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Spinoza im Echoraum der Stille

Antoine Beugers calme étendue (spinoza)

DeutschlandRadio Berlin (2003)

Anmerkungen zum Sprechpart

Den Text insgesamt wie eine Art inneren Monolog ohne rhetorische Expressivität, eher gleichmäßig ruhig lesen.

Es werden 3 Stimmintensitäten unterschieden:

- Normale Lautstärke (schwarz)

- Gedämpfte Stimme (blau)

- Flüstern (rot)

 

Die [teleologische] Lehre hebt die Vollkommenheit Gottes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt.

Zwei Sätze aus Spinozas Ethik. Genauer: aus dem Anhang zum 36. Lehrsatz des ersten Buchs. Zwei Sätze aus einer der großen Abrechnungen mit menschlichen Vorurteilen; mit der Annahme von Zweckursachen in der Natur etwa und ihrer Übertragung auf die göttliche Substanz. Zwei Sätze, die man aber auch anders lesen kann. Nämlich so:

 

Bspl. 1: Antoine Beuger, calme étendue (spinoza)   [18´56´´ – 20´37´´]     [1´41´´]

             [EDITION WANDELWEISER RECORDS EWR 0107]   (hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er)

 

Radieren also. In Spinozas Ethik radieren. Radieren in einem Hauptwerk abendländischer Philosophie. Radieren, aber mit Methode. Vergleichbar Spinozas Gedankengang »ordine geometrico«. Nur einsilbige Worte stehen lassen, um auf diese Weise Spinozas Ethik silbisch durchzubuchstabieren. Einsilbige Laute in der Bedeutung von Worten, gleichmäßig skandiert.

 

Bspl. 2 = Whlg. Bspl 1   [18´56´´ – 20´37´´] [1´41´´]   (hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er)

 

Spinozas Ethik aufmerksam und sorgfältig lesen und dabei das Gitter ihrer Definitionen, Lehrsätze, Beweise, Axiome aufbrechen. Alle einsilbigen Worte in der Reihenfolge ihres Auftretens herausfiltern – konsequent, obsessiv – etwa 40.000 an der Zahl. Zirka 180 Stunden Wort-Lektüre: alle 8 Sekunden ein Wort. Einen abstrakten Puls der Sprache erzeugen, entlang der Auswahl einsilbiger Worte: einer beliebig wirkenden Auswahl, die doch zugleich auf der Ordnung der Sätze in Spinozas Text von 1675 basiert: Verschränkung von Zufall und Notwendigkeit.

Spinozas Text und den Rasuren in ihm zuhören: Je mehr vermittelnder Ursachen aber eine Wirkung bedarf, um hervorgebracht zu werden, desto unvollkommener ist sie. Wenn nun die Dinge, die unmittelbar von Gott hervorgebracht sind, deshalb gemacht wären, damit Gott seinen Zweck erreichte, so wären notwendig die letzten, um derentwillen die ersten gemacht sind, die vorzüglichsten von allen. Außerdem hebt diese Lehre die Vollkommenheit Gottes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt.

Text gleichmäßig ruhig lesen; flüstern
»je mehr um zu ist sie wenn nun die die von Gott sind Gott Zweck so die um die sind die von hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er«

Radieren also. Gut 300 Jahre nach ihrem Erscheinen Spinozas Ethik einem Prinzip des methodischen Zufalls unterziehen. Die Folgelogik, den Zeitsog, die Triebkraft des Textes außer Kraft setzen. Seine argumentativen Tempo- und Hitzegrade in das Gleichmaß und die Wohltemperiertheit loser Wortreihen überführen. Asyntaktisch; Parataxe pur. Radieren, um das expressive Gewebe der Sprache zu glätten, ihren rhetorischen Faltenwurf. Die Wörter in ruhigem Tempo [...] mit ruhiger Stimme lesen ohne durch Betonung oder Intonation auf einen Wortsinn oder einen Sinnzusammenhang zwischen den Wörtern hindeuten zu wollen. [Antoine Beuger]

 

Bspl. 3: calme étendue (spinoza)   [8´45´´ – 10´00´´] [1´15´´]    Selbst heißt muss er auch die was sich noch

 

