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© Johannes Bauer, Struktur (Atmen) (2013), 29,7 x 20,9 cm, Acryl auf Papier

Zum Formenkreis des komponierten Atems

lDeutschlandRadio Berlin (2000)

Ein Radio-Dialog für zwei Sprecherinnen

»Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren.«

​Bspl. 1: Schnebel, Atemzüge [Tr. 3 (25´42´´-26´03´´)] (21´´)

A       Vielleicht war es so, oder so ähnlich, damals, am 8. Januar 1889, als Franz Overbeck seinen Freund, den Philosophen Friedrich Nietzsche, »stöhnend und zuckend« in dessen Turiner Herberge vorfand. Hineingeglitten in den »Kreis der Wahnvorstellungen«. - Oder vielleicht so?

Bspl. 2: Artaud, pour en finir avec le jugement de dieu [Tr. 8(Beginn - 0´41´´)](41´´)

Inszenierung eines Delirierenden, der »Fetzen aus der Gedankenwelt, in der er zuletzt gelebt hat, hervorstieß«, »worauf wieder Konvulsionen und Ausbrüche eines unsäglichen Leidens erfolgten«.

B       Warum dieser Beginn mit Nietzsche und Artaud? Warum dieser Beginn an den Rändern der Sprache in einem Gespräch zum Formenkreis des komponierten Atems? Wir könnten doch auch anders beginnen. Etwa so:

Bspl. 3: Shika No Toone für Shakuhachi [ZEN, Tr. 1 (1´07´´-1´40´´)] (33´´)

A       Nietzsche, Artaud, ein Stück für die japanische Bambusflöte -: alle diese Beispiele haben direkt oder untergründig etwas mit Atmen und Atem zu tun.

B       Trotzdem die Frage: warum diese Mischung? Und wo bleibt die Neue Musik?

A       Zumindest ein Beispiel daraus haben wir ja schon gehört. Sie erinnern sich:

Bspl. 4: Schnebel, Atemzüge (=Beispiel 1) (21´´)

$$

B       Fangen wir am besten nochmals von vorn an; oder fast von vorn. Mit einem Aspekt der abendländischen Kunstmusik nämlich, sagen wir bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich nehme an, Sie pflichten mir bei, dass der Ausdrucksbereich des Körpers jahrhundertelang durch ein spirituelles Reinheitsideal von der europäischen Kunstmusik ausgeschlossen war.

A       Deshalb der Verweis auf Japan? Hörbarer Atem, raue und geräuschhafte Tongebung als wesentliche Elemente der Shakuhachi-Musik.

B       Zum Beispiel. Die Meisterschaft des Shakuhachi-Spiels liegt ja gerade darin, sich dem Ton der Natur anzuschmiegen, etwa dem Geräusch des Windes in welkem Bambusgebüsch. Ausdruck einer Tradition der leidenschaftlichen Versenkung in die Farben und Töne der Natur.

A       Und Ausdruck einer Musik, die durch keine metaphysischen Jenseitsfilter vom materiellen Klang getrennt ist wie die christlich inspirierte des Abendlands.

B       Eben. Der sich selbst genügende Klang in der Komplexität seines Jetzt und Hier ist keiner, der sich von Natur erst zu reinigen hätte. Oder nehmen Sie noch ein anderes außereuropäisches Beispiel. Einen Dikr aus dem Sudan. Hier führt die Anrufung Allahs als unablässige Wiederholung seines Namens zu mystischer Entrückung. Und zwar mittels einer ekstatischen Dramaturgie geräuschhaft keuchenden Atmens.

Bspl. 5: Dikr (Sudan) [LP 1, B 2 (gegen Ende): Ausschnitt ca. 0´30´´] (30´´)

A       Ich muss bei diesem Beispiel unwillkürlich an Goethes West-östlichen Divan denken, an jene Stelle, in der er vom »Atemholen« als von »zweierlei Gnaden« spricht: »Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. / Jenes bedrängt, dieses erfrischt« und so weiter.

B       »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden« - ob Sie beim folgenden Beispiel immer noch an Goethe denken?

Bspl. 6: Lejeune, Parages [Le Cycle d’Icare (Chute)] (1´40´´)

A       Von »zweierlei Gnaden« kann hier weiß Gott nicht mehr die Rede sein. Eher von Angst, Schwindel und Abgrund.

B       Und genau darum geht es in der Komposition von Jacques Lejeune. Es geht um den Sturz des Ikarus, um ein endloses Sturz-Glissando, angekündigt vom Atem der Angst. Es geht um den Schock, der den Atem verschlägt, um den plötzlichen Höhenschwindel.

