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Ichabstinenz und Schwebe

Begegnungen mit dem Fernen Osten

Längst schon hat sich die griechisch-christliche Deutungshoheit in Philosophie und Ästhetik entzaubert und mit ihr die Idee des Schönen oder der Kult um Subjekt und Gefühl. Zugleich kam mit dieser Entzauberung ein west-östlicher Dialog in Gang, der inzwischen auch in zahlreichen zeitgenössischen Kompositionen Wirkung zeigt: Nicht in Gestalt einer asiatischen Klangexotik, sondern als strukturelle Nähe des Komponierten zu chinesisch-japanischen Denk- und Kunsttraditionen. Erst diese Korrespondenz aber macht hörbar, was die abendländische Willensemphase bislang übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ich-Abstinenz und der Schwebe, die inmitten der Sinn- und Informationsdichte einer vernetzten Welt gerade durch die Fülle des Ausgesparten irritiert und fasziniert.

Atelier neuer Musik

Ichabstinenz und Schwebe

Begegnungen mit dem Fernen Osten

Von Johannes Bauer

Deutschlandfunk (2009)

 

 

 

Bspl. 1: Youlan (Komposition für die Qin) [Tr. 13, 0´00 - 1´25] [1´25]

 

Im siebten der „Inneren Kapitel“ des Zhuangzi aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert findet sich eine berühmte Beschreibung zum Spiegel des Dao. Unter dem Titel „Antworten für Kaiser und Könige“ lesen wir hier: „Sei einfach nur leer, das ist alles. Der vollkommene Mensch gebraucht Herz und Verstand wie einen Spiegel. Er weist nichts zurück und heißt nichts willkommen; er antwortet, er spiegelt wider, aber hält nichts fest. Deshalb kann er die Welt, die Dinge überwinden, ohne sie zu verletzen und ohne selbst verletzt zu werden.“ Größer könnte der Unterschied zum narzisstischen Spiegel westlicher Subjektzentriertheit kaum sein. Während die Spiegelfunktion der abendländischen Kunst, etwa die der tonalen Musik mit ihrem Fundus an Ich-Resonanzen, ein stetes Wiederfinden seiner selbst garantiert, kennzeichnet die Lebensformen des Fernen Ostens eher eine Entwöhnung vom ästhetischen Formenkreis der Selbstbestätigung. Anders als beim expressiven Ideal der europäischen Musik, für die die Welt seit der Renaissance zum tönenden Abbild des subjektivierten Ich wird, geht es in der chinesischen und japanischen Kultur keineswegs darum, in erster Linie sich auszudrücken.

 

Bspl. 2: Yatsuhashi Kengyô, Midare [Tr. 4, 0´00 - 1´38] [1´38]

 

Midare - eine Komposition des japanischen Koto-Meisters Yatsuhashi Kengyô aus dem 17. Jahrhundert, eine Komposition, in der das ruhige, über weite Strecken leidenschaftslose Fließen der Klänge die emotionalen Spannungs- und Entspannungskurven europäischer Musik vergessen lässt. Wie nach buddhistischer Lehre jeder Klang trotz seines Verbunds mit anderen Klängen zunächst und gerade aufgrund seiner Singularität ausdrucksvoll ist, wird auch in Kengyôs Midare die Textur auf ein Bloßlegen und Bloßliegen der Einzeltöne hin transparent. Und es ist diese Transparenz der jahrhundertealten japanischen Koto-Kunst, die noch gut 300 Jahre später in Jo Kondos Duo für Harfe und Gitarre nachklingt, mag sich der 1947 in Tokio geborene Komponist auch stets als einen Vertreter der westlichen Moderne bezeichnen.