Mit dem Gleichmaß des ›ruhigen Tempos‹ und der ›ruhigen Stimme‹ an Spinozas Wertschätzung der Gelassenheit erinnern. Die Kompaktheit des Sinns in den Schwebezustand eines Zwischensinns überführen. Von den Klangpunkten der Sprache her die Tiefenstruktur ihres Sinns beruhigen. Tiefe und Oberfläche als Einheit begreifen. Den Kampf der Begriffe besänftigen, die Wogen ihres rhetorischen Tumults zur Spiegelfläche eines Meers der ruhigen Worte glätten. An Epikurs Bild der Meeresstille, der âàëç´íç, denken – Ideal der Seelenruhe. Und an die epikureische Seelenruhe des Weisen, mit der Spinozas Ethik schließt. Daran, wie sehr [...] der Weise [...] in der Seele kaum beunruhigt [wird], sondern, seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewusst, [...] immer im Besitz der wahren Befriedigung der Seele [ist].

Calme étendue: Ruhe, Stille, Gelassenheit. Aber auch Windstille, Meeresstille, âàëç´íç. Ausgedehnt, ausgebreitet, geweitet, weit reichend, tragend.

Spinozas Ethik syntaktisch entkernen, das Besondere ihrer Sprache zunächst auf das Allgemeine eines Wortmaterials hin ausbleichen. Mit dem Herauslösen des syntaktischen Kitts die Zeit argumentativer Ordnung und Ortung aufheben: zeitlos, ortlos werden. Sich gleichzeitig überall und nirgends im Textlabyrinth der Ethik befinden, inmitten überall einsetzbarer, funktional alltäglicher Worte: und / dass / was / die / von / denn / in / zu / teils / ich / dass / wir / nicht.

 

Bspl. 4: calme étendue (spinoza)   [36´05´´ – 37´50´´][1´45´´]   und dass was die von denn in zu teils ich dass wir nicht

 

Lesen, Sprechen: frei von der Rangordnung der Beweise und Schlüsse. Ohne Mittelpunkt. Spinozas von Giordano Bruno übernommene Idee vom mittelpunktslosen Universum in die Sprache verlegen. Spinozas Sprache Spinozas Kritik an den Zweckursachen aussetzen. Spinozas Sprache der Zweck- und Zielfunktion des Urteils entziehen – mag die Reihung der Worte auch weiterhin in der Zeit verlaufen. Das Ökonomieprinzip der Sprache als Organisationsprinzip ihres Sinns vergessen. Gegen das Ersticken an Zeichen und Signalen, gegen die Tätowierungsfunktion der Sprachen und Schriften weiße Flächen setzen: Stille, Rauschen.

Ab 35´00´´ die Lautstärke erhöhen, bis die Stille-Partie der CD als Rauschen hörbar wird. Ab 35´20´´ Sprecher (Überlagerung von Rauschen und Sprecher; Rauschen im Hintergrund). Ab 35´50´´ CD ausblenden.


Bspl. 5: calme étendue (spinoza)   [33´36´´ – 36´02´´] [2´16´´]   im Geist aus die in ihm sind so wir nichts

 

Die Materie der Musik ist das allgegenwärtige Rauschen der Welt, das heißt: alles was klingt. Ihre Form ist der jeweilige Ausschnitt, den sie aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit herausschneidet [...] Es ist möglich, sich die Welt als ein unendliches monotones Rauschen vorzustellen: Eine Überfülle von Differenzen, in der nichts gleich ist, eine nie entwirrbare Komplexität, eine Gleichzeitigkeit ohne Zeit, da alles immer da ist und sich nichts verändert. Die Monotonie des Unendlichen. Alle Musik, die es jemals gegeben hat oder geben wird, ist in diesem Rauschen enthalten. [Antoine Beuger]

Die Zeitspur der Sprache immer wieder im Schweigen, im Rauschen verschwinden lassen; umgekehrt das Zeitmoment immer wieder im einzelnen Wort hörbar machen. Rauschen, weißes Rauschen: Spannung zwischen Chaos und Ordnung. Und – in der Mischung aller Klangfarben und Tonhöhen – Potenzial aller Möglichkeiten. Schnitte in die zeitlose Gleichzeitigkeit des Weltrauschens legen, die Musik aus ihm hervorholen und zur Existenz bringen. [Antoine Beuger]

 

Lautstärke von Beginn an hoch, um die Stille-Partie der CD als Rauschen hörbar werden zu lassen. Ab 51´35´´ auf normale Lautstärke reduzieren. Lesebeginn Beuger bei 51´43´´.