A       Interessant nur, wie sich der Sturz akustisch immer weiter entfernt und sich damit endlos fortzusetzen scheint. Interessant deshalb, weil sich der Sturz damit zur Chiffre auflädt.

B       Zur Chiffre wofür?

A       Vielleicht für das Bewusstsein der Angst. Das wäre zumindest angesichts der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht verwunderlich. Egal ob man nun die Geschichte der Angst von Kierkegaard bis Heidegger kennt. Die Geschichte von der Angst als dem »Schwindel der Freiheit«.

B       Ach ja, Kierkegaards berühmte Angst-Figur. Angst als die Erfahrung vom Blick in den Abgrund, aber auch von Atemnot und drohendem Ersticken, womöglich an der bitteren Speise des Lebens.

Bspl. 7: Lejeune, Parages [Le Cycle d’Icare (Chute)] (Nach ca. 45´´ abbl.)(0´45´´)

A       Fragt sich also, was Lejeunes Ikarus gesehen hat. Ist es der Schock des Abgrunds, der auch in Baudelaires Ikarus-Gedicht eine so zentrale Rolle spielt?

B       Oder ist es das Nichts, das ihm das schockhafte Atmen aufzwingt. Jenes Nichts, das seit Kierkegaard so eindringlich mit der Angst verbunden wird.

A       Und das Heidegger ebenfalls bemüht. Ihm »versinken« in der Angst »alle Dinge und wir selbst« in »Gleichgültigkeit«. »Es bleibt kein Halt. (...) Die Angst offenbart das Nichts«. - Und noch etwas: die Angst »verschlägt uns das Wort«. Womöglich gar den Sinn?

Bspl. 8: Ligeti, Aventures (Beginn bis ca. 1´25´´) (1´25´´)

B       Ob man bei den Aventures Ligetis allerdings mit dem Begriff der Angst weiterkommt? Eher macht doch ihr soeben gehörter Beginn das Atmen als den materialen Grund der Sprache bewusst.

A       Sie meinen als Anfang und Ende von Sprache?

B       Ja. Und überdies als den Grund einer Sprache, deren Sinn auf Konvention basiert, durch und durch künstlich ist.

A       Dies war übrigens eine der Überlegungen für den Beginn mit Nietzsche und Artaud. Beide haben schließlich das Fiktive und damit zugleich Freie des Sprachrapports blutig ernst genommen. Mit Blick auf Ausdrucksmöglichkeiten jenseits von Syntax und Urteil und deren Wahrheitsgier. Denken Sie nur an Artauds Credo »Briser le langage pour toucher la vie«, »Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren«.

B       Bis schließlich beide im Schrei oder im Schweigen des Wahnsinns endeten.

A       Das meinen Sie hoffentlich nicht abfällig.

B     Aber natürlich nicht. Ligetis Aventures und ihre künstliche Sprache jedenfalls zeigen, wie sehr die angeblich verständliche Sprache des Worts unverständlich, schal, ausdruckslos geworden ist. Sicher mag das ein Angstmoment beinhalten. Aber eben doch nur ein Moment.

A       Atmen also als materialer Grund von Artikulation und Sprache. Aber auch als eine Art Windmaschine des emotionalen Repertoires.

B       Schön formuliert. Sicher wird der Sprachgrund des Atmens verstärkt, insofern Ligetis Mimodram pure Lautdichtung ist: asemantisch und in phonetischer Schrift notiert.

A       Man könnte auch sagen, erst mit ihrer Dekomposition wird Sprache auf ihren körperhaften Grund hin durchlässig. Erst jetzt kann sie ihr energetisches Luftmoment als ästhetisches Element einlassen, das Atmen.

B       Und deshalb taucht auch beides, die Dekomposition der Sprache und das Geräusch des Atmens, fast zeitgleich in der Musik auf. Wie gesagt: Ligetis Libretto lädt sich hauptsächlich seiner Künstlichkeit wegen mit einem gestischen Ausdruck auf, der es verständlich und unverständlich, bekannt und unbekannt zugleich werden lässt.

A       Und grotesk und unheimlich in eins. Auf jeden Fall werden die emotionsgeladenen Rollenspiele der Sänger tatsächlich zu Aventuren, zu Abenteuern auf dem Gebiet der Expression. Getragen vom Atem als Grund der  Artikulation und, wie ich sagte, in Form einer Windmaschine des emotionalen Repertoires.

