top of page

                    Orlando di Lasso – Mozart 

                                               

 

                     

                      Sprachen und Masken

(SWR 2002)

 Vom Wilden und Krummen und von der großen Schwermut

​»Bis Sonntag wird Feiertag sein und die Scheißkomödie zieht sich in München hin über die Zeit, in der Spaß mit der Dummheit der verrückten Einwohner getrieben wird. Horatio Brevis studiert und lernt auf der Viola kratzen; ich würde eher ein hübsches kleines Mädchen fiedeln. Wenn der Garten von Euer Gnaden grün wird, so wird meiner auch nicht grau eben – ich möchte nicht als Kapuziner leben. Dass der Reichstag in Augsburg stattfinden soll, gefällt mir toll. Habt Ihr standhaft scharmützelt mit Geschick, dann war es auch ein schöner Fick. Ist es weit von hier bis Milano - weiter ist es noch von jetzt bis in mille anno. Regnets heut wie aus einem Fass, wird wer unbedeckt platschnass. Die sechste Stund ists noch nicht einmal - wenns war wär, wär es auch egal. Euer Gnaden würden mich gern im Städtchen Lanzfud sehen, und ich möchte nicht sterben, ohne Euer Gnaden unmönchisch in München getroffen, gesehen, betrachtet, umarmt und geküsst zu haben.«

Erinnert dieser Brief, den Orlando di Lasso 1575 an Herzog Wilhelm V., seinen Gönner und Brotherrn, schrieb, nicht auffällig an eine andere Korrespondenz der Musikgeschichte, an diejenige Mozarts nämlich? Angefangen vom prüderiefrei ungetrübten Sinn fürs Sinnliche und Sexuelle bis hinein in die Organisation der Sprachstruktur selbst? In Form eines Reimverfahrens, das im silbisch vertrauten Anklang blitzartig und unerwartet ebenso launische wie sinnbedrohende Assoziationsbereiche aufreißt? Bei Mozart jedenfalls hört sich das zweihundert Jahre später so an:

»Allerliebstes Bäsle Häsle! Ich habe dero mir so werthes Schreiben richtig erhalten stalten, und daraus ersehen drehen, daß der Herr Vetter Retter, die Frau Bas Has, und sie wie recht wohl auf sind, Kind; wir sind auch Gott Lob und Dank recht gesund Hund. ich habe heute den Brief schief von meinem Papa haha, auch richtig in meine Klauen bekommen strommen. Ich hoffe Sie werden auch meinen Brief Trief, welchen ich ihnen aus Mannheim geschrieben erhalten haben, schaben. (...) jetzt wünsch ich eine gute Nacht, scheissen sie ins Bett daß es kracht; schlafens gesund, reckens den Arsch zum Mund; (...) Nun muß ich schließen und das thut mich verdrießen.«

Und doch finden sich in den Briefen beider Komponisten auch Stellen mit folgender Diktion:

»Ich bin gern fröhlich, heiter, und verrückt, einmal im Jahr, das doch nur zwölf Monate dauert, damit die große Schwermut mir nicht in den Kopf steigt.«

So Lasso im Juli 1576. Und Mozart? Er schreibt 1790 an seine Frau Konstanze:

»Wenn die leute in mein herz sehen könnten, so müsste ich mich fast schämen. – es ist alles kalt für mich – eiskalt – Ja, wenn du bey mir wärest, da würde ich vielleicht an dem artigen betragen der leute gegen mich mehr vergnügen finden, – so ist es aber leer«.

Lasso und Mozart: nach außen hin zur Pose gezwungen, zum gesellschaftlichen Rollenspiel, zu dem also, was Lasso einmal charakterisiert als das

»im Schweiße seines Angesichts den Springer und Gaukler (...) spielen«?

Im Innern jedoch, hinter der Narren- und Konventionsmaske, grüblerisch und depressiv? Und was sagt die Musik beider Komponisten? Lassen sich ihr die emotionalen Extreme gleichfalls anhören?