 

Bspl. 6: calme étendue (spinoza)   [51´10´´ – 52´25´´] [1´15´´]   sein sich nicht

 

Stille aber auch als ihr eigenes Negativ hören, seitdem Büchners Lenz in dem, was man »gewöhnlich die Stille heißt« die »entsetzliche Stimme« vernahm, »die um den ganzen Horizont schreit«.

Laute, Worte, Bedeutungen, die aus dem Grund der Stille aufsteigen und in ihm versinken. Die Gedanken steigen, langsam, wie Blasen an die Oberfläche. [Ludwig Wittgenstein] Silence. Sounds are only bubbles on its surface. [John Cage] Die Schnittstelle zwischen den Worten zur Stille weiten, die Diskontinuität im Innern der Sprache bewusst machen, die Kluft aus Worten, über die die Sprache syntaktische Sinnbrücken spannt. Gegen die Rhetorik der Argumentation das Ereignis setzen. Keinen Nullpunkt des Denkens, sondern ein Sensorium für die Zerbrechlichkeit des Sinns. Worte als Ereignis – gegen die Taubheit der Sprache und die Sprachlosigkeit ihres Lärms. Das Ereignis schlägt ein Loch in  die vorhandene Ordnung und zieht eine grundsätzliche Umstrukturierung dieser Ordnung nach sich [...] Absichtslosigkeit üben; immer wieder Möglichkeiten finden, wie sich Musik als reines Erklingen ereignen kann. [Antoine Beuger]

 

Bspl. 7: calme étendue (spinoza)   [48´30´´– 49´05´´][0´35´´]   wie ich und

Den Hunger nach Sinn, die Sinngier der Sprache dämpfen, ohne den Text semantisch verhungern zu lassen. Spinoza mit und gegen Spinoza lesen. Die Ethik auf chinesische Weise lesen, mit dem Ohr des Sinologen für »leere« und »volle Wörter«. Im Gesprochenen das Ungesprochene hörbar werden lassen; das, was sich der Sprache entzieht. Das Unaussprechbare [...] gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt. [Ludwig Wittgenstein] Gespür für den Sinneffekt der Sprache entwickeln; für die Tiefenwirkung ihrer Oberfläche, für die Haut der Sprache. Die Haut aber ist das Tiefste. [Paul Valéry] Die syntaktischen Nähte der Textur auftrennen, bis das Sprachgewebe lose wird. Bis die gelöste Textur Falten wirft, um metaphysische Großbegriffe zum Beispiel.

 

Bspl. 8: calme étendue (spinoza)   [17´11´´ – 17´52´´][0´51´´]   von Gott sind Gott Zweck

 

Text gleichmäßig ruhig lesen und flüstern. Nur die in Großbuchstaben gesetzten Worte laut sprechen.


»denn wenn GOTT um ZWECKS so er das er wenn nun auch und ZWECK des und ZWECK der so sie doch ein dass GOTT um nicht der zu hat weil sie vor der nichts GOTT um GOTT sie dass GOTT die für«

»Gott«, »Zweck« – ein Plissee an Gedanken und Assoziationen um zwei kritische Leitmotive von Spinozas Philosophie. »Gott« – lange Zeit der höchste Name. Auch in der Sprachmusik von calme étendue ein Brennpunkt der Assoziationen und leer zugleich. Ein Wort nur. Verbales Strandgut in den Strömungen der Geistesgeschichte. Ein Wort allerdings auch wie Sprachasche, unter der die Glut der Bedeutungen glimmt. Ein Wort, das spricht und schweigt zugleich. Wie hat man uns das Wort GOTT beigebracht? Luther hat einmal gesagt, die Theologie sei die Grammatik des Wortes „Gott“. Dies fasse ich so auf, dass eine Untersuchung dieses Wortes eben eine grammatische wäre. [Ludwig Wittgenstein]

 