B       Um auf Ihren Gedanken vom Zusammenhang zwischen dekomponierter Sprache und komponiertem Atem einzugehen. Für ihn spricht auch, dass zumal in den 60er- und 70er-Jahren zahlreiche Komponisten auf der Basis einer rein phonetischen Sprache arbeiten und diese Basis auf den Formenkreis des Atmens hin erweitern.

A       Als da wären -

B       zum Beispiel Mauricio Kagel oder Luciano Berio.

Bspl. 9: Berio, Visage [Ab ca. 1´45´´(aufbl.) bis »parole«] (1´57´´)

Man kann das Herausproduzieren der Artikulation aus dem Reservoir des Atems wie unter Geburtswehen wohl kaum eindringlicher zu Gehör bringen. Eine traumatische Sequenz, die Berios Visage hier in Szene setzt. Und wenn die aus den realen und künstlichen Atem-Geräuschen auftauchende Artikulation aufs Deutlichste im Wort »parole« kulminiert, liegt darin etwas von Beschwörung.

A       Und von einem Bedürfnis nach Halt.

B       Aber auch die Erkenntnis, dass dieser Halt der »parole«, der Worte, der Sprache trügerisch ist.

A       Das klingt, als verdichte sich bei Berio eine Reflexion aus Hofmannsthals Chandosbrief: Sprache als ein Mittel der Konvention und damit auch einer gewissen Sicherheit; Sprache auf Grund dieser konventionellen Fasson aber auch als ein beängstigender Abgrund, der auf das Leere hin durchlässig wird: auf das Rauschen des Atems.

B       Wir sollten uns nur hüten, die komponierten Atemgeräusche der Neuen Musik auf Angst hin einzuengen. Eine Facette des Atmens liegt beispielsweise im Assoziationsbereich des Schlafs.

A       Und damit auch des Todes, des »Schlafes Bruder«.

B       Und des Traums. Schlaf, Schlafen -. Seitdem sich die Geschäftigkeit des Tages zur rastlosen Profitökonomie auszuwachsen und allen Zauber der Nacht und der Fantasie als unrentablen Seelenluxus in die Sphäre des Ästhetischen abzudrängen begann, lockt der Reiz des Nächtlichen umso mächtiger.

A       In den großen Nachtgedichten Eichendorffs etwa - mit ihrem Rauschen als einer Atemsprache der Natur.

B       Schlaf, Traum: letzte Refugien in einer zunehmend von Schlaflosigkeit und Alpträumen geplagten Funktionswelt. Apropos Eichendorff. Seine Rede von der »wunderbar verschränkten Hieroglyphe« Natur führt uns aufs Schönste zu einer anderen Nische, in die sich die Sehnsucht nach dem verwehrten Zauber des Nächtlichen flüchten konnte. Ich meine zum Zauber Ägyptens.

A       Und damit zur Faszination einer Kultur, in der das Nacht- und Todesreich von dem des Tages und des Lebens nicht zu trennen ist.

B       Eben dieser altägyptische Mythenkreis hat den 1998 verstorbenen Komponisten Gérard Grisey mehrfach beschäftigt.

A       Womit wir wohl endlich bei den pneumatischen Übungen des New Age wären.

B       Bei wem?

A       Bei den Seelenmassagen des New Age und seiner Konfektionsmusik für Gestresste.

B      Keineswegs. Warum sich bei Grisey keine Spur von meditativem Schnickschnack findet, hängt mit der Struktur seiner Musik zusammen. Sie konturiert zwar einen Horizont der Analogien, ohne ihn jedoch auch nur im geringsten zu illustrieren. Mag sich Griseys Komposition Jour, Contre-Jour auch vom altägyptischen Mythos des Wegs der Sonne durch das Reich der Toten inspiriert zeigen: programmmusikalische Deutungen wären sinnlos; noch sinnloser die Projektion kruder Polaritätsmuster wie die von Tag und Nacht.

A       Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Jour, Contre-Jour eher eine Musik des Bündnisses von Tag und Nacht, von Leben und Tod gegen deren ökonomieverrückte Spaltung. Ein Stück Zivilisationskritik also.

B       Ein Stück musikalischer Zivilisationskritik, formuliert durch die kompositorische Struktur selbst. Schon der Anfang mit dem körperhaften Repertoire sich beschleunigender Puls- und Herzschläge und vereinzelter Atemzüge wirkt wie der Beginn einer archäologischen Seelenfahrt in Bereiche, die der ökonomischen Nachtblindheit unzugänglich sind. Hier wird der Sprachschatten des Atems zu einer mächtigen Schattensprache, die der Lichtmetaphorik der Komposition im weiteren Verlauf erst Kontur und Kontrast gibt.