 

Bspl. 3: Jo Kondo, Duo [Tr. 6, 5´05 - 6´48] [1´43]

 

An Jo Kondos Duo aus dem Jahr 1982 wird deutlich, wie sehr die Wahlverwandtschaft zwi­schen der musikalischen Avantgarde Europas und den Überlieferungen fernöstlichen Denkens keine gesuchte, keine gewollte ist, sondern aus den Strukturmerkmalen der Musik selbst resultiert. Seit sich das abendländische Komponieren vom Gebot verabschiedet, Töne vorrangig zur Psychorhetorik und zum Gefühlsspiegel des Ichs zu verdichten, seitdem beginnt Musik sich dem Selbstbezug des Subjekts zu entziehen. Erst jetzt kann Musik das Eigenleben der Töne respektieren, anstatt sie über einer Folge von Zielgefällen und Höhepunkten narrativen Erwartungsmustern einzubetten. Vorbei die Zeit, als Kompositionen das Wechselspiel von Emotion und Konstruktion nach der vorgeblichen Einheit des Selbstbewusstseins zu modellieren hatten. Vorbei auch die Zeit, in der Beethovens Musik ihre motivisch-thematische Ökonomie subtil und grandios nach Art einer stringenten Geschlossenheit von Investition und Rendite auskomponieren konnte. Wenn dagegen das japanische „Mushotoku“ einen Zustand meint, der an nichts festhält, dann zeigt sich in diesem Loslassen zugleich ein Widerstand gegenüber ideellen Ganzheitsentwürfen. Die Konzentration auf das flüchtige Hier und Jetzt franst nicht nur jede vorgedachte Totalität aus, mit ihr verändert sich zudem auch der Begriff der Zeit, sofern Zeit nicht mehr als ein vorgeordnetes, abstraktes Kontinuum zu fassen ist. Stattdessen gleicht die von Zielvorstellungen freie Versenkung ins Einzelne der Wandelbarkeit naturhafter Phänomene, gleichsam dem Spiel der Wolken, das in seiner Verlaufsform nicht vorherzubestimmen und nicht exakt zu berechnen ist.

 

Bspl. 4: Toshio Hosokawa, Cloudscapes [Tr. 2, 0´00 - 2´57 (ab 2´50 ausbl.)] [2´57]

 

Lassen, loslassen, zulassen: In Toshio Hosokawas Cloudscapes erzeugen die lang gehaltenen Töne der japanischen Mundorgel Shô und des Akkordeons den Ausdruck von Gelassenheit. Gelassenheit indes kontrastiert dem hohen Rang, den die westliche Musikästhetik vom Tabu der Langeweile her einer kompositorischen Umformungsarbeit beimisst, die sich an raschen Wechseln orientiert. Zudem entfalten sich die mittelpunktslosen Schichtungen von Hosokawas „Wolkenlandschaft“ ihrer Intention und Wahrnehmung nach auf unkalkulierbare Weise. Es ist dieser Formenkreis des Unberechenbaren, der zwischen dem ichgedämpften Charakter von Hosokawas Musik und jenen Einsichten der Chaosforschung eine Brücke schlägt, denen ein Umdenken zahlreicher Naturprozesse gelang: ein Umdenken von Prozessen mithin, die sich weder reibungslos dem kausalen Korsett des menschlichen Intellekts fügen noch dem blinden Zufall zuzuschlagen sind. Solche eher statistischen, weil einzig von ihrer Wahrscheinlichkeit her verstehbaren Energien, in denen sich zeitgenössische Musik, moderne Naturwissenschaft und fernöstliches Denken begegnen, erschließen dem Komponieren neue Ereignisräume.

Erst nach der Befreiung vom gestischen Tonfall und von der tonalen Sprachsymmetrie der Ich-Rhetorik konnte sich Musik der Spur des Zufalls und der hintergründigen Ordnung komplexer Systeme öffnen. Damit ergeben sich nie gehörte Bezüge zwischen Natur und Musik, die weit über jene Naturerfahrung hinausgehen, die Debussy noch an Beethovens Pastorale kritisiert hatte. Musik klingt nun, wie in Hosokawas Cloudscapes, als stünde sie im Gespräch mit Benoit Mandelbrots Fraktaler Geometrie der Natur, in der es heißt: „Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt - und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.“ Überhaupt ist davon auszugehen, „dass viele Naturerscheinungen in ihrer Unregelmäßigkeit und Zersplitterung nicht einfach einen höheren Grad an Komplexität gegenüber Euklid“ und der „gesamten Standardgeometrie“ […] bezeichnen, sondern ein völlig anderes Niveau darstellen“.