Das Wort GOTT von Beuger gesprochen; flankiert von 8 Sek. Stille

 

Bspl. 9: calme étendue (spinoza)   [66´23´´ – 66´38´´] [0´15´´]

 

Ein Bild für Beugers Spinoza finden. Stille als semantische Wüste hören. Fülle durch Abwesenheit. Wüste: désert, desert, deserto – desertieren. Stille, eine semantische Wüste, in der die Worte zu desertieren beginnen, vom Sinn abfallen, ohne sich im Sinnlosen zu verlieren. Worte, gestreut wie Flugsand unter dem Mikroskop. Verwehungen der Sprache. Aber auch Wort-Karawanen bei der Durchquerung einer Zone des Rauschens, mit einer ungewohnten Tiefenschärfe der Erfahrung. Ein Unterwegs der Sprache. Ein Unterwegssein mit der Sprache.

Das informierte Bewusstsein, dem ständig etwas einzufallen hat, an die Grenzen seiner Sicherheit führen. Gegen den Imperativ der Zirkulation – Niemals stillstehen! – die Zirkulation unterbrechen. Und mit ihr den Kreislauf der Sprache. Das Schaltwerk regulierten Denkens punktuell aussetzen. Den Umlauf der Worte in gängigen Denkbahnen hemmen. Die Firnisschichten der Konvention aufweichen. Hören freisetzen, Erfahrung freisetzen. Worte für sich stehen lassen. Worte zum Ereignis entbinden und Stille zum Resonanzraum der Worte. Ins Innere der Sprache hören. Dem Hunger nach Sinn mit einem Fasten der Semantik begegnen.

Worte reihen – gegen die Ist-Funktion des Urteils. Mit ET denken statt mit EST. [Gilles Deleuze] Dem System der Verweisungen Sprache entziehen und Sprache dem System der Verweisungen. Worte als Klangfarbe ihrer Assoziationen im Gedächtnis der Sprache freisetzen. Bindungen lösen, an Becketts ›Losigkeit‹ denken. Calme étendue – Sprache atmen, Bedeutungen rätselhaft werden lassen: ich, wir, Gott, Geist, Zweck, Ding, Lust.

Die Einsicht ins Spiel der Welt, die Bühne des Menschlich-Allzumenschlichen im Blick behalten, auf der Spinozas helle Fahrt in die Nacht des Geistes nicht zur Resignation, sondern zur Gelassenheit führt, frei von jeder Verleumdung des Lebens. Gelassenheit auch in Beugers Spinoza: im Zurücktreten des Ich, um Sprache gegen das Gesetz des Satzes und der Satzung gewaltlos, ereignishaft sprechen zu lassen.

Spinozas Credo der Untrennbarkeit von Körper und Geist verstehen, beide gleich ursprünglich und notwendig aufeinander verwiesen. Verstehen, dass der Geist der Worte an den Körper der Sprache gebunden ist, dass Wortbedeutung und Lautmaterial nicht zu trennen sind, mag ihre Einheit auch auf Übereinkunft und Willkür basieren. So wie zum Beispiel einem Deutschen bei dem Gedanken des Wortes 'Apfel' gleich der Gedanke der Frucht einfällt, die doch mit jenem artikulierten Schall durchaus keine Ähnlichkeit besitzt noch sonst irgendetwas damit gemein hat, außer dass der Körper desselben Menschen von diesen beiden Dingen oft zusammen affiziert gewesen ist, das heißt, dass der Mensch oft das Wort Apfel gehört hat, während er zugleich die Frucht selbst sah. [Baruch de Spinoza]

An Spinozas Ewigkeitsaspekt des »sub specie aeternitatis« die Verbindung von Kunst und Philosophie erkennen. Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. [Ludwig Wittgenstein] Das Ästhetische an Spinozas Dynamik der Weltfülle wahrnehmen und am Modell ihrer Bejahung, das alles einbegreift. calme étendue – eine Sprache innerhalb der Sprache; eine experimentelle Variation des Modus Sprache. Eine Sprache erfinden, heißt, eine Sprache konstruieren. Ihre Regeln aufstellen. [Ludwig Wittgenstein]

 

Bspl. 11: calme étendue (spinoza)   [16´36´´ – 19´55´´][3´19´´]  wenn nun die die von Gott sind Gott Zweck so die um die