 

Bspl. 1: Lasso, Lucia, celu (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 9) (1´17)

            Mozart, Freundin! Ich komm´ mit der Zither (Peter Schreier, Hermann Prey, Walter Berry, Convivium Musicum

            München, Erich Keller) (Tr. 1) (1´19)

 

Ausgelassenes, Derbes, Spielerisches also auch in beider Musik. Und wie steht es mit den dunklen Affekten?

 

Bspl. 2: Lasso, Le tems peult bien (Laute solo) (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 14) (1´26)

            Mozart, Adagio h-Moll KV 540 (Alfred Brendel) (Tr. 4) (1´27)

 

Bleibt nur die Frage, ob es sich bei dieser Affektpolarisierung in Lassos und Mozarts Musik auch um physiognomische Charaktere ihrer Autoren handelt oder eher um gattungs- und werkspezifisch eingesetzte Affekt- und Stimmungsmuster.

Dass es jedenfalls um mehr geht als um Zoten und Noten, macht ein Brief Lassos vom 23. Januar 1576 deutlich. In ihm meditiert der Komponist über das Wesen menschlicher Existenz:

»Meister Diogenes schwatzt in Gleichnissen über die großen Dinge, die es auf Erden gibt: dass ihm, wenn er Geist, Fleiß und Wert des Menschen bedenke und bewundernd betrachte, der Mensch als das bedeutendste Tier oder das größte Lebewesen, will sagen: das weiseste, das sich in Gottes Schöpfung findet, vorkommt. Aber wende das Blatt und betrachte und beobachte sorgfältig seine Vorhaben, die mit so mannigfachen Gedanken verknüpft sind: jetzt heiter, jetzt sanft, jetzt jäh, jetzt traurig, jetzt voll von Verstellung und jetzt doppelzüngig; jetzt lachend, jetzt weinend, jetzt kackend, jetzt essend – so dass es nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Daraus will der Philosoph schließen, dass es auf der Welt nichts Verrückteres gibt als den Menschen – aber auch nichts Weiseres; von mir rede ich nicht«.

Könnten diese Zeilen nicht auch bei Lassos Zeitgenossen Michel de Montaigne stehen? Vor allem was den Gedanken von der unsteten Reihung menschlicher Affekte und Zustände anbelangt? Affekte und Zustände, alle gleichwertig, alle gleich gültig, weil von keinem naturdistanziert sich aufspreizenden Geist und Geistesdünkel von oben herab gewertet und hierarchisiert? Wird nicht auch für Montaigne das Flüssige und Wechselhafte des Individuums zum einzig Verlässlichen und der »Zufall« zum Regulativ der Existenz?

»Ich habe keinen anderen Feldwebel, um meine Stücke in Reih und Glied zu stellen, als den Zufall. (...) Überdies schwanke ich und verwirre mich selber, weil ich so unsicher auf meinen Füßen stehe; und wer sich nur recht beobachtet, wird sich kaum zweimal in der gleichen Verfassung finden. (...) Alle Widersprüche finden sich in mir, je nach Gesichtswinkel und Umständen«, heißt es in Montaignes Essais. Bei Montaigne wie bei Lasso löst sich die Idee der Konsistenz im Rapport der Einfälle, Eindrücke und Situationen in die unstillbare Bewegung von Übergängen auf. Im Spiel der unterschiedlichen Empfindungen zeigt sich der Sonde der Selbsterkundung das Unbeständige als Gesetz. Im Perspektivenwechsel des ruhelosen Geistes das Vergängliche, an den Augenblick Gebundene als alleinige fragile Sicherheit. Wahrheit wird zur Chimäre.

