
Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik
DeutschlandRadio Berlin 2003
A Wie weit trägt heute noch eine Philosophie der Neuen Musik, die am Subjekt, an Durchgestaltung und Stimmigkeit, am «Ausdruck des Entsetzens» festhält? Zumal in einer Welt der schnelligkeitstrainierten Funktions- und Wahrnehmungsmuster, der Übermacht von Kurzzeitgedächtnis und elektronischer Zeitüberlistung, der gebrochenen und gleitenden Oberflächenidentitäten? Gilt Adornos Ästhetik in der Auseinandersetzung mit der Kunst ihrer Zeit mittlerweile nicht zu Recht als Denkmal einer normativen Ästhetik? Zu sehr gefangen in ihren dogmatischen Fallen, um etwa der Vielfalt zeitgenössischer Musik gerecht zu werden? Einer Vielfalt, der kein Weltgeist mehr souffliert, wie zu komponieren sei?
Auch wenn es in der Nachfolge Adornos allzu lange üblich war, der Neuen Musik ein gutes Gewissen zu verschaffen, indem man sie zum schlechten der Gesellschaft erklärt hat: Mindestens ebenso lange wird Adornos Rigorosität kritisiert, die vieles aus dem Bereich der Musik des letzten halben Jahrhunderts vom Ensemble legitimer Ausdrucksformen ausgeschlossen habe. Ein Ausschlussverfahren um den Preis allerdings, dass die künstlerische Praxis unbekümmert um solche ästhetischen Gebote ihren Weg ging. Denn nicht jeder – so der Philosoph Peter Sloterdijk – der außerhalb der «Dissonanzpflicht» gegen «Konsonanztabus» verstoße, muss darum bereits ein «Mitläufer der falschen Totalität» sein. Vom «Verhängnis der Welt» könne man schließlich auf «verschiedene Weise wissen».
Und doch war es gerade Adorno, der immer wieder auf den Zeitkern philosophischen Denkens verwiesen hat, das eigene nicht ausgenommen. Und damit auf eine Instanz der historischen Ernüchterung, die in den philosophischen Texten ein Gefüge der Spannungen und Widersprüche, der Mehrdeutigkeiten, Überschreibungen und Offenheiten freilegt. Adornos keineswegs doktrinär geschlossene Ausführungen zur ästhetischen Konstruktion, zur Unversöhnlichkeit der Kunst oder zum Faktor Subjekt werden in dieser Textur zur kritischen Masse, ja zum Überschreitungspotenzial seiner Philosophie und Ästhetik.
Für Adorno ist der Geist einer Komposition von der Schriftlogik der Notation nicht zu trennen:
B «Ohne Schrift keine hochorganisierte Musik; der historische Unterschied von Improvisation und musica composita fällt qualitativ mit dem des Laxen und des verbindlich Artikulierten zusammen».
A Notenschrift, Organisation und Artikulation aber zielen auf Sinn, auf Logik; mögen Sinn und Logik sich in der Musik auch mimetisch verwandeln, das heißt auf einer eher intentionalen und äußerst verschatteten Kausalität basieren. Außerdem zielen Sinn und Logik auf das Medium einer qualitativ artikulierten Zeit, von der Adorno die Neue Musik keineswegs entbunden wissen will.
B «Das zeitlich Aufeinanderfolgende, das die Sukzessivität verleugnet, sabotiert die Verpflichtung des Werdens, motiviert nicht länger, warum dies auf jenes folge und nicht beliebig anderes. Nichts Musikalisches aber hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes bestimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorhergehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander.»
A Natürlich geht dieser Zeitbegriff, gemessen an der Musik der letzten Jahrzehnte, ins Leere. Kompositionen, die auf den Zufall, auf variable Formen, auf eine akausale Energetik oder auf aktions- und situationsbestimmte Überschreitungen des Werkbegriffs setzen, fügen sich nicht mehr einer Zeitvorstellung, die sich letztlich am Urmodell motivisch-thematischer Folgelogik orientiert.
Bspl. 1: Cornelius Schwehr, Do you know what it means to miss [Tr. 2: 0´00 – 1´39] [1´39]
A Immanente Stimmigkeit und qualitative Zeitartikulation: für Adorno bestimmen diese Strukturkomponenten die Qualität einer ‹denkenden Musik›. Einer Musik, komplex und welthaltig, im Widerstand gegen ihre Zeit, von ihr erfüllt und sie zugleich überschreitend. Denkende Musik: für Adorno ist sie die einzige, die ihren Namen verdient. Das «zerrüttete Kunstwerk», das als «Gegenstand des Denkens» gesetzt ist und «am Denken selber Anteil» hat: für Adorno ist es die zentrale ästhetische Reflexionsform der Moderne.
Was Adorno jedoch an der Konsistenz und am Denken des musikalischen Werks festhalten lässt, ist seine historisch begründete Angst vor dem Vergessen. Die Angst, sich dem Geschichtsverlust einer profitversessenen Gesellschaft der schnellen Zirkulation auszuliefern: Und damit, vom Fokus Auschwitz her, einem drohenden Rückfall in die Barbarei. Dass am Ende gar →
B → «Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liquidiert» wird, dass «die Menschheit sich der Erinnerung entäußert, um kurzatmig in der Anpassung ans je Gegenwärtige sich zu erschöpfen»: →
A ← diese Gefahr ist es, die Kunst zum «Gedächtnis des akkumulierten Leidens» werden lässt. Hat Musik etwas mit Erkenntnis, mit Wahrheit zu tun, steht es ihr nicht frei, sich unbekümmert zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten. Was also könnte Adorno von diesem Anspruch her eine Musik bedeuten, die die Struktur radikal abrüstet? Eine Musik etwa wie John Cages 4´33?