                                                                                                  sind die von hebt die auf denn wenn Gott um

 

Spinozas Reflexion des Zufalls jenseits der Spaltung von Wesen und Erscheinung: Ihr gilt Zufall als ein Mangel unserer Erkenntnis. Zufall: nichts weiter als das Abwehrmanöver eines beschränkten Verstandes, dem die Kausalketten der endlichen Dinge, ihre sich wechselseitig ins Unüberschaubare bedingenden und kreuzenden Wirkungsreihen als Gesamtheit unfassbar sind und eben damit als zufällig gelten. Nicht anders als die Kausalketten der Sprache und der einzelnen Worte, die als einzelne wiederum ins Endlose der Zusammenhänge verweisende Worte bedingen. Worte – mit eigener Ausdruckskraft und gleichzeitig durch alle anderen Worte bestimmt. Eingebunden in zahllose Urteilsrelationen, die sich erst der Erkenntnis des Ganzen als notwendig im Universum der Sprache offenbaren.

Die Kausalität der Sprache und der Dinge mit Spinoza lesen. Verstehen, dass für Spinoza – unter dem Blickwinkel des Ewigen und der zeitlosen, die Welt aus sich herausproduzierenden Substanz – die Kausalität der »ewigen Notwendigkeit« von Dingen und Welt nicht zu zerstören ist; auch nicht durch den radikalen Zufall. Mit Spinoza die Angst vor dem Zufall und vor dem Spiel mit Identitäten verlieren – und sei es die Irritation, dass es Spinozas Ethik ist, die in Beugers calme étendue spricht, und dass sie es zugleich nicht ist.

Die Distanz zwischen Spinoza und der Gegenwart produktiv machen und zwischen Tradition und Entwurf changieren lassen. Die Erkenntnis des Fiktiven in Spinozas Argumentation als Befreiung empfinden und zugleich Spinozas Kritik an metaphysischen Hinterwelten und vermenschlichenden Projektionen ernst nehmen. Wehmut über den Verlust eines Denkens empfinden, dem Sprache und Wahrheit als Einheit galten, und zugleich sensibel werden für die Bindung zwischen Gott und Grammatik. Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben. [Friedrich Nietzsche] Sensibel werden auch – wie Hofmannsthal – für den Allgemeinheitssog der »Worte«, die sich »vor die Dinge gestellt haben«. Gott stirbt, die Wörter fallen auf sich selbst zurück. [Jean-Paul Sartre]: für die Neue Musik und Literatur alles andere als eine Tragödie.

 

Ab 29´30´´ Text Sprecher.   Beuger-Lesung leise im Hintergrund weiterlaufen lassen.

​Bspl. 12: calme étendue (spinoza)   [28´13´´ –       er die des nach zu teils ist auch im was zu war folgt dass der Geist um so ist

                                                                            zu je mehr sein mit hat

 

Spinoza ästhetisch lesen. Vor dem Hintergrund der Rationalisierung der Schrift im Druck mit beweglichen Lettern und der Auflösung des göttlichen Worts in eine Kombinatorik von Buchstaben und Silben. Texte generell von den Setzkästen Gutenbergs her lesen: als ein unendlich kombinierbares Repertoire der Worte und Gedanken: Setzkästen des Geistes, in denen sich schließlich auch Spinozas Ethik puzzleartig streut. calme étendue (spinoza). Und doch zugleich diese Streuung mit Spinoza als aufgehoben im »unendlichen Modus« der Sprache denken; mit den endlichen Modi der in Zeit und Geschichte sich ändernden, je verschiedenen Worte und grammatischen Gefügen der einzelnen Sprachen und Sprachvarianten. Allesamt im Sinne Spinozas eine Wirkung der einen welterzeugenden Substanz. Erkennbar in den Attributen Denken und Ausdehnung und deren Vermittlung mit dem Konkreten: Denken – vermittelt als unendlicher Verstand mit dem menschlichen Verstand und den Bedeutungen seiner Sprachen; Ausdehnung – vermittelt in der Gesamtproportion von Bewegung und Ruhe mit dem Wechsel der einzelnen Worte als Lautmaterial und dem Wechsel von Laut und Stille.

