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Roland Schmenner

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Die Pastorale

Beethoven, das Gewitter und der Blitzableiter

Bärenreiter 1998

Ein neues Beethovenbuch ist erschienen, genauer: eines zu Beethovens Pastorale. Was die "Erfindung des Blitzableiters, die neue körperliche Zeit­erfahrung durch Straßenbau und Schnellpostkutschen und die Freizeitwelt des Landschaftsgartens" mit Beethovens Sechster Symphonie zu tun haben, stellt Roland Schmenner in einem bei Bärenreiter erschienenen Band zur Diskussion. In einem Band, der zugleich ein neues Beethoven-Verständnis dokumentiert. Während die traditionelle Beethoven-Forschung unermüdlich den Bestand musikalischer Verlaufsanalysen anreichert, geben zunehmend auch Deutungen den Ton an, deren philosophisch und soziologisch geweiteter Ansatz die Auszehrung des akademischen Puritanismus nur um so nachhaltiger entlarvt. Deutungen mit einer Weitung des Horizonts, wie ihn etwa das 1993 veröffentlichte Beethovenfragment Adornos entwirft.

       Dieser Tendenz ist auch Schmenner verpflichtet. Seine Auseinander­setzung mit einem der populärsten Werke der Musikliteratur analysiert Beethovens Pastorale als einen Brennpunkt im Naturverständnis ihrer Zeit. Das heißt einem Naturverständnis, in dem Natur auf Geschichte hin durchlässig wird und Geschichte sich in Metaphern der Natur bricht. Daß bei diesem Unternehmen Namen wie Kant, Goethe oder Schiller und deren Natur- und Gesellschaftsverständnis zu Leitmotiven werden, liegt auf der Hand. Wenn Schmenner zudem die Kunsttheorie eines Eulogius Schneider einbezieht, die Beethoven in Bonn kennengelernt haben könnte, greift er damit eine bekannte, bislang aber immer noch zu wenig beachtete Facette der intellektuellen Erfahrung Beethovens auf. Vor allem verdeutlicht er dadurch das Netz direkter wie indirekter Einflußnahmen etwa auf dem Gebiet der Ästhetik des Erhabenen, der Beethovens musikalisches Denken maßgeblich verpflichtet ist.

       Sicher wurde in der Pastorale schon von Beginn an eine Erfahrung der Natur mitgehört, deren kulturell gebundene Triebdynamik vom Widerhall des politischen Geschehens und von einer Meteorologie der Affekte nicht zu trennen ist. Was heißen soll, daß Beethoven in der "Gewitter"-, "Sturm"- und "Hirtengesang"-Szene der Sechsten Symphonie ein mehrschichtiges Prisma komponiert. Ein Prisma, das Naturgeschehen, Affektpsychologie, Revolutionserfahrung und individuelle wie gesellschaftliche Erneuerung wechselseitig bricht und steigert. In Szene gesetzt als ein ethisches Läuterungsunternehmen großen Stils und immer noch getragen von der Hoffnung auf eine Vernunft der menschlichen Gattung, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln können.

       Es dürfte inzwischen allgemein bekannt sein, wie sehr im Zug der frühindustriellen Entwicklung und einer bürgerlich gesteigerten Subjektemphase das Modell der Arbeit für Beethovens Musik an Bedeutung gewann. In einer Weise, daß das Aussetzen der kompositorischen Durcharbeitung und Vermittlungsarbeit den Ausdruck des Naturhaften und Sakralen an­nahm: aufgrund der Nähe zu jenen meditativen, weil der Arbeit enthobenen Sphären von Religion und Natur, die zahlreiche poetische und theoretische Texte um 1800 nicht oft genug als heilende Kräfte wider das mechanische Leben beschwören konnten. Auch ist es wohl kein Geheimnis mehr, daß Beethovens Sechste Symphonie diese betont utopische Rhetorik im Idyll der "Szene am Bach" oder als Verschränkung von Natur- und Choral-Idiom in der "Hirtengesang"-Szene ihres Schlußsatzes auskomponiert.

       Soweit stützt sich Schmenners Untersuchung auf geläufige Erkennt­nisse und Erfahrungen der Beethoven-Rezeption. Aufschlußreich ist jedoch, wie der Autor diese ästhetischen Befunde im Material, dem historischen wie dem musikalischen, präzisiert. Mehr noch: wie er bekannte Thesen differenziert, revidiert und eben damit zu neuen Einsichten transformiert. Was Schmenner im Rekurs auf die Pastorale zum Gegensatz von Stadt und Land, zum Phänomen der Beschleunigung im frühen 19. Jahrhundert, zum Utopie-Topos "Schweiz" und dessen Bezug zu Beethovens Komposition oder generell zur bürgerlichen Rezeption von Natur beibringt, läßt außerdem die übliche Art soziologischer Bebilderung hinter sich. Zum einen dadurch, daß die materialen Befunde auf ihren ideellen Hintergrund hin durchlässig werden. Beispielsweise in einem Kapitel, das den Formenkreis der Apokalypse als Bindeglied zwischen Religion und Politik behandelt. Zum anderen dadurch, daß bei aller geschichtlichen und ideengeschichtlichen Dokumentation die Musik nicht zu kurz kommt. Was etwa zur Problematik der Paarbildung von Pastorale und Fünfter Symphonie gesagt wird, zu ihrer schon fast klischeehaften Arbeitsteilung im bürgerlichen Seelenhaushalt, zur Verschiedenheit ihrer Zeitbegriffe und deren Funktion in einem Konzept der Moderne, ist instruktiv zu lesen. Vor allem, weil argumentativ entfaltet wird, was bisher eher im Bereich intuitiver Mutmaßung lag.