Sicher: auch wenn sich Welt und Dinge in wandelhafter Flüchtigkeit dem Ich entziehen und nur fragmentarisch erfahrbar sind; auch wenn das Ich von sich »nichts Ganzes, Einheitliches und Festes ohne Verworrenheit (...) auszusagen« vermag: in der Meisterschaft von Philosophieren und Komponieren ist stets auch das Selbstbewusstsein des Subjekts der Spätrenaissance zu spüren. Darin also, dass Montaigne den Zufall virtuos als Stilisierungsmittel der Selbsterkenntnis einsetzen und Lasso die gleitende Logik der Musik dem Ausdruck der Affekte dienstbar machen kann.

Machen wir dennoch im Namen von Montaignes rhapsodischer Verfasstheit des menschlichen Geistes und seiner Perspektivenwechsel das Motiv der Parataxe zum Leitgedanken dieser Sendung. Das Motiv somit von der bei- und nebenordnenden Reihung gleichberechtigter Elemente, die sich schwer verträgt mit einer Wertung nach Haupt- und Nebensachen und mit all den ziel- und systemfixierten Strecken der Entwicklung und des Ergebnisses, wie sie für die Hypotaxe charakteristisch sind. Der Geist der Parataxe aber ist es, der Lasso und Mozart zu Wahlverwandten macht – gegen die herrschende hypotaktische Tradition des abendländischen Denkens. Gegen die Tradition einer auf Über- und Unterordnung von Behauptungen, Folgerungen und Schlüssen basierenden Art der kausalen Verkettung, die für sich das Sinnmonopol reklamiert; gebunden an ein hierarchisches Sprachgefüge aus Haupt- und Nebensätzen.

Lasso und Mozart: zwei frühe und herausragende Protagonisten der Parataxe mit ihrer Offenheit für Zufälliges, Beiläufiges, Mittelpunktsloses, für Streuung und Konstellation. Genau diese Offenheit aber war es, die die Philosophie zumal des deutschen Idealismus dazu brachte, Parataxe und Wahnsinn in einen engen Zusammenhang zu setzen. Und wäre man im Zeichen der hypotaktischen Tradition genügend abergläubisch, könnte man Orlando di Lasso selbst für ein Musterbeispiel dieses Zusammenhangs halten. Berichtet doch Lassos Ehefrau Regina, dass der Komponist im Alter unter »fandasey« litt, unter Wahnvorstellungen, unter parataktischer Gedankenflucht. Dann konnte er nicht mehr schlafen und die »Melancholei« überkam ihn.

 

Bspl. 3: Lasso, Prophetiae Sibyllarum (Hilliard Ensemble) (Tr. 10) (1´35)

 

Der Prolog zu Lassos Prophetiae Sibyllarum. Eine für die Zeit um 1550 ungewöhnliche Musik. Ein Gleiten der Klänge im Satz Note gegen Note, frei von verwickelter polyphoner Arbeit. Konzentriert auf chromatische Rückungen und schwebende Klangflächen. Klangflächen, die parataktisch und wie alogisch gegen die kompositorische Logik gesetzt wirken, auch wenn die klanglichen Überraschungseffekte immer wieder dem harmonischen Regelkodex eingebunden werden. Die verstärkte Verwendung von Halbtonschritten ist dabei das entscheidende Mittel, um die Rückungen, Entrückungen und Verrückungen in rätselhafte Klangregionen zum Klingen zu bringen; modulatorisch flexibel und angemessen der prophetischen Ekstase sibyllinischer Weissagung.

Bereits zu Beginn des Prologs der Prophetiae Sibyllarum weitet Lasso die Musik auf einen exotisch neuen Klangbezirk aus: anlässlich der Worte »Carmina Chromatico«, »Lieder aus fremdem Bezirk«. Steht »carmina« noch im traditionellen C-dur-, G-dur-Klangbereich, komponiert Lasso auf »Chromatico« unvermittelt eine Entrückung nach H-dur: plötzliches Aufblitzen einer unbekannten und doch so verlockenden Sphäre. Ein irreguläres, inkalkulables Aufsprengen der kompositorischen Folgelogik als Augenblick einer verzauberten Ordnung.

