitlichen Modulationen freisetzen zu können. Dass Karin Rehnqvist eine spezifische Technik des Tonbands problemlos auf Vokalstimmen übertragen kann, zeigt den Bewusstseinswandel nur umso deutlicher. Und das ganz im Sinne Cages. Sah Cage doch mit dem Tonband «eine grundlegende Veränderung des musikalischen Handelns herbeigeführt», «dessen Konsequenzen nicht ausschließlich auf Tonbandmusik beschränkt sind, sondern alle Musik betreffen werden, ganz gleich wie traditionell die Instrumentation auch ist».

Und so setzt auch Tristan Murails Mémoire / Erosion eine klassische Tonbandtechnik mit herkömmlichen Instrumenten um: Ein live gespielter Instrumentalton wird von einer ersten Bandmaschine aufgenommen und auf eine zweite übertragen, von dort auf die erste zurückgespielt, erneut mit instrumentalen Livetönen vermischt, wieder auf das zweite Gerät rückübertragen und so weiter, bis sich der Klang allmählich ins Geräuschhafte verliert. Dieses Imitations- und Kopierverfahren, bekannt als «reinjection loop», spielt Murail nun in der Interaktion zwischen einem Solo-Horn und neun Instrumentalisten durch, wobei das Ensemble die Funktion des Tonbands übernimmt.

 

Bspl. 8: Tristan Murail, Mémoire / Erosion [Tr. 1: 0´05–1´40 (ab 1´35 ausbl.]  [1´40]

 

Nach und nach verschwimmen nun die Konturen, der Klang verzerrt sich und verliert sich ins Geräuschhafte, bis mit dem Ende der Musik auch zugleich das imaginäre Tonbandgerät abgeschaltet wird.

 

Bspl. 9: Tristan Murail, Mémoire / Erosion [Tr. 1: 16´35 (aufbl.)–17´38]  [1´03]

 

Mémoire / Erosion – Gedächtnis und Erosion im Zeichen der Entropie, der Zunahme von Unordnung und Chaos als Ziel aller geschlossenen, sich selbst überlassenen Systeme. Auch hier sensibilisiert eine Technik des Tonbands über Momente der Störung und des Geräusches für jenes Rauschen, aus dem heraus Musik und Sprache erst Gestalt gewinnen. Ein Rauschen, das vom Ideal der Vernunft und der Reinheit des Tons allzu lange ausgeblendet wurde; vergleichbar dem «Weißen» bei Mallarmé oder der Stille bei Cage.

Dass das Tonband bei der Aufnahme nicht zwischen erwünschten und unerwünschten Klängen, zwischen Tönen und Geräuschen, fast möchte man sagen: zwischen Kunst und Leben sondert, macht es zum bahnbrechenden Medium, wenn es darum geht, das Geräusch von seiner anrüchigen Existenz im Herrschaftsbereich des reinen Tons zu emanzipieren. Damit setzt das Tonband eine radikale Veränderung der Klangvorstellung, des Komponierens und des Hörens in Gang, eine Demokratisierung der Klänge, von der Cage im Zusammenhang mit einer music for tape gesprochen hatte. «Free-ranging music», «freigelassene Musik» – eine Musik mit der Gleichberechtigung von Ton und Geräusch und eine Musik, die mit dem Verzicht auf stoffsublimierende Reinheitsfilter kompositorische Metaphysikkritik praktiziert: insofern nämlich, als Sinn und Idee vom Material nicht zu trennen sind.

