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Vom Sirius aus

Karlheinz Stockhausen
 

Ein Monolog

 

 

Ist sie noch haltbar, die Spaltung zwischen dem überragenden Komponisten und Theoretiker der 50er-Jahre und dem in ästhetische Fragwürdigkeit abgleitenden Privatmystiker Stockhausen? Finden sich Ruf und Formel, traumhafte Intuition und religiöse Metapher nicht schon in seinen frühen, epochemachenden Werken und Texten? Besteht womöglich eine untergründige Beziehung zwischen der Planungsmacht serieller Strukturprinzipien und der kosmischen Schöpfungsattitüde eines Musikers, der sich zunehmend als Medium göttlicher Schwingungen empfand? Und wie verhält es sich mit der Spannung zwischen esoterischer Spiritualität und musikalischer Qualität? Fragen über Fragen also. Man darf gespannt sein, was der nunmehr um Lichtjahre entrückte Siriusbewohner Stockhausen darauf antworten wird.

Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik, 2008

Endlich wieder zurück. Endlich wieder auf dem Sirius. Endlich wieder auf dem heimatli­chen Stern. Seit acht Monaten schon. Aber was kümmern hier noch irdische Zeitmaße, jetzt, im Zustand steter Transfiguration, der alten Erde um Lichtjahre entrückt. Dieses all­mähliche Abstreifen des alten Körpers, diese Vergeistigung! Selbst meine Stimme läutert und moduliert sich täglich zu feineren Timbres, längst schon entschlackt vom vertrauten rheinischen Idiom.

Und doch: dieser verhaltene Empfang bei meiner Rückkehr, enttäuschend fast, um nicht zu sagen befremdlich. Dazu die Ankündigung eines Einbürgerungsexamens vor dem siriani­schen Komitee für musikalische Angelegenheiten. Ist das wirklich noch der Ort meiner Lehrjahre? Ist das wirklich noch der Sirius, dessen „Bewohnern [...] Musik [als] die höchste Form aller Schwingungen“ gilt? Als vor einigen Tagen - oder was sich hier Tage nennt - die Rede auf mein eigenes Sirius-Opus kam, fiel sogar - aber ich muss mich wohl verhört haben - das Wort von einer Art elektronisch aufbereitetem Musikantentum.

 

Bspl. 1: Stockhausen, Sirius

 

Musikantentum! Wer urteilt hier? Was sind das für Ohren? Dazu all die Fragen in Rück­schau auf meine Erdenexistenz. Wenigstens blieb mir bis jetzt die unselige Spaltung jener terrestrischen Kritiker erspart, die nicht scharf genug zwischen dem überragenden Kompo­nisten und Theoretiker der 50er-Jahre und dem in ästhetische Fragwürdigkeit abgleitenden Privatmystiker Stockhausen trennen konnten. Als würden sich Ruf und Formel, traumhafte Intuition und religiöse Metapher nicht schon in meinen frühen, epochemachenden Werken und Texten finden.

Hat man denn nicht erkannt, wie prägend von Anfang an gerade die ekstatische Energie des Rufs für mich war, verstärkt vielleicht noch durch die sporadische Lektüre von Hei­deggers Sein und Zeit während meines Kölner Philosophiestudiums? Der Ruf, dieser knappe, fordernde Modus der Rede am Rand der Sprache; diese unerbittliche Vokalinstanz für jeden Berufenen, der den Ruf zu vernehmen weiß, um selbst zu einem Rufer, zu einem Künder zu werden: Zieht sich denn dieses Motiv nicht durch mein ganzes Werk? Von den Invokationen im Gesang der Jünglinge über das Ausrufen der Götternamen in der 1968 komponierten Stimmung bis hin zum Michaels-Ruf aus dem Licht-Zyklus? Nicht zu ver­gessen meine eigene Verkündigung in den Hymnen. Und habe ich nicht schon im Kom­mentar zu meinen Gruppen davon gesprochen - ungewöhnlich genug -, dass die drei Or­chester einander „zurufen“? Ganz zu schweigen vom zentralen Gestus der Anrufung in Inori. Ruf und Gebet, das sind die Fundamente meiner Musik durch all ihre „Litaneien“, „Prozessionen“, „Kommunionen“, „Hymnen“, „Mantras“ und „Licht“-Spektakel hindurch.