 

Bspl. 4: Lasso, Prophetiae Sibyllarum (Tr. 10) (1´35)

 

Und so wie Lasso in den Prophetiae Sibyllarum weite Affekt- und Reflexionshorizonte assoziiert, so weiten und entregeln auch seine Briefe die hypotaktische Bedeutungs- und Urteilsmacht der Sprache. Dass Lassos Briefe überdies oft mehrsprachig abgefasst sind, steigert ihre Sprachvirtuosität zusätzlich, macht sie zum Teil unübersetzbar. Zumal was die Libertinage der Worte im Verstoß gegen die Gebote der Sprachökonomie angeht. Eine Libertinage, die nicht nur den Inhalt, sondern die Sprachstruktur selbst sexualisiert. Worte beginnen sich im Satzbett in regelwidriger Promiskuität zu begatten: unbekümmert um syntaktische Verwandtschafts- und Legalitätsverhältnisse.

»Wie dumm wärest du eigentlich, Orlando, wenn du den denkbaren Gedanken denkst, dein guter Herr und Gebieter Wilhelm denkt, wenn dich solches Denken dünkt, es wird dir belohnt werden? Aber wo sind meine Gedanken hingeraten zu denken, was ich denke – das Denken lohnt den Aufwand nicht. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt, so denken jedenfalls die Engländer – ich meine den Hosenbandorden. (...) Aus München, den 18. Mai, ein Tag buntfarbig wie ein Papagei, vor dem Abendessen, nach dem man spazieren gehen soll.«

Hier geht es nicht mehr nur um die Lust der Verwandlung, um die Maskerade von Wortspielen. Hier wird Sprache fast schon zerkaut, bis ihre Sinnfasern sich aufzulösen beginnen. Von den Rändern des Sinns her wird der konventionelle Kode der Sprachzeichen überdehnt. Grammatische Gewohnheiten und Gewöhnungen fransen zur Irrfahrt einer Sprache aus, die im Aufbrechen der logischen Folge für Momente kollabiert. Wo ist Innen, wo ist Außen? Sprache, umgestülpt wie ein Handschuh, um mit Shakespeare zu reden. Nicht anders treffen Mozarts Abweichungs- und Assoziationstechniken den Organismus der Sprache: Sinndetonationen der besonderen Art.

»Ich kan gescheut nichts heuts schreiben, denn ich heis völlig aus den biel. der hapa üble es mir nicht Müssen Paben, ich so halt einmahl heut bin, ich helf mir nicht können.«

Und doch emanzipiert das syntaktisch entregelte Spiel, das den Körper der Sprache aus seinen syntaktischen Gelenken dreht, zu einer neuen Freiheit des Ausdrucks. Satzbastionen und Wortgitter werden gesprengt, die silbische Semantik aus ihrem Gleichgewicht gebracht. So zeigt sich in Lassos und Mozarts Briefen eine andere Art Logik, eine des assoziativen Gleitens, die insofern etwas mit Musik zu tun hat, als Musik sich ihrerseits von der Funktionslogik löst, ohne unwahr zu werden. Eine Verflüssigung der Sprache durch die Entlastung vom argumentativen Sinnzwang.

Der Reiz von Lassos und Mozarts Briefen liegt vor allem darin, dass der kommunikative Gebrauchswert der Sprache zwar verunsichert, aber nicht vollends aufgekündigt wird. Dadurch decken Lassos und Mozarts verbale coups das Unverständliche im Verständlichen der Sprache auf. Sie lassen das Verabredete sprachlicher Konvention erfahrbar werden, indem sie das funktionale »Als ob« der kommunikativen Konvention zur Erscheinung bringen. Was ist Sinn, wenn mit dem syntaktischen Regelwerk das Ökonomiegesetz der Sprache aus den Angeln gehoben wird und der Sprachfluss die Dämme der Logik überschwemmt? Wenn mit dem Schein sprachlicher Konsistenz der Absolutheitsanspruch der Sprache in Frage gestellt wird, Welt zu repräsentieren? Und schließlich: Was ist Sinn, wenn am Grund der Sprache nichts als das Rauschen von Silben erahnbar wird?