 

Bspl. 10: John Cage, Williams Mix

 

Cages Williams Mix: Musik als Intensität einer Geschwindigkeit, die den Zeitsinn für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufhebt. Ein solches Geschwindigkeitsmodell ist erst mit dem Zeitgenerator Tonband zu realisieren. Mit der Folge, dass der rasende Transport der Schnitte weniger das Verhältnis von «Struktur und Erlebniszeit» modifiziert, als dass er mit tradierten Formen der Wahrnehmung überhaupt bricht. Die Idee von der Einheit des Selbstbewusstseins, Kants «Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können» oder die Zeitmodi «Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein» aus der Kritik der reinen Vernunft helfen bei dieser ständig differenten Heterogenität von Klängen und Geräuschen wenig weiter. Ebenso wenig die Vorstellung von der Kontinuität der Diskontinuität, die nach wie vor auf den Grund des Kontinuums setzt. Cages Musik ist eher eine, die durch den Relativierungsschock der Eigenzeiten hindurchgegangen ist und darin die Bedeutung von Zufall und Wahrscheinlichkeit erkannt hat. So wird das Tonband bei Cage zum anatomischen Instrument, zum Skalpell, dessen Schnitte das Kontinuum der affektiven Zeit zertrennen und pulverisieren. Und mit ihm jene kontemplative, gefühls- und ichfixierte «Versenkung», die Walter Benjamin vom Mittel der Montage her als eine «Schule» des «asozialen Verhaltens» kritisiert hat, weil sie unfähig sei, auf die Anforderungen und Schocks der modernen Welt angemessen zu reagieren.

Hatte nicht schon 1950 Pierre Schaeffer angesichts der Gedächtnis wie Erfahrung attackierenden Gewalt der Dinge gefragt, wie darauf musikalisch zu antworten sei? Wohl kaum, wie er meinte, ‹mit Violinen oder Oboen›. Und, so Schaeffer weiter, «welches Orchester könnte sich rühmen, jenen anderen Schrei auszugleichen, den unterdrückten Schrei des Menschen in seiner Einsamkeit? Verzichten wir also auf die Eigenart des Cellos, das zu träge ist für seine kollektive Angst. Schritte, Stimmen, alltägliche Geräusche mögen genügen (...) Schritte bedrängen ihn, Stimmen durchdringen ihn, Laute, die Liebe oder Krieg bedeuten, das Zischen der Bomben oder die Melodie eines Liedes». Wird aber in der industriell beschleunigten Massengesellschaft der frühen Musique concrète noch das vermeintlich Vertraute zum Fremden, werden Gefühle zu Versatzstücken, angedreht und wiederholbar, leer und ohne Antlitz – dann liegt ein adäquater Ausdruck dieser Entfremdung eben in rotierenden Bandschleifen und geschlossenen Rillen. Ihre maschinellen Wiederholungen lassen den subjektiven Zeitsinn leer laufen. Oft mit slapstickartiger Wirkung und doch im Innersten existenzialistisch gemeint: «Jeder ist der Andere und Keiner er selbst». Reflexe einer Mechanisierung des Lebens und Sartres Nausée, dem angstverstrickten Ekel an der Existenz, näher als Chaplins Modern Times.

 

Bspl. 11: Pierre Schaeffer / Pierre Henry, Symphonie pour un homme seul, Erotica

                     

Beschleunigung, Verlangsamung, Verzögerung und Umkehrung der Zeit in der Zeit – denn natürlich bewegen sich der historische und der thermodynamische Zeitpfeil weiter: all dies sind bekannte Transformationsverfahren des Tonbands. Es sind nicht minder gängige Schlüsseltechniken wie die des Kopierens, das in einer Welt brisant wird, der manche Theorien das Verschwinden von Geschichte und Realität prophezeien; ein zirkuläres Selbstläufertum von Dingen, Zeichen und Ereignissen, freigesetzt im «Hyperraum der Simulation», ortlos und ohne Konsequenzen, voneinander entkoppelt wie Original und Reproduktion.

Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung; die Kopie der Kopie der Kopie: Wie sich Musik unter Einsatz des Tonbands mit der Welt der Simulationen und Doubles auseinander setzen kann, zeigt Nicolaus A. Hubers Orchesterstück To «Marilyn Six Pack» von 1996. Ein Stück, das auf Warhols Siebdruckserie The Six Marilyns von 1962, dem Todesjahr Marilyn Monroes, Bezug nimmt. Huber interessieren an Warhol vor allem «die multifokale Bildkomposition, bei der mehrere gleichgewichtige, oft auch völlig identische Bilder zu einem Bild gehören» sowie «die Möglichkeiten struktureller Wiederholung, bei der, im Sinne dezentralen Komponierens, die Kategorien Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden». Aus diesem Grund entwirft Huber das Stück als ein Projekt aus drei Stück-Sphären. Das heißt 1. der live gespielten Partitur; 2. der Wiedergabe des aufgezeichneten Orchesterstücks über acht Filtereinstellungen unterschiedlicher Qualität; 3. der medial reproduzierten «zeitgefalteten Version» des Originals in Form gestückelter, übereinander geschichteter und zeitversetzter Tonbandschleifen. Den Aufführungsvarianten des Werks mit ihrem Wechsel zwischen der Live-, Filter- und Schleifenversion korrespondiert also eine mediale Technik der Überblendungen und Schichtungen. Multidimensional in der Überlagerung vereinter Schnitt- und Perspektivenwechsel, die eine komplexe Wahrnehmung verlangen. «Mehrfachdarstellung eines Gedankens» jenseits einer Unterscheidung nach Haupt- und Nebensachen.

 

Bspl. 12: Nicolaus A. Huber, To «Marilyn Six Pack» [CD 1, Tr. 2, 4´40 – 9´10]  [4´30]

 

Was ist in der Verschränkung von Live-Aufführung und medialer Wiedergabe Original, was Reproduktion? Was bedeutet in der Vernetzung simultan geschichteter Loops noch Gegenwart? Was Anwesenheit und Abwesenheit? Als Simulationsapparat wird das Tonband in Hubers Musik zum Instrument und zur Sonde von Spiegelungen und deren Wirkung im Bewusstsein der Hörer. Dabei umschreiben die Serien der Loops und Doubles mit ihren Faltungen, Dehnungen, Verschränkungen und Stauchungen der Zeit weniger eine Spur des Vergleichens. Sie erzeugen vielmehr eine Textur der Verdopplungen und Multiplikationen, in der das unentscheidbare Spiel von Wiederholung und Differenz Weitungen des Bewusstseins auslöst; entbunden vom Diktat eines einheitlichen Hörzentrums. Und ebenso wenig wie Warhols Serien einer Wiederholung der Wiederholung bloße Trugbilder sind, sondern facettenreiche Verschiebungen der Wirklichkeit, ebenso wenig ist auch Hubers To «Marilyn Six Pack» eine Musik, die die Präsenz des Körpers und die Geschichte des Bewusstseins und der Sinne im Hyperraum der Multimedialität verdunsten lassen will.

 

Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Geschichte der Musik von der Präsenz elektroakustischer und elektronischer Klangverwandler nicht mehr zu trennen. Und auch dabei spielt das Tonband, zumindest anfänglich, eine gewichtige Rolle: als Medium beim Gang ins Innere der Töne. Bei Stockhausen kann man nachlesen, welche Funktion dem Tonband bei der Zerlegung des Tons in seine kleinsten akustischen Elemente und bei der Komposition mit Sinustönen zukam. «Eine Sinusschwingung wird auf Tonband aufgenommen, eine zweite, dritte usw. wird hinzugefügt. Dabei erhält durch elektrische Regulierung jede Sinusschwingung ihren eigenen Intensitätsverlauf, dann wird der Intensitätsverlauf des ganzen Schwingungskomplexes (die ‹Hüllkurve›) nochmals geregelt. Die Klangdauer wird bestimmt, indem man das Tonband in Zentimeterlängen misst und schneidet – ausgehend von der Bandgeschwindigkeit. (...) So wird Klang für Klang zusammengefügt und archiviert. Wenn alle Klänge für eine Komposition auf Tonband vorbereitet sind, werden die Bandstücke der Partitur gemäß aneinandergeklebt und, wenn nötig, nochmals mit Hilfe mehrerer synchroner Magnetophone übereinanderkopiert.»