Bspl. 10: Grisey, Jour, Contre-Jour (Bei 2´00´´aufbl.) (1´00´´)

A       Übrigens haben ja schon Stockhausens Hymnen eine lange Phase ruhigen Atmens zum Traumszenarium inszeniert. Weit programmatischer und eindeutiger allerdings als Grisey.

B       Im Jahr 1970, glaube ich.

A       Früher, 1966/67. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtiger ist für uns Stockhausens Absicht. Ihm geht es um Völkerverständigung; um eine befriedete Welt auf dem Weg zum »utopischen Reich der Hymunion in der Harmondie unter Pluramon«, wie Stockhausens griffiger Formelreigen das nennt.

B       Planetarisch-kosmische Dimensionen also,

A     die Stockhausen über die elektronischen Klangtransformationen und Intermodulationen zahlreicher Nationalhymnen zu Gehör bringen will.

B       Und dabei spielt, lassen Sie mich raten, die visionäre Sphäre des Traums eine entscheidende Rolle, angedeutet eben durch eine Atemsequenz.

A       Genau so. Wenn in der vierten Region der Hymnen Stockhausens Atemzüge von Erinnerungseinschüben, das heißt von früheren Stationen der Hymnen, sprich: Ländern und Völkern, resümeehaft durchquert werden,

B       dann liegt der Gedanke an den sprichwörtlichen Traum von einer besseren Welt auf der Hand.

A       Eben. An einen Traum jedenfalls, zu dessen Verwirklichung Stockhausens Musik animieren will. Indem sie beispielsweise in einem offenen Entwurf der Stille von fast eineinhalb Minuten endet; oder indem Stockhausen über die Stimme eines Croupiers nachhaltig zum Einsatz, sprich: Engagement für das Unionsprojekt Welt auffordert.

B       Nun denn: »Faites vôtre jeu, Messieurs, dames, s’il vous plaît!«

Bspl. 11: Stockhausen, Hymnen, IV [Tr. 55 (ab 0´10´´ aufbl.) - Tr. 57 (0´45´´)(1´33´´)

A       Gleichwohl droht die planetarische Dimension immer wieder ins Dekorative, Triviale abzustürzen.Weil Stockhausens Höhenflug die materiell geschichtliche Basis aus dem Blick verliert

B       Gewissermaßen die  Berührung mit dem Boden des Allzuirdischen.

A       So könnte man sagen. Am auffälligsten wird dies anlässlich der von Stockhausen selbst ausgegebenen Formel  »Pluramon«, einer Art Mantra für die Idee der Universalität. Wird dieses Mantra zunächst nur zögerlich wie im Halbschlaf gemurmelt, flankiert von gleichmäßigen Atemzügen, um schließlich wie in einer plötzlichen Erleuchtung verkündet zu werden, erinnert das an einen Werbeslogan, noch dazu an einen dilettantisch produzierten.

B       Den Stockhausen im Dienst der guten Sache aber verteidigen dürfte.

A       Sicher. Nur wirkt die Stelle inmitten der hymnischen vierten Region mit ihren weihevoll statischen Klangblöcken und ihrer umfassenden Welt-Idee leicht schief und unfreiwillig komisch.

Bspl. 12: Stockhausen, Hymnen, IV [Tr. 61 (0´41´´) bis z. 2. »Pluramon«)](2´22´´)

B       Lassen wir einmal das Sendungsbewusstsein des Meisters beiseite. Den globalen Blick vom All aus auf den Blauen Planeten und seine Völkerschaften samt dem Steckbrief ihrer Nationalhymnen. Mich beschäftigt mehr die Aura des Atmens. Obwohl Stockhausens Hymnen-Musik auf des Messers Schneide tanzt, großartig stringente Partien neben solche eines messianisch inspirierten Multikulti setzt: man kann sich der Faszination der Atempartien nicht entziehen. Es scheint fast so, als könnte der komponierte Atem die Musik selbst noch von einem falschen Zungenschlag erlösen. Woran liegt das? Was meinen Sie?