 

Bspl. 2: Stockhausen, Stimmung

 

Der Ruf aber kulminiert im Auftrag. Schon 1952 überlegte ich deshalb, meine Komposi­tion Spiel für Orchester mit dem Titel Auftrag zu überschreiben. Ruf und Auftrag: in der Kunst haben sie wie ein Blitz zu zünden. Neue Musik muss ein neues Bewusstsein erzeu­gen. Sie muss, um mit Heidegger zu sprechen, aus der Verfallenheit ans „Man“ ins „Eigent­liche“ reißen, sonst bleibt sie belanglos. Dass Musik Dynamit wird, zu einem At­tentat auf das Gewohnte und Gewöhnliche, zu einer Art Wiedergeburt: nichts anderes wollte ich auch 2001 zum Ausdruck bringen, damals in Hamburg, in meinen landauf, landab skandalisierten Äußerungen zum 11. September.

Auf das „Wachwerden“ kommt es an, auf den „Sprung aus der Sicherheit“ in einen Zustand, in dem zunächst einmal alle Orientierungen enteignet werden: durch eine Musik des Blitzes.

 

Bspl. 3: Stockhausen, Gruppen

 

Gruppen für drei Orchester - einer der Höhepunkte „seriellen Denkens“. Eine Musik der radikalen Immanenz, deren unerbittliche Eigengesetzlichkeit jedes Einfühlungsverlangen ins Leere laufen lässt; in ihrer Unberechenbarkeit, ihrer Ereignishaftigkeit wahrlich ein komponierter Blitz. Gleichwohl bin ich es müde, mich nunmehr auch noch von den Siria­nern fragen zu lassen, ob ich denn den Anspruch der Gruppen in meinem späteren Œuvre eingelöst hätte. Lästig auch die ständigen Verweise, wie bahnbrechend, wie grundlegend doch meine frühen Aufsätze gewesen seien. Sicher: Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit in unterschiedliche „Eigenzeiten“ auflöst; dass die Quantenmecha­nik auf Daten verwiesen ist, die eine strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Verständnis von Prozessen erlaubt, die vormals dem blinden Zufall zugeschlagen wurden: solche Umwertungen seitens der Neuen Naturwissenschaft mussten ihre Parallelen in der zeitgenössischen Musik finden. Deshalb spielen in den Kompositio­nen meiner Aufbruchsjahre die Qualitäten von „Eigenzeit“, von „statistischer Zeitwahr­nehmung“, von „Feldgrößen“ und „Quantelung“ eine so große Rolle. Dennoch ist die Nähe der Musik zur Naturwissenschaft nur ein Aspekt. Wo bleibt das, was darüber hinausgeht?

„Serielles Denken“, zumal in seiner elektronischen Realisierung, ließ mich erkennen und ließ die Musik durch mich erkennen, wie alles mit allem verbunden ist. Der Zauber der Zahl als Ordnungs- und Organisationspotenz ist ebenso alt wie unbestreitbar, ebenso ratio­nal wie mythisch. Wobei ich den Ausdruck „mythisch“ durchaus positiv gebrauche. Wel­che tektonischen Raffinessen ließen sich nicht schon in meiner zweiten Elektronischen Studie mit der Zahl Fünf erzeugen. Darüber hinaus offenbart sich dem „seriellen Denken“ die Einheit bislang getrennter musikalischer Wahrnehmungskategorien. Rhythmus, Ton­höhe und Klangfarbe etwa: lediglich verschiedene Erscheinungsformen der Zahl, der in der Zeit sich entfaltenden Zahl und ihrer Proportionen.

 

Bspl. 4: Stockhausen, Kontakte

 

Serielle Musik basiert auf der komplexen Verschränkung von Zeit und Zahl. Und auf dem Faszinosum einer Steuerung, die die „Großform und alle Detailformen“ aus einer „einzigen Proportionsreihe abzuleiten“ erlaubt - bis hin zum kompositorischen Mega-Diskurs als Spreizung und Stauchung einer „supramentalen Einheits- und Superformel“. Nicht nur die Physik hat ihren Einstein. Natürlich ließen die Beckmesser nicht lang auf sich warten, die zwischen der seriellen Planungsmacht und meiner astralen Schöpfungsmusik zwanghaft Verbindungen ziehen wollten. Als kultiviere meine Arbeit die Herrschaftsgesten universa­ler Handhabbarkeit, gleichsam einen gottähnlichen Zentralismus, dem alles zum Rohstoff wird. Dazu noch einen permanenten Kurzschluss zwischen archaischen Projektionen und neuester Technik, zwischen Esoterik und Naturwissenschaft, zwischen Ritual und Tabelle. Der Synthesizer als Instrument technischer Intermodulation und als Instrument ideologi­scher Klitterung.