       Dies gilt ebenso für Schmenners Anatomie des Gewittersatzes der Pa­storale. Ihn macht der Autor als komponierten "Lärm" aus, um dessen Zu­mutung in die Zerrüttungsfigur einer "Leere des Ichs" und eines "Entgleitens der Sinne" hineinzutreiben. An solchen Stellen wird der idealistische Traditionsschutt vorurteilslos beiseite geräumt. Vor allem werden solche Chaos-Partien Beethovens mit der wachsenden Entzauberung des Humanitätsideals nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution in Zusammenhang gebracht. Konnte Geschichte bislang im Modell einer heilsgeschichtlichen Zeit versöhnt werden, so zerreißt diese Versöhnung im Aufbrechen des Triebgrunds von Geschichte und Subjektivität. Sie zerreißt ebenso im Aufsprengen der säkularen Dreieinigkeit von Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit durch ein unberechenbares Schicksal wie in der Trübung des hellen Ich durch ein übermächtiges Es. Schmenner macht plausibel, wie sehr dieser Triebgrund bereits im Gewittersatz der Pastorale rumort, und sucht zu sondieren, was denn der Terror der Gewitterszene mit der Terreur der Französischen Revolution, der Akkumulation des technisch-militärischen Gewaltpotentials und dem Humanitätsbegriff des deutschen Idealismus zu tun hat. Soweit einige Facetten des Buchs.

       In einem Punkt macht es sich Schmenner allerdings etwas zu leicht. In seiner Behauptung nämlich vom Unzeitgemäßen, Veralteten, Überholten der Musik Beethovens. Der Schlußsatz des Buches: "Beethovens Musik erschüttert heute keinen Menschen mehr, sie läßt allenfalls noch Baukräne am Berliner Potsdamer Platz tanzen", ist unter Anspielung auf ein Konzert mit Beethovens Neunter Symphonie zur Grundsteinlegung der Berliner Mercedes-Benz-Niederlassung nur unter Vorbehalt richtig. Sicher trifft zu, wie vom Autor behauptet, daß wir "prinzipiell der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet bleiben, auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung die vormals gültigen Prinzipien jedoch verlassen haben". Im gesperrt gedruckten Bekenntnis jedoch: "wir sind über Beethoven hinaus", verdrängt die soziologische Argumentation die ästhetische Analytik. Natürlich steht der Zeitkern Beethovens außer Frage. Kein Zweifel auch, daß in einer Reliquien- und Gedenkkultur der philharmonische Beethoven-Diskurs zumeist zum Anpassungstraining verkommt; zur Festigung des Status quo im Ritual der Gewohnheit und der Gewöhnung. Trotzdem behält auch hier eine Variante aus Adornos Hegelstudien ihr Korrektiv. Das Korrektiv, was denn die Gegenwart vor Beethoven bedeute. Nicht als ob die Gewalt in Beethovens Symphonik zu vertuschen wäre; ihre eroberungshaften Züge, ihr bürgerlicher Durchdringungseifer im Pakt von Ich und Arbeit. Und doch ist in Beethovens Musik noch etwas mehr komponiert als ihr unerbittlicher Formimperativ, ihr ethisches Sinndiktat oder ihre ökonomischen Kontrollprozeduren. Etwas, das schlicht als transsubjektiver Impuls zu charakterisieren ist. Oder, pathetischer ausgedrückt, als der Impuls eben jener Erschütterung, die Schmenner in Zweifel zieht. Ein Impuls, der gegen die Psychopathologie der Gesellschaft den Panzer des Ego und das Monopol der kleinlichen Gefühle immer noch für Augenblicke zu durchschlagen vermag. Trotz des Makels des Bildungsprivilegs können das Sensorium der Massengesellschaft und ihr Unterhaltungsdelirium kein Maßstab ästhetischer Relevanz sein. Zumal die eskalierende Technisierung und elektronische Vernetzung im Mißverhältnis zu einem beileibe nicht nur ästhetisch zurückgebliebenen Bewußtsein steht; zugeschnitten auf eine Gesellschaft, die in ihrer Verdinglichungsmacht, ihrem Konkretismus und ihrer Besitzvereisung zwar ständig nach neuester Technik verlangt, ihren ökonomischen, politischen und äs­thetischen Möglichkeiten nach aber unerträglich vergreist bleibt.

       Gleichwohl: Schmenners Studie ist ein interessanter Beitrag zur Ge­schichte der Naturästhetik. Und unter diesem Aspekt hält das Buch, was es verspricht: ein Buch zu sein für "kultur- und musikgeschichtlich interessierte Leser, die Näheres über den allgemeinen Wandel des Naturverständnisses und über Beethovens künstlerischen Umgang mit Alltagserfahrungen wissen möchten".

 

 

                                                                             Johannes Bauer

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