»dreck!-dreck!-o dreck! - o süsses wort! - dreck!-schmeck! - auch schön! - dreck, schmeck!-dreck!-leck - o charmante! - dreck, leck! - das freuet mich! -dreck, schmeck und leck! - schmeck dreck, und leck dreck!-«.

Die Silbe gegen ihren Bedeutungswert als Lautwert, als Ton zum Klingen zu bringen – darum geht es in dieser Briefstelle Mozarts. Silben als eine Art klanglicher Hefe, die den Teig der Sprache aufquellen lassen, bis das Moralregime des Sinns sich aufzulösen beginnt; bis im Vakuum der Bedeutung das Gravitationsfeld der Logik zusammenbricht, das die Urteilsinstanz der Sprache funktionieren lässt; bis Sprache auf ihren Abgrund hin durchlässig wird: auf ihr Rauschen, auf ihre Musik. Vergleichbar der Lust am Parlando sinnlos leerer Silbenketten in Orlando di Lassos Neapolitaner Villanesken:

Bspl. 5: Lasso, Lucia, celu (Tr. 9) (1´09)

 

Was schrieb doch Lasso über die menschliche Existenz?

»Betrachte und beobachte sorgfältig (die) Vorhaben (des Menschen), die mit so mannigfachen Gedanken verknüpft sind: jetzt heiter, jetzt sanft, jetzt jäh, jetzt traurig, jetzt voll von Verstellung und jetzt doppelzüngig; jetzt lachend, jetzt weinend, jetzt kackend, jetzt essend – so dass es nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.«

Eine Revue der Affekte und Aktivitäten: gleichrangig und wie zufällig nebeneinander gesetzt. In ähnlicher Weise treiben Mozarts Briefe unbekümmert um die Fallhöhe Hohes und Niederes ineinander, mischen derbe Komödie und Opera seria, den Fäkalwitz und die Pathosformel des »o ihr götter!«.

»Ach Mein arsch brennt mich wie feuer! was muß das nicht bedeuten! - - vielleicht will dreck heraus? - ja ja, dreck, ich kenne dich, sehe dich, und schmecke dich - - und - - was ist das? - - ists möglich! - - ihr götter! - - Mein ohr, betrügst du mich nicht? - - Nein, es ist schon so - - welch langer, trauriger ton!«

Lasso und Mozart lassen in ihren Briefen im bunten Schwarm der Motive eine Zwanglosigkeit des Vielen zu, die die Identität in der verschwenderisch losen Folge von Gedanken und Einfällen liquide hält. Eine Kontinuität zweiter Ordnung, in Gang gesetzt von einer Reihung gleichrangiger Elemente, die dem Zufall weit näher steht als die hierarchisch organisierte Hypotaxe. Und wie sich das Rhapsodische der Verwandlungen in den Wort- und Satzgirlanden der Briefe findet, so zeigt sich das reihende Aufbrechen eines herrischen Formganzen auch in der Musik.

 

Bspl. 6: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale

            (Daniel Barenboim, English Chamber Orchestra) (Tr. 9)(1´05)

 

Das Finale von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 415 mit seiner Vielfalt an Episoden und Affekten gibt einen Eindruck von Mozarts spielerischer, burladorhafter Meisterschaft. Die Kunst der Variation und der Geist der Surprisen ist darin – nicht anders wie in Mozarts Briefen – Ausdruck einer luxuriösen Kombinatorik, äußerster Gegensatz einer zentralistisch gesteuerten Totalität. Die Gedanken am langen Zügel laufen lassen, um sie doch immer wieder blitzartig mit anderen zu kreuzen oder alternieren zu lassen: dieses organisatorische Laisser-faire steigert die rasche Revue der Charaktere fast zum Capriccio, wäre da nicht die planvoll gewaltlose Konstruktion, die den komplexen Bau des Satzes untergründig steuert. Konstruktion als Konfiguration, als Fest der Parataxe: adäquater Ausdruck des menschlichen Gemüts, dieses wunderlichen Chamäleons der Stimmungen und Seelenlagen.