A       Vielleicht daran, dass Atmen zum radikalen Kürzel für Leben und Tod geworden ist. Zu verstehen als eine soziale Spiegelungsfigur. »Das Leben lebt nicht«, steht als Motto in Adornos Minima Moralia. Umgekehrt könnte man sagen, dass die Verdrängung des Todes in der Funktions- und Betäubungsgesellschaft genug über deren Lebensentwurf aussagt. Die Verdrängung des Todes und die von Leben hängen engstens miteinander zusammen. Leben, oder noch deutlicher: Lust und Tod sind die großen Skandale einer Gesellschaft, die alle zu Geiseln der Ökonomie macht. Kein Wunder, dass der industrielle Furor, dessen Profitdiktat dem Leben den Atem nimmt und Lebenszeit zur bloßen Frist, womöglich zur Galgenfrist entwertet, das Röcheln und Seufzen der Sterbenden wenn nicht verbieten, so doch wenigstens am liebsten in schalltote Räume verlegen möchte. Vor dieser Szenerie lädt sich das Atmen gleichermaßen zur Hoffnungs- wie zur Resignationschiffre aller Entwürfe und Utopien auf.

B       Und Sie glauben wirklich, all das spielt bei den Atemsequenzen der Neuen Musik eine Rolle?

A       Ich denke schon. Zumindest in Form eines untergründigen Assoziationshofs.

B       Szenenwechsel! Helmut Lachenmanns Komposition temA für Flöte, Stimme und Violoncello verweist schon im Titel auf den Formenkreis des Atmens. temA, anders kombiniert, buchstabiert sich zu »Atem«. Allgemein gesprochen demonstriert Lachenmanns Komposition die Unmöglichkeit - zum Glück - einer reinen, unberührten, der Geschichte enthobenen Natur.

A       Sie meinen im Sinn des Gedankens, dass noch der Blick des Forschungsreisenden, sollte er denn auf ein Stück unentdeckter Natur stoßen, geschichtlich gebrochen ist.

B       Genau. Lachenmanns Musik zielt gegen den Mythos einer Ur-Natur auf deren Veränderlichkeit und Veränderbarkeit.

Bspl. 13: Lachenmann, temA (9´49´´-11´04´´) (1´15´´)

A       Das verschlägt einem nun wirklich den Atem. Diese Musik unablässig komponierter Plötzlichkeiten. Keine Spur mehr von der schalen Ausdruckskunst eines theatralisch aufgespreizten Subjekts; eher eine -

B       Explosion des Körpers, die die Bedeutungen aus dem materialen Inneren der Sprache hervortreibt.

A       Der Sprachbegriff erweitert sich, indem Sprache nicht mehr lediglich als ein mediales Objekt des Ausdrucks begriffen wird.

B       Im Gegenteil: es geht um einen Sprachbegriff, in dem das Artikulationsrepertoire des Atmens selbst zur Sprache wird. - Um nochmals auf den Gedanken einer durch und durch geschichtlichen Natur zurückzukommen: dem Mythos vom Atmen als einem Versprechen reiner Natur widersteht Lachenmanns temA gerade durch den Einsatz einer enorm entwickelten und in sich emanzipatorischen Technik.

A       Eben. Rückwärts gewandten Geborgenheitsträumen verweigert sich eine Musik, der bewusst ist, dass die Sprache des Körpers erst an einem bestimmten Punkt der Geschichte ihre ästhetische Internierung sprengen konnte, ja musste.

B       Um vom Stand der technischen Mittel und ihrer emanzipatorischen Kraft in temA eine Vorstellung zu bekommen, vergegenwärtigt man sich am besten das virtuose Artikulationsrepertoire der Komposition. Angefangen vom schlichten Atmen über geflüsterte Dialoge bis hin zum »schreienden Einatmen« soll die Sängerin auch noch ›ganz hinten im Hals hecheln‹ oder den »Ton durch unnatürlichen Druck verzerren«, außerdem zwei Tremolo-Arten anwenden: Schnarchen und Knattern. Und das alles mit einer ungeheuren Agilität, die zeigt, wie aus dem Seelenton der Stimme einer der Lust und des Widerstands geworden ist.

A       Schnarchen und Knattern: indem kein Geräusch zu minder ist, wird zugleich die Ausgrenzungsgewalt des Zivilisationsprozesses ein Stück weit zurückgenommen.

B       Insbesondere weil der Klang - so Lachenmann - als »Nachricht seiner Hervorbringung und der dabei mitwirkenden mechanisch-physikalischen Bedingungen« gezeigt wird.

A       Und nicht nur das. Indem Lachenmanns Autopsie des Tons den Zusammenhang zwischen der Materialbasis des Klangs - bis hin zum Atmen - und dem musikalischen Diskurs einsichtig macht, praktiziert sie musikalische Metaphysikkritik. Die Idee ist von ihrer materialen Basis nicht zu lösen. Endgültig passee ist der Platonismus einer Musik des reinen Tons und der reinen Bedeutung.