Indem nun Hosokawa die auf Berechenbarkeit angelegte Sinngebung des Verstandes vom Unberechenbaren und Unverfügbaren her aufhebt, nähert sich seine Musik in ihrer Fluktuation zwischen Ordnung und Zufall einem akustischen Naturphänomen an: Und dies eben nicht in abbildhafter Funktion, sondern ihrer Struktur nach. Und womöglich zeigt sich erst jetzt, mit ostasiatischen Vorzeichen und als ichferne Komplexität, was Natur sein könnte, befreit vom ökonomisch bewaffneten Zugriff einer Kultur des Rechnens und Messens.

 

Bspl. 5: Toshio Hosokawa, Cloudscapes [Tr. 2, 4´05 (aufbl.) - 6´26 (ab 6´20 ausbl.)] [2´21]

 

Achtsamkeit auf den Lauf der Naturkräfte, auf ihre Ressourcen und Wandlungen und deren lediglich flankierende Regulierung ist bis zur industriellen Epoche ein Charakteristikum chinesischer Kulturgeschichte; weit mehr jedenfalls als das Beharren auf den Bändigungs- und Unterwerfungsmaßnahmen des abendländischen Wissenschafts- und Technikverständnisses. Nicht umsonst konnte Francis Bacons Devise ebendiesem Wissenschaftsverständnis das Leitmotiv vorgeben, „die Natur auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt“.

Im Unterschied dazu begegnet uns im Daodejing der Begriff des „Wuwei“, der Begriff jenes Nichthandelns also, das mit seiner zumeist entstellten Lesart einer ohnmächtigen und müßigen Passivität nicht das Geringste zu tun hat. Eher beschreibt das „Wuwei“ ein Handeln ohne Aktionismus, ein Handeln, das den natürlichen Lauf der Dinge so wenig als nötig stört, und damit ein Handeln in der Schwebe: weder unbedacht noch berechnend, weder affektiv noch teilnahmslos. Indem das „Wuwei“ den Akt der Manipulation zurücknimmt, um sich intuitiv auf das Gegebene einzustimmen, kann es den Dingen gelassen, das heißt mit einem Gestus des Lassens antworten. So wird „Handeln ohne zu handeln“ zu einem leeren Spiegel ohne Vorlieben und Abneigungen, zu einem Spiegel demnach, der spiegelt, ohne selbst gespiegelt zu werden. Indem das „Wuwei“ Welt und Dinge nicht zurichtet, sondern sich wie in der agrarischen Kultur Chinas angesichts der überlebenswichtigen Wirkung etwa von Wind und Wasser der Kraft des Windes und dem Lauf des Wassers angleicht, bringt diese Angleichung an die Natur und die Natur der Dinge im Idealfall den inneren und äußeren Naturgrund zum Einklang. Es erstaunt daher kaum, dass sich diese Anlehnung an eine Welt des Wandels schon im Wesen der chinesischen Sprache findet, im äußerst geschmeidigen Fluss ihrer flexiblen Mehrdeutigkeiten, frei von syntaktischen Beugungen und Brechungen. Hier zeigt sich die Kluft zu abendländischen Sprachen und damit zum abendländischen Denken besonders drastisch: zu einem Denken auf der Basis des griechischen Alphabets und seiner Zeichenabstraktion und zu einem Denken auf der Basis jener indoeuropäischen Grammatik, die jeden Satz aufgrund seines geschlossenen Baus als Zieleinheit gewichtet und Wahrheit auf die Probe der Eindeutigkeit gründet.

Wasser also - in China das Element des fließenden Wandels schlechthin. So wie es der Zyklus Zwölf Ansichten des Wassers des Sung-Malers Ma Yuan aus der Zeit um 1200 feiert, ein Zyklus, der jeden seiner westlichen Betrachter nicht nur bei der ersten Begegnung mit größtem Erstaunen, ja nahezu schockhaft berührt. Enthalten diese großformatigen Blätter doch reine Studien des Spiels von Wogen und Wellen ohne jede Landschafts- oder Figurenstaffage. Was könnte die antimetaphysische Präsenz von Natur in der Geschichte Chinas wohl besser belegen als diese Bildserie Ma Yuans, die von der abendländischen Malerei, von Turner und Monet her gesehen 650 Jahre zu früh kommt? In einer Zeit somit, als in der westlichen Kunst theologische Szenen dominierten und Natur lediglich marginal und formelhaft stilisiert bildfähig war.