 

Bspl. 7: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Tr. 9) (3´37)

 

Und doch ist das nur ein Aspekt dieses Finales. Mozart komprimiert hier nämlich neben einer Summe komplexer Affektmischungen buffoneske und melancholische Stimmungskontraste in harter Fügung, indem er abrupt und ohne jede Vorwarnung das spielerische 6/8-Allegro und seine papagenohaften Sechsachtelmotive durch zwei Adagio-Einschübe im 2/4-Takt und in c-Moll unterbricht. Ein scharfer, erschütternder Umschlag der Stimmung.

 

Bspl. 8: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Tr. 9) (1´38)

 

Zwei kontrastierende Affekte. Womöglich auch zwei kontrastierende Schreibweisen?

»Sie sehen also daß ich schreiben kann, wie ich will, schön und wild, grad und krumm. Neulich war ich übels Humors, da schrieb ich schön, gerade und ernsthaft; heute bin ich gut aufgereimt, da schreib ich wild, krumm und lustig«.

So Mozart in einem Brief vom 3. Dezember 1777.

Natürlich gibt es historisch bedingte Unterschiede in den parataktischen Modellen Lassos und Mozarts. Anders als in ihren Briefen zeigt sich die Differenz im kompositorischen Bereich weit deutlicher. Während Lasso dem Gattungsprimat der Spätrenaissance zufolge die Ausdrucks- und Stimmungsressorts nach Werkgattungen und Einzelwerken differenziert, treibt Mozart den Umschlag der Affekte bis in einzelne Themen hinein. Bei Lasso ergeben sich kontrastierende Grundaffekte also primär aus der Gegenüberstellung von Einzelwerken, etwa aus der Gegenüberstellung der beiden Chansons Fuyons tous d´amour le jeu und Un triste cœur. Erregtheit und Leidenschaft in der ersten Chanson, Trauer und Melancholie in der zweiten.

 

Bspl. 9: Lasso, Fuyons tous d´amour le jeu (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 7) (0´28)

 

Bspl. 10: Lasso, Un triste cœur (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 8) (2´24)

 

Gleichwohl findet sich auch bei Lasso das Helldunkel der Stimmung auf engstem Raum, innerhalb ein und desselben Werks also. Allerdings nicht in Form subjektexpressiver Stimmungsgegensätze, sondern in Form einer objektivierten Reflexion zur Spannung von Ich und Weltlauf. Verbunden mit der bei Lasso immer noch dominanten horizontalen Stimmbewegung, der eine Psychogrammatik der Affekte, wie sie die funktionsharmonische Tonalität entwickelt hat, fremd ist. Eine solche Konfrontation von Ich und Weltlauf findet sich in Lassos fünfstimmigem Madrigal Al dolce suon von 1569 auf einen Text Antonio Minturnos.

Al dolce suon´ del mormorar del´ onde,     
Al nov´ odor de le fiorite piaggie      
A l´arene del´ oro ai ricchi scogli       
Al bel cantar delle sirene al porto,     
Delle fatiche miei mi scors´ un lume  
Ch´ in fin qua giù m´ardea dal terzo cielo.

Beim süßen Klang der murmelnden Wellen,         
im neuen Duft der blühenden Gestade,      
im goldenen Sand bei den mächtigen Felsen,       
beim schönen Gesang der Sirenen am Hafen       
führt mich ein Licht aus meiner Mühsal,     
das mir endlich hier unten leuchtet vom dritten Himmel.