 

Bspl. 13: Karlheinz Stockhausen, Studie II [Tr. 3, 0´09 – 3´10]  [3´01]

 

Der Gang ins Innere der Töne: das Tonband als analytisches, äußerst fein geeichtes Instrument. Es ist gerade diese Eigenschaft, die das Tonband in ästhetischer Hinsicht zu einem Instrument seiner Zeit macht; zu einem Apparat, der das «Auffinden neuer Spuren» ermöglicht, gegen eine bloße Wiederholung der Oberfläche. Geist und Technik einer Epoche aber sind sich geheime oder offene Doppelgänger. Und wenn Jacques Derrida Texte der abendländischen Philosophie wie Schleifen auf der Bandmaschine der Sprache und der Sprachen so lange wiederholt, mit Echos, Verzögerungen und Schnitten versetzt, bis sie unerkannte Kontexte erkennen lassen, bis der historische Firnis der überkommenen Lesarten rissig wird und die Sprache durch die Vielstimmigkeit ihrer Begriffe wie unter ihren eigenen Rückkopplungen sich verlangsamt oder geräuschhaft wird, dann zeigt sich die Nähe zwischen Denkstrukturen und technischen Verfahren hier nur einmal mehr.

Vielleicht liegt die kompositorische Tragweite des Tonbands in seiner akustischen Lupenfunktion. Gleichsam in der Funktion eines empfindlichen Ohrs, das sonst kaum mehr wahrgenommene Nuancen hört und hören lässt und damit Ritardandomomente gegen die Übereilungen des technisch-industriellen Fortschritts setzt, schnelligkeitstrainierte Funktions- und Wahrnehmungsmuster irritiert und der übermächtigen Gegenwart von Kurzzeitgedächtnis und elektronischer Zeitüberlistung neue Eigenzeiten aufmoduliert. Und wenn die Verstörung überalteter Sinn-Normen eine Verstörung von Macht-Normen bedeutet, spricht alles dafür, vor Hör-Klischees nicht Halt zu machen.

Hören wir also am Ende dem Instrument Tonband bei einer Musik des Rauschens zu, einer Musik des Rauschens von Bäumen, und versuchen wir dabei, die unermüdliche Begriffs- und Urteilsarbeit der Sinnstiftungsagentur Mensch für einen Augenblick zum Schweigen zu bringen.

 

Bspl. 14: Peter Ablinger, Weiß/Weißlich [Tr.1 – 7, 0´00 – 4´35]  [4´35]

 

 

Musikbeispiele

Bspl.   1: Samuel Beckett, Das letzte Band   (DEUTSCHE GRAMMOPHON 431 062-2)                

 

Bspl.   2: Alvin Lucier, I am sitting in a room   (Lovely Music LCD 1013)                                                        

 

Bspl.   3: Alvin Lucier, I am sitting in a room   (Lovely Music LCD 1013)                                                        

 

Bspl.   4: Steve Reich, It’s gonna rain   (ELEKTRA/NONESUCH 979 169-2)                                               

 

Bspl.   5: Steve Reich, It’s gonna rain   (ELEKTRA/NONESUCH 979 169-2)                                               

 

Bspl.    6: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie   (EMI 5 60094 2)                                                      

 

Bspl.   7: Karin Rehnqvist, Davids Nimm   (LC 09632 Frau Musica 001)                                                       

 

Bspl.   8: Tristan Murail, Mémoire / Erosion   (ACCORD 202122)                                                                  

 

Bspl.   9: Tristan Murail, Mémoire / Erosion   (ACCORD 202122)                                                      

 

Bspl. 10: John Cage, Williams Mix  (wergo 6247-2)                                                                                        

 

Bspl. 11: Pierre Schaeffer/Pierre Henry, Symphonie pour un homme seul   (Musidisc 292572)       

 

Bspl. 12: Nicolaus A. Huber, To «Marilyn Six Pack»   (col legno WWE 20008)                                 

 

Bspl. 13: Karlheinz Stockhausen, Studie II   (Stockhausen Verlag 2001)                                                       

 

Bspl. 14: Peter Ablinger, Weiß/Weißlich    (Maria de Alvear World Edition 0008)                               

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