Es war das Wechselhafte und doch Gleichbleibende, das Abstrakte und dennoch Reale in Ma Yuans Wasserdarstellungen, von dem sich Johannes Schöllhorns Orchesterstück Liu-Yi aus den Jahren 2001/2002 faszinieren ließ. Indem Schöllhorn der Form der Formlosigkeit und darin der Weichheit, der Anpassungsfähigkeit und Schmiegsamkeit als der ebenso untergründigen wie offenkundigen Verwandlungskraft des Wassers nachspürt, weitet seine Musik einer Meeresklangfläche mit Tonlichtspitzen das Hören auf die Erfahrung des Flüssigen, Flüchtigen, Grundlosen hin. Wasser, das fernöstliche Element par excellence, wird zum maritimen Fluidum auch der Neuen Musik. Wurden vor diesem Horizont des Offenen nicht schon die nautischen Aufbruchsfantasien Baudelaires, Nietzsches und Debussys zu einem Zentralmotiv der ästhetischen Moderne? Ihre Verlockungen ins Grenzenlose, ins Unbekannte und Abgründige, ohne sicheren Boden und ohne die Möglichkeit einer Dauerspur an Halt und Besitz?

 

Bspl. 6: Johannes Schöllhorn, Liu-Yi / Wasser [Tr. 4, 9´30 (aufbl.) - 13´36] [4´06]

 

Lassen und Sich-entfalten-Lassen sind Leit- und Lebensbahnen Ostasiens bis hinein in den kulinarischen Bereich. So ist beispielsweise in Japan die „beste Art Fisch zu kochen, ihn nicht zu kochen“. Die Zubereitung des Fischgerichts Sashimi liegt nicht darin, den rohen Fisch durch Kochen gleichsam zu veredeln, sondern darin, den rohen Fisch vollendet zu schneiden und kunstvoll zu arrangieren. Alles kommt auf die Entfaltung des Vorhandenen an, auf die Entfaltung der naturgegebenen Qualitäten des Fisches also. Erreicht wird dies mit ausgefeilten Filetiertechniken, die die japanische Küche zur Kunstform erhebt, um durch die Meisterschaft des Schneidens dem Aroma des Fisches äußerste Feinheiten an Geschmack zu entlocken.

Die ästhetische Komponente dieser präzisen und zugleich luxuriösen Eigenschaften liegt auf der Hand. Deshalb kann Klaus Langs Streichquartett sei-jaku gleichsam die Hohe Schule des Schneidens, das „Katsu“ der japanischen Küche, mit ihrer Virtuosität der Längs- und Querschnitte und ihren differenzierten Praktiken von Schnittstellen und Schnittgrößen, von Schneidedruck und Schneidegeschwindigkeit auf die Bogen- und Grifftechniken der Streichinstrumente übertragen. Und auch hier, in der Musik, zeigt die intime Verbundenheit der Spieler mit ihren Instrumenten während der konzentrierten Erkundung des komponierten Materials, dass Material mehr ist als Material. Indem die vielfältigen Press- und Schleif- und Schab- und Zupfklänge in Langs Streichquartett Zonen der Aufmerksamkeit am Rand der Stille erkunden, wird erfahrbar, wie sehr in diesem „Katsu“ der Musik die ganze Welt in einem Schnitt, in einem Ton liegt. Jedes Hier und Jetzt wird in dieser Komposition zur Ankunft, mehr noch: zu einem Hier und Jetzt als Hier und Jetzt, sofern Ankunft immer schon ein Ziel voraussetzt. Zudem gibt es in der ins Alltägliche eingebetteten Praxis der Schnitt- und Griff- und Bogenkünste keine Spaltung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem und keine zwischen Tiefe und Oberfläche. Und damit auch keine Symbole, hinter denen ein wahrer und heiliger Sinn läge. Was zählt, ist einzig das innerweltliche Dasein ohne spirituelle Überhöhungen. Antwortet nicht die Kōan-Sammlung des Bi Yän Lu auf die Frage, was denn der Buddha sei, mit der Antwort: „Drei Pfund Flachs“?