Das Madrigal entfaltet zu Beginn eine antikisierende Naturszene: mit einer auratischen Auffächerung des Klangs in weich gleitenden Sekundschritten und einer bildhaften Begriffsdeutung durch die Musik. Ihren ersten Zielpunkt erreicht die Komposition bei den Worten »al porto«: »am Hafen«. Einen Zielpunkt, der wie ein Aus- und Aufatmen zugleich wirkt, verstärkt noch durch die spätere Stelle »delle fatiche miei«, die von der Last und Mühsal des Lebens spricht. Lasso kontrastiert hier mit einer kleinteiligen, imitatorisch zerfaserten und rascheren Bewegung der Stimmen das Aufreibende, Ermüdende, In-sich-Kreisende des Weltlaufs der Idylle des Anfangs mit ihrer eher ruhig geführten, homophonen Klangarchitektur. Und wie um den Unterschied zu den arkadischen Eingangszeilen noch zu verstärken, wiederholt sich die zerstückte Polyphonie erneut bei den Worten »Ch´ in fin qua giù«: »endlich hier unten«. Eine Faktur, die selbst noch den zweiten Zielpunkt des Madrigals, den himmlisch utopischen Fluchtpunkt des »cielo« zu überwuchern droht. Dass aber Lasso das »al porto« wie ein sehnsüchtiges Verlangen nach Ruhe und Heimkehr, nach dem Enthobensein vom irdischen Getriebe komponiert, ohne dass das Gedicht diese Deutung vorgeben würde, wird zur melancholischen Spur der Musik.

 

Bspl. 11: Lasso, Al dolce suon (Alsfelder Vokalensemble, Wolfgang Helbich) (Tr. 1) (3´02)

 

Erzeugt also das Flüchtige, sich Wandelnde, Instabile der parataktischen Weltsicht neben dem Spielerischen, Heiteren, Ironischen, Diesseitigen nicht doch fast zwangsläufig den Formenkreis der Melancholie? Melancholie aufgrund des Ungewissen, Flüchtigen, Vergänglichen der Bilder, Gedanken und Dinge? Entscheidender ist wohl, dass der Parataxe gewisse überzeitlich ideelle Sinninstanzen nicht zu Gebote stehen. Die Sinninstanzen einer absoluten Wahrheit und Moral etwa, die die Einsicht ins tragikomische Spiel der Welt mildern könnten.

Auch bei Mozart zeigt sich die Sensibilität für das Flüssige von Ich und Charakter, für das Rapide und Diskontinuierliche der Bewusstseins- und Seelenzustände auf eine Weise, die das ›Pathos nicht mit den Mitteln des Ethos reden lassen‹ will. Mozarts ästhetischer Eros löst Vernunft affektiv in einen Verstand auf, der sich zu einer Folge von Eindrücken und Vorstellungen entbindet. Zu einer Reihe von Eindrücken, die dem Philosophen Hume zufolge »einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind«.

Oder, um mit Diderot zu sprechen: »Ich hatte im Verlauf eines Tages hundert verschiedene Gesichter, je nachdem womit ich mich befasste. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert«.

Womit wir wieder bei Orlando di Lasso und seiner Revue des menschlichen Daseins wären:

»Jetzt heiter, jetzt sanft, jetzt jäh, jetzt traurig, jetzt voll von Verstellung und jetzt doppelzüngig; jetzt lachend, jetzt weinend, jetzt kackend, jetzt essend – so dass es nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.«

Lasso und Mozart: Parataktiker beide. Verweigerer einer Ankunft im Prinzi­piellen. Sind sie deshalb auch Melancholiker? Nimmt das Menschlich-Allzu­menschliche in Lassos und Mozarts Fahrten durch den Aufruhr der Affekte und in die Nacht des Geistes nicht oft genug den Glanz epikureischer Hei­terkeit an? Gewiss. Und doch ist es der Glanz eines Heiteren, von dem es bei Goethe heißt: »Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön«.

 

Bspl. 12: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Tr. 9) (2´44)

              Lasso, Al dolce suon (Tr. 1) (3´02)

Versuche es später erneut.
Sobald neue Beiträge veröffentlicht wurden, erscheinen diese hier.
bottom of page