Bspl. 13: calme étendue (spinoza)  – 31´37´´] [3´24´´]

 

Stille – Zäsur der Sprache. Sprache – Zäsur der Stille. Gleichwertigkeit von Stille und Laut. Vergleichbar dem Wechsel von Ruhe und Bewegung – dem für Spinoza unendlichen Modus der Ausdehnung, allen Dingen gemeinsam. Im Nacheinander des Textes nicht das Gefühl für die Dauer seiner Gleichzeitigkeit verlieren, in der Bewegung nicht das Gefühl für die Ruhe. Für die Stille als Grund, auch wenn Stille nie still ist.

Lesen, sprechen, buchstabieren. Ohne Furcht, dass sich hinter der Maske der Sprache nichts befinden könnte. Lesbares, Unlesbares: wo verläuft die Grenze? Den Grund der Sprache grundlos werden lassen. Mit der Auswahl einsilbiger Worte den Zufall in der Notwendigkeit der Sprache aufdecken. Spinozas Gedanken über Zufall und Notwendigkeit in seine eigene Sprache hineintreiben. Wo sitzt der Gott der Sprache?

Spinozas Ethik im strengen Spiel mit der Sprache zu ihrem eigenen »Sprachspiel« machen. Eine zweite Sprache in der ersten erzeugen, mit einer geheimen Grammatik der Assoziationen im Unterschied zur bekannten Grammatik der Identifikationen. Kleinholz aus der gewöhnlichen Grammatik machen. [Ludwig Wittgenstein] Spinozas Sprache 1675: ein Kraftwerk des Begriffs zur Produktion von Erkenntnis – vor dem Zerfall der metaphysischen Dreifaltigkeit von Gott, Wahrheit und Sprache. Spinozas Sprache 1997: eine poetische Transformation des Begriffs, befreit von der Zeitordnung philosophischer Logik, ein Sagen und Nichtsagen gleicherweise.

Spinozas Ethik als ein System begreifen, das nicht geschlossen sein kann, weil es sich immer auch auf Sätze bezieht, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Die Moral des Urteils ausbleichen und Philosophie in Kunst hinüberspielen lassen. Die Logik der Schlüsse in einen musikhaft rhapsodischen Strom der Gedanken verflüssigen: offen für die Logik des Zufalls mit Perspektive auf Spinoza, für den die Streuung des Endlichen und die einzelnen Dinge nichts als Erregungen oder Daseinsformen (modi) [sind], durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden.

 

Bspl. 14: calme étendue (spinoza)   [10´15´´–11´17´´]    [1´02´´]

 

Schwarz:=Sprechstim­me Beuger

Rot=Geflüsterte Ergänzung durch den Sprecher (jeweils innerhalb des 8-Sekunden-Takts austarieren)

DIE einzelnen Dinge SIND NICHTS ALS Erregungen oder Daseinsformen (modi), DURCH welche DIE Attribute Gottes AUF gewisse UND bestimmte Weise ausgedrückt werden.

Bspl. 15 als Hintergrund einblenden und aufblenden.


Im Lesen von Spinozas Ethik sich Spinoza nähern, ohne diese Annäherung in Philosopheme aufzulösen. Die Sprache entmythologisieren, so wie Spinoza die Bibel entmythologisiert hat. Spinozas Ethik in eine Textmusik verwandeln, mit dem klaren, deutlich unterschiedenen Wort als Klanggrenze. Sprache nicht pulverisieren, bis sie zu knirschen beginnt und die letzen Lautbedeutungen sich auflösen. Nicht ins Indifferente, gar Konformistische gleiten, in eine abstrakte Negation des Sinns durch den Nicht-Sinn. Bewusst sein, dass der Sprache nicht zu entrinnen ist, dass die Abschaffung des Sinns nie gänzlich gelingt. Den Sinn eher auf subtile Weise zum Schwingen bringen, um Spinozas Ethik im Echoraum der Stille als eine philosophische Musik zu vernehmen.

 

Bspl. 15: calme étendue (spinoza)   [66´29´´ – 70´12´´][3´43´´] Gott und um so mehr je mehr er sich und wer sich und

                                                                                                 klar und Lust nach des teils und zwar mit der nach dem nach

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