Bspl. 14: Lachenmann, temA (12´53´´-14´00´´)(1´07´´)

B       Den Abschied vom Platonismus des reinen Tons, wie Sie das genannt haben, vollzieht in kompromissloser Weise auch Dieter Schnebel. Seine Atemzüge von 1970/71 komponieren Atemverläufe. Nicht mehr und nicht weniger. Schnebel bezeichnet sie als Exerzitien, die zu Produktionen werden können.

A       Exerzitien – das klingt nach Praktiken der Besinnung und inneren Einkehr.

B       In gewisser Weise sind sie das auch. Sollen doch »Atemtiefe und Atemgeschwindigkeit«, »Mund- und Zungenbewegungen« und schließlich »die Stimmbänder in die Atemgestaltung einbezogen« werden.

A       Was heißt, dass die Ausführenden mit den in den »Exerzitien« gesammelten Erfahrungen »Produktionen« in Gang setzen können.

B       Oder Prozesse in Form von Interaktionen zwischen den Ausführenden; Prozesse aber auch zwischen den Interpreten und dem Publikum. Und dass sich solche Prozesse mit der ganzen Palette an egoistischen und alt-ruistischen Emotionen und Praktiken aufladen können, wen wundert es.

Bspl. 15: Schnebel, Atemzüge (27´00´´-28´52´´) (1´52´´)

A       Was zunächst allzu therapeutisch klang, erschließt sich beim Hören dieser Atem-Musik als ein tiefgründiger Exkurs zum Zusammenhang von Genese und Geltung.

B       Genese und Geltung? In Bezug worauf?

A       In Bezug darauf, dass die Musik zu lange, zu hartnäckig ihre feudale Komponente verteidigt hat: das reine, schlackenlose Endprodukt.

B       Sie meinen den schönen Ton, die schöne Ordnung der Konstruktion, die Schönheit des sublimierten Ausdrucks, so hässlich und abgründig er sich zuweilen auch gebärden mochte?

A       Ja. Schnebels mit analytischer Aufmerksamkeit interpretierte Produktionsprozesse dagegen nehmen die vormals zu organischen und stimmlichen Handlangern abgewerteten Produzenten des Tons endlich ernst. Allem voran den Atem.

B       Für Schnebel gibt der Atem »selbst schon genug Geräusche her«. Mehr noch aber ist der ›Atemrhythmus formbildend für die Laute‹. Laute also als eine »hörbar gemachte Atemäußerung«.

A       Die Richtung wäre somit klar: Schluss mit einer Körperdessur, die von der materiellen Produktion des Tons ablenkt. Vom Ansatz her erinnert diese »Einbeziehung des Körpers« stark an Artaud. Als wäre Artauds Le Théâtre et son double von 1938 auf die Musik übertragen worden. Auch für Artaud ist ja - Zitat - »die Frage des Atems (...) die wesentliche«. Zumal sogar die Schauspieler »vergessen haben, dass sie auf dem Theater einen Körper hatten«.

B       Dies trifft sich exakt mit Schnebels Ansatz. Zudem geht es Schnebel in den Atemzügen wie auch in den Choralvorspielen um eine Säkularisierung des Pneumas. Um das Wehen eines kreatürlichen Geistes sozusagen, der die Dinge mit »experimenteller Fantasie« durchdringt.

A       Sie erwähnten soeben Schnebels Choralvorspiele. Ich kann mich noch gut an eine ihrer Aufführungen erinnern, bei der mich beindruckt hat, wie die Musik die Kirchentüren aufstieß - ins Offene, Freie.

B       Erst dann nämlich wird es interessant und nötig, der Welt zuzuhören, mit all ihren Alltagsgeräuschen und ihrem technomorphen Hintergrundrauschen.