Man scheint vergessen zu haben, was es heißt, ein Künstler, ein Künder zu sein. Schließ­lich hat mich das „serielle Denken“ in den Rang eines musikalischen „Creator mundi“ er­hoben. Das „serielle Denken“, das alles integrieren kann, war mein Weg zur „Weltmusik“: ein Denken, das auf unerreichbare Weise zwischen dem Mikro- und Makrokosmos der Töne, zwischen ihren Einzelparametern und der Großform vermittelt. Keine Dualismen mehr, sondern ein durch kontinuierliche Übergänge geeinter, hierarchieloser Organismus. Alles ist Ordnung, Unordnung lediglich ein Minimum an Ordnung. Und wenn Formatio­nen höchster Planung chaotisch wirken, dann nur, weil ihre Dichte unseren kausal be­schränkten Verstand überfordert.

Bspl. 5: Stockhausen, Klavierstück X

 

Für den tiefer Wissenden, für den Seher und Visionär ist alles planvoll göttlich geordnet. Und diese meine Ordnung sollte purer Synkretismus sein, wie mir selbst die Sirianer vor­halten? Ein Synkretismus aus religiösen, pseudoreligiösen, mystischen, astrologischen und halbwissenschaftlichen Versatzstücken, dominiert von der Symbolmagie heiliger Kardinal­zahlen, der Vier, der Sieben, der Zwölf? Einer Symbolmagie, die Himmelsrichtungen, Jah­reszeiten, Elemente, Geschlechter, Wochentage und den Tierkreis samt seinen Charakter­typen in einen ewigen Reigen schlingt, in dem selbst die überzählige Dreizehn ein notwen­diger Teil ist: Luzifer. - Als würde es um Macht gehen, wenn ein Medium göttliche Schwingungen empfängt. Begreift doch, dass meine Musik euch „schnelle Flugschiffe zum Göttlichen“ bereitstellt. Ihr müsst sie nur hören diese Raumklänge, diese Beschleuni­gungswirbel, diese ungeheuren Raffungen und kosmischen Pulse, die die Musik zu einer un­geahnten Zeitmaschine werden lassen – quer durch alle Universen.

 

Bspl. 6: Stockhausen, Cosmic Pulses

 

Vermutlich kommen solche Klänge für die meisten noch zu früh. Wer indes glaubt, dass das alte Handwerk in meiner Hand weniger fordernd, weniger transzendierend wäre, hat sich getäuscht. Wenn ich den „sausenden Webstuhl der Zeit“ anhalte, den Webstuhl, der der Musik die Textur der Schöpfung einwebt, dann transformiert sich dieser Moment in einen Augenblick des Unerhörten. Ein Zeitfenster der Stille, der Leere wird aufgestoßen, schockhaft, damit wir endlich wach und sensibel werden für die Entgrenzung zu neuen Sphären.

 

Bspl. 7: Stockhausen, Trans

 

Von Beginn an stand mein Komponistenleben unter dem Zeichen des „Trans“, wie mein Orchesterstück aus dem Jahr 1971 geradezu leitmotivisch heißt. Das „Trans“ in seiner Fülle des „Darüberhinaus“ und der Überwindung der Verstandesschranken war von jeher meine Profession. Und mit ihm das Transformieren, Transponieren, Transzendieren, ich könnte auch sagen: das Modulieren, Generieren, Synthesieren. Dass ich freilich dieses Modulieren, Generieren und Synthesieren mit Modulatoren, Generatoren und Synthesizern umsetzen konnte, war ein Geschenk der Vorsehung. Die Technik hat auf mich gewartet wie ich auf die Technik. War nicht eine meiner Inkarnationen die von Ovid, dem Dichter der Metamorphosen? Ovid und Stockhausen: eine frühe Existenz und zugleich eine Wie­dergeburt in der Gegenwart, eine Wiedergeburt mit effektiveren Mitteln. Ein Ovid der Elektronik und des „seriellen Denkens“ zu sein, der alles verflüssigen und alles mit allem vereinen kann, das ist eine meiner Berufungen. Man muss in mir den Proteus erkennen, der mit den Hebammenmitteln moderner Technik uralte Geheimnisse ans Licht bringt. Setzt meine elektronische Musik nicht ungeahnte Verschmelzungsprozesse in Gang, indem sie „immer näher an die Kunst der Metamorphose in der Natur herankomm[t]“? Indem ihr Verwandlungszauber die Konvention starrer Separierungen auflöst? Ob Menschen oder Vögel - sie alle sind Entäußerungen des einen Naturgrunds.