 

Bspl. 7: Klaus Lang, sei-jaku [Tr. 1, 19´00 (aufbl.) - 22´11] [3´11]

 

Was Claude Lévi-Strauss als die Abkehr vom Subjekt feiert, jenem „unerträglich verwöhnten Kind, das allzu lange die philosophische Szene beherrscht und jede ernsthafte Arbeit dadurch verhindert hat, dass es ausschließliche Aufmerksamkeit beanspruchte“, diese Abkehr vom Subjekt ermöglicht auch der Musik ungeahnte Entgrenzungen. Erst nachdem sich die griechisch-christliche Deutungshoheit in Philosophie und Ästhetik und mit ihr die Ausschlussfigur des Schönen, die Forderung nach Finalität und Geschlossenheit und der Kult um Subjekt und Gefühl entzaubert hatten, konnte mit dieser Entzauberung jener west-östliche Dialog in Gang kommen, der mittlerweile auch in zahlreichen zeitgenössischen Kompositionen Wirkung zeigt: Nicht in Gestalt exotischer Klangornamente, sondern als strukturelle Nähe des Komponierten zu chinesisch-japanischen Denk- und Kunsttraditionen.

Dass es mit der Souveränität des Subjekts, seiner Vernunft- und Gefühlsregie nicht mehr zum Besten stand, war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bereits an der philosophi­schen Reflexion und an der Weltdeutung der Künste abzulesen. Inzwischen klingt die Rede von der einzigartigen Qualität des Individuums in einer extrem arbeitsteiligen Massenge­sellschaft auch soziologisch allzu hohl. Einsicht in solche Zerfallsprozesse aber heißt, mit dem Gedanken Ernst zu machen, dass das seit gut 400 Jahren herrschende Ideen- und Praxiskonzept des Subjekts durch und durch geschichtlich ist. Selbstbeherrschung etwa, das Herr-seiner-selbst-Sein, war zwar eine der Schubkräfte der ökonomisch-technischen Expansion abendländischen Zuschnitts, zugleich aber begann sich das Projekt vom Subjekt gerade in den von ihm in Gang gesetzten Verwertungsprozessen zu entwerten und aufzureiben. Zu ausschließlich setzten die Subjektkonstanten Selbstbeherrschung und Selbstbehauptung auf die rationalen und schließlich rationellen Teilaspekte eines als autonom gedachten Individuums. Kein Wunder, dass die Momente transsubjektiver Überschreitung im Bereich der Kunst, der Musik immer deutlicher wurden.

Sobald freilich neben ihrer emanzipatorischen Kraft auch die strapaziöse Last der egozentrischen Sinnbühne, ihre Blockaden und Selbstbeschränkungen in den Blick kamen, konnte der Ich-Kern als die Mikrozelle einer rastlosen Kultur der Verwertung erfahren werden, in der Fülle mit Quantität verwechselt wird und die Übermacht der Dinge dem Leben das Leben aussaugt. Dass inmitten der Gläubigkeit an beharrliches Wachstum und stetige Effizienz die Zäsuren von Stille, Leere und Lassen als ungenutzte, sträflich vernachlässigte Brachen provozieren, ist ebenso konsequent wie die Zersetzung solcher Freiräume des Aufatmens, eine Zersetzung, mit der die real existierende Ökonomie ihre Arroganz gegenüber jeder Form von Abweichung demonstriert.