A       Damals wurde mir klar, wie sehr Schnebel dem Pfingst-Mythos verpflichtet ist: starr separierte Sphären, versteinerte Normen und Konventionen müssen vom Sturm, vom Atem revolutionärer Imagination durchdrungen und aufgebrochen werden, bevor sie zu neuen Konstellationen zusammenschießen können. Lassen Sie mich aber noch kurz auf eine Schlussversion der Choralvorspiele I eingehen. Sie zeigt nämlich über das Motiv des Atmens, mit welcher zivilisatorischen Gewalt es das ästhetische Unternehmen zu tun hat. Schnebel komponiert hier ein beinahe heroisches Athletentum moderner condition humaine. Ein Ineinander von panischem Nach-Luft-Ringen - nahe am Ersticken, umtost von aggressivem Motorenlärm - und heftigstem An- und Gegen-Atmen gegen die strangulierende Wucht einer technizistischen Welt. Mörderische Attacke und Momente des Widerstands verschränken sich zu einer wahrhaft atemberaubenden Intensität des Ausdrucks. Vor allem, indem die schockartigen Atemstöße punktuell die Kraft eines Sogs gewinnen: in Kombination mit den nur knapp zeitversetzten und daher wie kausal an sie gebundenen, brutal einbrechenden Schlägen der Instrumente. So als könnten die Atemstöße die Agonie ruckartig von einem Punkt der Befreiung her aufbrechen, um dann doch wieder wie gelähmt zu erstarren.

Bspl. 16: Schnebel, Choralvorspiele I (8´47´´ – Ende) (1´37´´)

B       Zurück zu Schnebels Atemzügen. Schnebel verwandelt in ihnen das Atmen in eine Sprache sui generis

A       und emanzipiert damit die Partialtriebe der Stimme: atmen, röcheln, stöhnen, ersticken; wie gesagt, nichts wird ausgeschlossen.

B       Das bislang Knechtische der unteren Produktionssphäre, die der Organe, rückt ins Bewusstsein, um mit ihrer Emanzipation auch den schönen Ton von seiner sterilen Herrschaft zu erlösen. Es geht demnach um eine Aufhebung von Hierarchie- und Machtverhältnissen.

A       Und um eine Archäologie des Verschütteten und Tabuisierten, die die Ausdrucksvielfalt des Atmens bewusst macht. Eine Vielfalt der Besonderungen, die nicht in der Identität der Individualität aufgeht. Anders etwa als die Stimme im Bereich der gesprochenen Sprache, die über ihre Klangfrequenzen individuell identifizierbar ist.

B       Deshalb wird institutionell ja auch schon genügend von Spracherkennung Gebrauch gemacht. Atemerkennung wäre schlicht ein Unding. Atemgeräusche ermöglichen höchstens Unterscheidungen in puncto Geschlechtszugehörigkeit.

A       Und doch: trotz des Verschwindens - oder sollte man besser sagen: trotz des Überschreitens individueller Erkennbarkeit reicht Atmen in die individuelle Existenz hinein wie keine Sprache sonst. Vielleicht liegt darin eine weitere Facette der Aura des Atmens. Atmen - das Individuellste und Allgemeinste zugleich. Vor- und übersprachlich, Gattung wie Individuum in gleicher Weise verbunden.

B       Sie meinen als eine wahre Vox humana; während die verbalen Sprachen stets das Erbe der babylonischen Sprachverwirrung mit sich führen und an der Last der Bedeutung und dem Allgemeinheitssog ihrer Begriffe zu tragen haben.

A       Genau. Atmen als die letzte Lingua franca einer Menschheit, die wie besessen daran arbeitet, den eigenen Naturgrund zum Verschwinden zu bringen. Atmen aber auch als eine Lebensäußerung, die von der Unterwerfung unter kapitalistische Vermarktungszwänge noch weitgehend verschont geblieben ist.

B       Daher vielleicht die starke Naturassoziation, die sich mit dem Atmen verbindet.

A       Vielleicht. Atem - schon das Wort ist nur im Singular verwendbar - wird durch die Grammatik des Atmens zum Ausdruck eines Kollektivsingulars: dem Gattungssubjekt als letztes körperhaftes Memento eingeschrieben.

Zum Schluss noch eine Erfahrung mit einer anderen pneumatischen Musik, mit Luigi Nonos »Das atmende Klarsein« für Bassflöte, Chor und Live-Elektronik auf Fragmente aus antiken orphischen Dichtungen und Rilkes Duineser Elegien.

B       Das klingt nach Todesmystik oder nach einem Kult der Verinnerlichung im Sinne von Rilkes »Nirgends wird Welt sein als innen«.

A       Gleichwohl wäre nichts verkehrter als das. Nonos Musik ist kein Memento mori. Im Gegenteil: sie ist eine des Memento vivere auf der Basis einer Versöhnung von Tag und Nacht - wie bei Grisey. Wenn überhaupt, dann liegt darin ihr orphisches Element.

B       Und doch: indem Nonos Musik auf Grund ihrer ins Piano und Pianissimo possibile zurückgenommen Dynamik von weither zu kommen scheint, nimmt sie auch etwas Mystisches an, finden Sie nicht?