 

Bspl. 8: Stockhausen, Hymnen

 

Das Ohr an den Resonanzkörper der Welt legen, um ihre Stimmen aufzufangen, um zu hö­ren, dass alles belebt ist und spricht! Vorausgesetzt man besitzt jene spirituelle Fähigkeit, für die es kein totes Substrat gibt.

 

Bspl. 9: Stockhausen, Mikrofonie I

 

Die Energie des „Trans“ also. Und das Bündnis zwischen „Trans“ und Trance. Intuition, Inspiration, höhere Eingebung, was läge näher? Werke zu Teilen oder zur Gänze träumen, wie eben nicht zufällig mein Orchesterstück Trans oder das Helikopter-Quartett. „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ - nichts als die Häme von Unwissenden. Müßig, ihnen das Überschreiten im großen Transit nahebringen zu wollen oder das Trans des Transhu­manen und damit die Unabhängigkeit der Ars electronica von der Natur nicht nur der In­terpreten. Endlich nicht mehr an die Obergrenze einer 12-maligen Fingerbewegung pro Sekunde gebunden sein, die die rhythmischen Maße vorgibt. Den Körper als das Non plus ultra der Musik hinter sich lassen: welch eine prophetisch-utopische Spur vom Umbau des Menschen und seiner Entmaterialisierung!

 

Wenn nur die Transfigurationsphase hier auf dem Sirius nicht so kräftezehrend wäre, die­ser Zustand zwischen Zeitleere und Zeitdichte. Während mir die Reminiszenzen an die Erde immer mehr entgleiten, ist zugleich noch so viel irdischer Tagesrest in mir. Noch einmal die konservierte und doch allzu vergängliche Erdenstimme hören, um im Erinnern mit meiner Erdenfunktion als Mundstück, als Medium, als Bote, als Übersetzer, als „Ra­dioapparat“ abschließen zu können.

 

Bspl. 10: Stockhausen, Litanei

 

Ein Medium zu sein: das war das Zentrum meines Erdendaseins. Aber geht das nicht noch deutlicher? Mit dem Klang, mit den Worten meiner alten Vox terrena?

 

Bspl. 11: O-Ton Stockhausen, Litanei

„Ich habe es seit vielen Jahren unzählige Male         
gesagt und manchmal geschrieben: Dass       
ich nicht MEINE Musik mache, sondern       
die Schwingungen übertrage, die ich auffange;         
dass ich wie ein Übersetzer funktioniere,      
ein Radioapparat bin. Wenn ich richtig,        
in der richtigen Verfassung komponierte,      
existierte ich SELBST nicht mehr.“

 

Kein Wunder, dass bei einer solchen Entselbstung der Verstand für mich immer nur ein Vehikel zu Höherem war, ein Mittel zur Erkenntnis der Idee und einer die Idee überstei­genden Mystik „auf Gott zu“, „der die gesamte Intelligenz aller Intelligenzen ist: Das Licht der Welt“. Dieses Licht als das ewig Wahre aber ist rein und klar zu schauen und entäußert sich durch seine Schwingungen ins Hörbare, mehr noch ins Bildhaft-Konkrete, wie mein Licht-Zyklus zur Genüge zeigt.