Gleichwohl käme es mehr und mehr auf jene Umkehr in der Austreibung von Stille, Leere und Gelassenheit an, in der die Wahlverwandtschaft zwischen Neuer Musik und ostasiatischem Denken liegt; eine Wahlverwandtschaft, die auch in der Shô-Episode von Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern zu hören ist. Hier lässt die von Emotionen freie Aura der japanischen Mundorgel anklingen, was abendländisches Komponieren lange übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ichabstinenz und der Schwebe. Es ist diese Region zwischen Gefühl und Nichtgefühl und ihre Wendung zum Schwerelosen, mit der sich der Ton der Shô westlichen Stimmungsregistern entzieht. Entgegen der abendländischen Geschichte, die dem Status von Kampf und Konflikt eine so überaus hohe Wertschätzung zugesteht, öffnet die Shô in Lachenmanns „Musik mit Bildern“ eine Klangoase ohne Konfrontation und Gewalt. „Shô“: ein musikalischer Ort weniger der Töne als der Tönungen und ein Ort, an dem sich die Musik von ihrer eigenen Willensanstrengung und Gewolltheit befreit. Und wenn sich schließlich am Ende von Lachenmanns Oper das rätselhafte Klopfen in den Klavieren zu einem akustischen Kassiber ins Offene schärft, dann thematisiert dieses Ende weder Erlösung noch Verzweiflung, sondern die Realität einer Welt ohne Jenseitsbonus und mit einer Verantwortung im Gegenwärtigen. Zusammen mit den appellhaften Pochimpulsen des „Epilogs“ machen deshalb zumal die intentionslosen Klänge der japanischen Mundorgel bewusst, worauf es Lachenmann ankommt: nämlich auf eine Abrüstung der abendländischen Ich- und Willensemphase, ohne damit einer Passivität der Gleichgültigkeit zu verfallen.

 

Bspl. 8: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Tr. 10, 9´40 (aufbl.) - Tr. 11, 2´00] [2´19]

 

Sicherlich kann es nicht darum gehen, ostasiatische Traditionen als Heilsbotschaften nach Europa zu importieren, wohl aber ist es möglich, über die markante Kulturdifferenz zu China und Japan die Diagnose abendländischer Kultur und Geschichte schärfer, nüchterner zu fassen. Nüchterner auch, um die Opfer zu begreifen, die uns eine immer mehr ins Technische und Instrumentelle abdriftende Vernunft zumutet: Eine Vernunft, eine Rationalität mithin, die sich umso geistiger dünkt, je technischer sie über die äußere und innere Natur triumphiert. Seien wir also vorsichtig, unsere Naturferne, unsere Selbst- und Weltentfremdung und den daraus resultierenden Zynismus zum Maßstab zu nehmen, sobald wir über dem langen Atem Ostasiens die Geduld verlieren. Vielleicht dass wir dann vom fernöstlichen Zug der Neuen Musik her zu ahnen beginnen, wie sehr das mittlerweile globale Heroentum des Bezwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Welt und das Leben erst schwer, monströs und unmenschlich werden lässt.

 

Bspl. 9: Jakob Ullmann, Komposition für Orchester (I-V) „…Schwarzer Sand / Schnee…“ [Tr. 5, 5´04 (aufbl.) - 7´52] [2´48]

 

Musikbeispiele

Bspl.   1: Youlan (Komposition für die Qin)

[Xiaoyong Chen]   [wergo SM 1603-2]

 

Bspl.   2: Yatsuhashi Kengyô, Midare

[Kazue Sawai]   [d’c edition Bremen]

 

Bspl.   3: Jo Kondo, Duo

[Eva Pressl, Michael Schröder]   [hat[now]Art 110]

 

Bspl.   4: Toshio Hosokawa, Cloudscapes

[Mayumi Miyata, Stefan Hussong]   [wergo WER 6801 2]

 

Bspl.   5: Toshio Hosokawa, Cloudscapes

[Mayumi Miyata, Stefan Hussong]   [wergo WER 6801 2]

 

Bspl.   6: Johannes Schöllhorn, Liu-Yi / Wasser

[WDR Sinfonieorchester / Johannes Kalitzke]   [WDR æon AECD 0863]

 

Bspl.   7: Klaus Lang, sei-jaku

[Arditti String Quartet] [DDD LC 08864 ed. RZ 4005 Verlag zeitvertrieb]

 

Bspl.   8: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

[Elizabeth Keusch, Sarah Leonard, Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi,

Mayumi Miyata, Salome Kammer , Staatsopernchor und Staatsorchester

Stuttgart, Lothar Zagrosek]   [KAIROS 0012282KAI]

 

Bspl.   9: Jakob Ullmann, Komposition für Orchester (I-V) „…Schwarzer Sand / Schnee…“

[SWR Sinfonieorchester / Matthias Bamert]   [da music ORC 77312]

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