A       Aber auch etwas Sirenenhaftes, Verlockendes. Wenn Nono mehrmals Rilkes Wendung »ins Freie« aufgreift und die Musik immer wieder auf langen Fermaten Atem schöpfen lässt, wird klar, wie sehr es ihm um Suspension geht. Um den Atem der Suspension und damit um den befreiten Augenblick.

B       So als könnte die atmende Verschwendung der Zeit die gängige atemlose Vernichtung des Augenblicks wie in einem Spiegel entlarven.

A       Ja. Und was könnte wie bei Nono den Atem der Suspension besser zum Ausdruck bringen als ein Instrument, das vom menschlichen Atem zum Klingen gebracht wird? Dem Körper deshalb ungleich enger verbunden ist als die manuell mit größerer Distanz gespielten Streicher? Die Flüchtigkeit, die Klage und das Versprechen des Naturlauts bewahrt der Flötenton jedenfalls weit dringlicher.

B       Und auch das Wechselspiel zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen Atem und Wind beispielsweise, im Eingedenken eines gemeinsamen pneumatischen Grundes. Und dies alles mit einem Ton, der stark und fragil zugleich ist.

A       Einem Ton, der das Starre zum Vibrieren bringt. Dieses atmende Erzitternlassen wird bei Nono produktiv, sofern die Partien von Soloflöte und Live-Elektronik minimale Abweichungen, Wandlungen und Zwischentöne des Klangs entfalten, die gehört werden wollen: mit einer Sensibilität der Differenzierung und imaginativen Aufmerksamkeit. Eine hintersinnige Metapher für die verkannten Möglichkeiten des Jetzt und Hier und für die Harthörigkeit einer Zeit, in der sich Wirklichkeitsterror und Weltverlust ergänzen.

B       Mir scheint, Musik solcher Stille wird selbst zum offenen Ohr für leiseste Resonanzen und Echos -

A       und zum Resonanzboden für Unhörbares, Überhörtes, Unerhörtes. Nono vertraut auf die Imaginationskraft des Gehörs. Und vielleicht auch darauf, dass das Aus- und Aufatmen seiner Musik die Atemlosigkeit einer Welt im selbstvergessenen Taumel der Verwertung doch noch verstört.

B       Das haben Sie, glaube ich, nun doch etwas zu gutgläubig formuliert. Aber warum auch nicht – im Sinn eines ermutigenden Schlussworts ...

A       Eben. Und im Sinn einer Musik des Versprechens - als könnte es sich doch noch entfalten: »nach spätem Gewitter, das atmende Klarsein«.

Bspl. 17: Nono, »Das atmende Klarsein« [Tr. 1 (0´44´´-3´17´´)] (2´33´´)

 

 

Musik- und Tonbeispiele

 

Beispiel  1: Schnebel, Dieter, Atemzüge  (wergo 286 287-2)                                               

 

Beispiel  2: Artaud, Antonin, pour en finir avec le jugement de dieu  (sub rosa SR92)    

 

Beispiel  3: Shika No Toone für Shakuhachi  (wergo SM 1033/34-50)                

 

Beispiel  4: Schnebel, Atemzüge                                                                                          

 

Beispiel  5: Dikr (Sudan)  (Museum Collection Berlin MC 10)                                           

 

Beispiel  6: Lejeune, Jacques, Parages  (INA Collection GRM, AM 709.06)                      

 

Beispiel  7: Lejeune, Parages                                                                                               

 

Beispiel  8: Ligeti, György, Aventures  (Deutsche Grammophon 423 244-2)                      

 

Beispiel  9: Berio, Luciano, Visage  (BVHAAST 9109)                                                      

 

Beispiel 10: Grisey, Gérard, Jour, Contre Jour  (ACCORD SACEM 201952)                      

 

Beispiel 11: Stockhausen, Karlheinz, Hymnen  (Stockhausen Verlag 10 A-D)       

 

Beispiel 12: Stockhausen, Hymnen                                                                                    

 

Beispiel 13: Lachenmann, Helmut, temA  (AUVIDIS MO 782023)                                            

 

Beispiel 14: Lachenmann, temA                                                                                       

 

Beispiel 15: Schnebel, Atemzüge                                                                                         

 

Beispiel 16: Schnebel, Choralvorspiele I  (wergo 286 287-2)                                               

 

Beispiel 17: Nono, Luigi, »Das atmende Klarsein«  (col legno WWE 31871) 

 

            

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