Über den beschränkten Verstand hinaus alles miteinander verbinden, darum geht es, sobald erkannt ist, wie Mikro- und Makrokosmos aufs Innigste miteinander kommunizieren. Des­halb wurde mir die Formel, gar das Konzentrat der „Superformel“, in der alles beschlossen ist, zu einem Form erzeugenden Generator und zur Garantie eines perfekten Ineinander des Kleinsten und des Größten. Sich eine Welt formen, sich eine Welt formeln: beides läuft auf dasselbe hinaus. Ein monotheistisches Prinzip, eine somit doch wieder hierarchische Ab­leitung von oben her? Meinetwegen!

Dass sich allerdings auch auf dem Sirius so viele Vorbehalte gegen die Konzeption meines Licht-Zyklus als eine der Typisierung, der Normierung, der schematischen Vereinfachung richten? Ich jedenfalls spreche lieber von Vermenschlichung, davon also, die reine Lehre des „Seriellen“ als Botschaft zu etablieren. 1952 wurde diese Reinheit noch, wie ich an Nono schrieb, von der Überzeugung getragen, „dass wirklich eine Idee, eine totale Vor­stellung alle Materialdimensionen notwendig auswählt“, wonach der „Schreibende nur noch die Funktion des Ausführens, des Dienens hat und vollkommen [...] unpersönlich [...], unmenschlich“ wird, „so, wie seine Musik immer unmenschlicher, immer reiner“.

 

Bspl. 12: Stockhausen, Klavierstück IV

 

Wie also konnte ich die entspiritualisierten und in ihre egomanen Lebensbelange ver­strickten Erdbewohner an den überzeitlichen Kräften und Gesetzen teilhaben lassen? Doch nur, indem meine Musik fasslicher, menschlicher wurde. Die Gruppen für drei Orchester sind Musik, aber keine Botschaft. Zum Undank musste ich mir anhören, meine als mysti­scher Kitsch verkannten Visionen zumal des Licht-Zyklus würden die Musik mit diktatori­schem Sinnzwang im Dienst ihres Künders und seines Sendungsbewusstseins strangulieren und selbst noch in ihren vielschichtigen Partien entwerten. Die Musik entfremde sich ihrer Eigengesetzlichkeit, abhängig vom Tribut ans Szenische; das „serielle Denken“ verküm­mere zur Konvention von Repetitionen, Tremolos, Glissandi, markanten Rhythmen und melodiösen Tendenzen am Gängelband einer Superformel, die unentwegt gestanzte Re­gressionsmuster produziere!

 

Bspl. 13: Stockhausen, Samstag aus Licht

 

Die Kritik, in meiner späteren Musik würde alles so langatmig, so bedeutungsschwer, so guruhaft statisch, ist die Kritik tauber Ohren. Als würden sie nicht ertragen, dass ich eine Musik der Schöpfung und keine der Erschöpfung komponiere. Und als wollten sie das Katholische in meiner Biographie partout nicht zur Kenntnis nehmen: das Katholon, das alle und alles betrifft in einer Musik für die „ganze Erde“. Für mich waren das „serielle Denken“ und seine Zahlenspiele Ausdruck einer transsubjektiven Ordnung mit dem Ziel einer Transformation des alten Adam. Weil jedoch diese Musik für die meisten in ihrer Selbstbezogenheit zu unverständlich klang, musste ich schlichtweg verständlicher werden.

Vom Unmenschlichen über das Menschliche zum Übermenschlichen: von dieser Spur her ist mein Gesamtkunstwerk Licht zu rezipieren. Wie Zarathustra nach zehn Jahren Einsam­keit unter das Volk gehen, um zu predigen, das war die Aufgabe. Ich musste künden und verkünden - in der Zuversicht, dass wir „alle levitieren“ werden. Singbare Formeln, ein­prägsame archetypische Figuren als Ausdruck der in uns allen verborgenen Ur-Formen und als Spiegel einer Ordnung, „in der alles Sinn macht“: das ist eine Facette meines Ver­mächtnisses an die Erdbewohner. Für den ins Innere der Schwingungen Eingeweihten gibt es als letzten Urgrund nur eine universal gestufte Harmonie, in der er immer nur sich selbst begegnet und niemals etwas Fremdem.

Nicht umsonst durchzieht schon meine Hymnen von 1966 die lange Phase eines Traumsze­nariums, eines Szenariums freilich mit der Programmatik der Völkerverständigung auf dem Weg zum „utopischen Reich der Hymunion in der Harmondie unter Pluramon“, wie ich das mit griffigen Begriffsmustern genannt habe. Was lag dabei näher, als den planetari­schen Gedanken über die Transformation zahlreicher Nationalhymnen zu Gehör zu brin­gen? Und wenn die Atemgeräusche dieser Passage und ihr Verweis auf Schlaf und Traum von Erinnerungseinschüben, das heißt von früheren Stationen der Hymnen, sprich: Ländern und Völkern durchquert werden, dann liegt die Assoziation an den sprichwörtlichen Traum von einer besseren Welt doch gleichsam auf der Hand. An einen Traum jedenfalls, zu des­sen Verwirklichung meine Musik animieren will:

 

Bspl. 14: Stockhausen, Hymnen

 

Der Einwand, meine Musik stürze ins Dekorativ-Triviale ab, weil ihr Höhenflug jede ge­schichtliche Basis ausblende, weil der Katalog der Nationen anhand des Steckbriefs ihrer Hymnen reale Widersprüche in einem global abstrakten Kollektivplural verschwinden lasse und die Berührung mit dem Boden der Tatsachen verliere: er trifft mich nicht. Zählt denn das Allegorische und Metaphorische in der Kunst überhaupt nichts mehr? Propheten und Visionäre haben es schwer. Auch ein Künder von „Pluramon“, dem Reich des befrei­ten Miteinanders aller Wesen. „Pluramon“: diese utopische Losung, von mir zunächst nur zögerlich und wie im Halbschlaf gesprochen, um schließlich wie in einer Erleuchtung ver­kündet zu werden: was sollte daran kurios sein? Dass die Kündung an den Zungenschlag einer schlechten Reklame erinnere, die auf das Produkt abfärbt? Und wenn schon! Warum nicht - im Dienst an der guten Sache!

 

Bspl. 15: Stockhausen, Hymnen

 

Der Blick vom All aus auf den Blauen Planeten, das Fliegen und Überfliegen haben mich seit je gebannt. Genauso wie das Eintauchen in den globalen Äther. Grenzenlosigkeit in den Kurzwellen, der Telemusik, den Hymnen. Wie beschränkt ist die Ego-Monade gegen­über solchen „Selbstentäußerungen“ ins Überpersönliche. Je höher der Blick, umso absur­der und nichtiger das irdische Gewimmel. Tagespolitik - ein Gezänk um Nichtiges. - Als hätte ich vor lauter Kreativität das Kreatürliche vergessen! Aber was heißt schon kreatür­lich. Was liegt schon an einer einzelnen Existenz und ihrem Tod im unaufhörlichen Kreis­lauf der Wandlungen und Wiedergeburten. „Ganze Myriaden von sogenannten Menschen­leben oder Lebewesen - nichts anderes als Atome einer übergeordneten Gestalt.“ Alles Üb­rige ist anekdotischer Kleinkram. Vor den Wundern der Reinkarnation wird der Tod zum Ammenmärchen für verstockte „Erdlinge“. Es gibt keinen Tod. Bin ich nicht das beste Beispiel - hier auf dem Sirius?

Ich werde es also gelassen abwarten, das sirianische Examen. Weiß ich doch im Innersten, dass es lediglich ein Spiel sein wird, eine Pro-forma-Aktion, Teil einer Inszenierung. Wahrscheinlich eine Aufführung des Examens aus meinem Donnerstag aus Licht und da­mit bereits Teil einer künftigen Sternenmusik unter meiner Regie. Aber ja, das wird es sein, das muss es sein! Ich höre ihn schon, den Ruf der Sirianer: „Aufgenommen, selbst­verständlich aufgenommen! ... Jubelt, jubelt!“

 

Bspl. 16: Stockhausen, Donnerstag aus Licht, Examen

 

Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen!“ Aber ja! Es wird sich alles klären. Ich werde leben, mich immer mehr vergeistigen, „astronische Musik“ komponieren und nie­mals mehr Rechenschaft geben. „Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen.“ Eine Kunde quer durch alle Galaxien. Ich ahne es, ich höre es ... Siriana ... Stockhausens Siriana ... intergalaktisch ... „Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen!“ ... Eine Musik der universellen Wahrheit ... „Aufgenommen!“ ... Natürlich! ... „Aufgenommen, selbstver­ständlich aufgenommen!“

Musikbeispiele

 

 

Bspl.   1: Stockhausen, Sirius [CD 1, Tr. 3, 12´53  – 14´41 (ab 14´34 ausbl.)]                          [1´48]

[Markus Stockhausen, Meriweather, Stephens, Carmeli / Stockhausen-Verlag / 26 A]

 

Bspl.   2: Stockhausen, Stimmung [Tr. 9, 0´21 (aufbl.) – 1´00 (ab 0´54 ausbl.)]  [0´33]

[Theatre of Voices , Paul Hillier / harmonia mundi HMU 807408]

 

Bspl.   3: Stockhausen, Gruppen [Tr. 34, 0´25(zügig aufbl.) – Tr. 37, 0´02] [1´12]

[Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Stockhausen, Maderna, Gielen / Stockhausen-Verlag / 5]

 

Bspl.   4: Stockhausen, Kontakte [Tr. 13, 2´17 (zügig aufbl.) – Tr. 14, 0´35 (ab 0´30 ausbl.)] [0´48]

[Stockhausen-Verlag / 3]

 

Bspl.   5: Stockhausen, Klavierstück X [Tr. 2, 0´00 – 2´00 (ab 1´49 ausbl.)] [2´00]

[Herbert Henck / WERGO WER 60135/36-50]

 

Bspl.   6: Stockhausen, Cosmic Pulses [Tr. 1, 14´15 (aufbl.) – 15´00 (ab 14´50 ausbl.)][0´45]

[Stockhausen-Verlag / 91]

 

Bspl.   7: Stockhausen, Trans [Tr. 16, 4´35 (zügig aufbl.) – Tr. 17, 0´20 (ab 0´10 ausbl.)][1´13]

[Orchester des Saarländischen Rundfunls, Hans Zender / Stockhausen-Verlag / 19]

 

Bspl.   8: Stockhausen, Hymnen [CD 1, Tr. 13, 0´40 (zügig aufbl.) – 2´05 (ab 2´00 ausbl.)] [1´25]

[Stockhausen-Verlag / 10 A]

 

Bspl.   9: Stockhausen, Mikrofonie I [Tr. 2 (ganz) + Tr. 3, bis 0´26] [0´58]

[Kontarsky, Fritsch, Stockhausen, Alings, Bojé, Davies, Spek / Stockhausen-Verlag / 9]

 

Bspl. 10 Stockhausen, Litanei [Tr. 3, 0´11 – 1´47(rasch ausbl.)] [1´36]

[SWR-Vokalensemble, Rupert Huber / Stockhausen-Verlag / 61]

 

Bspl. 11: O-Ton Stockhausen, Litanei [Tr. 1, 0´56 – 1´34] [0´38]

[Stockhausen-Verlag / 61]

 

Bspl. 12: Stockhausen, Klavierstück IV [Tr. 4 (ganz)] [1´59]

[Herbert Henck / WERGO WER 60135/36-50]

 

Bspl. 13: Stockhausen, Samstag aus Licht [CD 3, Tr. 18, 0´19 (aufbl.) – 1´44 (ab 1´36 ausbl.)] [1´25]

[Hölle, Pasveer, The University of Michigan Symphony Band, Robert Reynolds,

Markus Stockhausen, Karlheinz Stockhausen / Stockhausen-Verlag / 34 C]

 

Bspl. 14: Stockhausen, Hymnen [CD 2, Tr. 55, 0´25 – Tr. 57, 0´45] [1´16]

[Stockhausen-Verlag / 10 B]

Bspl. 15: Stockhausen, Hymnen [CD 2, Tr. 62, 0´00 – Tr. 64, 0´03][2´08]

[Stockhausen-Verlag / 10 B]

 

Bspl. 16: Stockhausen, Donnerstag aus Licht, Examen

[Tr. 4, 23´04 (zügig aufbl.) – 24´40 (ab 23´40 als Texthintergrund; ab 23´30 ausbl.][1´36]

[Pike, Markus Stockhausen, Stephens, Majella Stockhausen, Meriweather, Isherwood,

Clarke, Louafi, Karlheinz Stockhausen, Chor des Westdeutschen Rundfunks Köln /

Deutscher Musikrat / RCA 74321 73635 2]

Vom Sirius aus
Karlheinz Stockhausen - ein Monolog

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