Bspl. 2: John Cage, 4´33 [Tr. 4: 0´0 – 0´37] [0´37]
A Eine Musik nicht nur im Echoraum der Stille, sondern als Echoraum der Stille: für Adorno wäre sie eine Überläuferin zum «krud Empirischen», eine Regression aufs Vorkünstlerische. Mag man ihr auch eine äußerste Konsequenz im Ablassen von musikalischer Naturbeherrschung zubilligen: Weit mehr gilt Adorno ein solches Konzept von Musik als «amorph».
B Musik «opfert(.) Logik und Stimmigkeit und überantwortet(.) sich dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität».
A Gegen die Übermacht einer codierten Welt, der alles kommunizierbar, weil kommerzialisierbar scheint; gegen das Ersticken an Tönen und Signalen, gegen die Tätowierungsfunktion der Zeichen und ihre ständige Sinnpräsenz weiße, leere, asignifikante Momente komponieren; Stille, Rauschen, Leerstellen, Ortlosigkeiten des Bewusstseins: Adorno interpretiert ein solches Aufgeben von Organisation und Artikulation als Entlastungskategorie des geschwächten Ichs im Zeichen seiner Ohnmacht. Trotz aller ästhetischen Differenzierung bleibt Musik für Adorno der Logik des Denkens verschwistert. Arbeitet hier nicht der Denker gegen den Künstler Adorno?
Adorno den Vorwurf zu machen, seine Arbeiten zur Neuen Musik seien mehr über als in den Sachen, klingt ketzerisch. Wer sonst als Adorno hätte sich eingehender mit der Abstraktionsgefahr des Begriffs auf ästhetischem Gebiet auseinander gesetzt? Wer sonst – außer Nietzsche – hätte die Gewalt der kompositorischen Konstruktion, wer sonst die theologischen Relikte im Unbedingten der Werke unnachgiebiger aufgedeckt und in zahlreichen Einzelanalysen thematisiert? Und doch waren für Adorno musikalische Praktiken im Sinn einer Erweiterung und Aufhebung der werkzentrierten Ästhetik ihrerseits Gewalt, voreilige Aufkündigungen eines letzten Rests an Subjekt.
Eines letzten Rests wohlgemerkt. Denn für Adorno war klar,
B «dass die jüngste Geschichte, die fortschreitende Entmächtigung des einzelnen Individuums bis zur drohenden Katastrophe des Ganzen, den unmittelbaren Ausdruck von Subjektivität mit Eitelkeit, mit Scheinhaftem und Ideologischem überzogen hat. Das Subjekt (...) hat schließlich selber als ephemer sich entblättert. Während es so tut, als wäre es der Schöpfer der Welt, oder der Weltgrund, ist es, englisch gesagt, fake, bloße Veranstaltung dessen, der sich aufwirft, sich aufspielt, während an ihm real kaum mehr etwas liegt. (...) So wenig Musik, Kunst überhaupt, bar des subjektiven Moments gedacht werden kann – sie muss eben jener durch den Ausdruck sich bespiegelnden und damit allemal affirmativen Subjektivität sich entschlagen, die der Expressionismus geradewegs von der Neuromantik ererbte».
A Und doch: Eben weil sich Adorno über die Zerrüttung und Zersplitterung des Subjekts in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts keine Illusionen gemacht hat, vollzieht seine Musikphilosophie eine Gratwanderung. Eine Gratwanderung zwischen dem Zerfall des Subjektmonopols einerseits und der Bewahrung des Subjektmoments andererseits. Subjektmoment verstanden als jene fragile Instanz, die dem «Vorrang des Objekts» in der Struktur des Kunstwerks ‹beisteht›, um das Werk nicht zur «Höllenmaschine» werden zu lassen. Freilich besetzt Adorno das Subjektmoment zuweilen so stark, dass die Idee eines an dieses Moment gebundenen Sprachcharakters der Musik zur Schlüsselfrage in der Auseinandersetzung mit neueren Kompositionen wird. Und zur abwehrenden Gegenantwort auf jene wegweisenden Tendenzen gegenwärtiger Musik, welche die Einheit von Formgedächtnis, Subjektspur und Sprachcharakter überschreiten und hinter sich lassen. Wäre zu zweifeln, dass Adorno das Spätwerk Morton Feldmans als eine Musik am Rand des Verstummens rezipiert hätte – als einen Ausdruck der Ausdruckslosigkeit nach dem Muster Beckett?
Bspl. 3: Morton Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 4´51 – 5´58] [1´07]
A Feldmans Streichquartett Nr. 2: Mit Adorno gehört eine Musik am Rand des Verstummens; Ausdruck des Ausdruckslosen. Oder doch nicht?
Bewahren wir uns das Gespür für das eingangs erwähnte Überschreitungspotenzial der Philosophie Adornos. Das Gespür für ein Potenzial, das in den späten Arbeiten Adornos über die Idee der «écriture» und der «Schrift» zur Entfaltung kommt. «Schrift» wird Musik durch den «Verzicht aufs Kommunikative». Und selbst wenn Adorno bis zuletzt einer äußersten Durchbildung der Werke das Wort redet: Musik transformiert sich nun zu einer →
B ← «veränderten Gestalt des Expressiven», «unabhängig von der signifikativen Beziehung auf ein Auszudrückendes» und einem «sich ausdrückenden, mit sich identischen Subjekt». Im «Absterben ihrer nachahmenden Momente» bis hin zu denen der «traditionellen Expressivität» wird Musik damit zum ‹Schema› einer «nichtsubjektiven Sprache».
A Im «reinen Ausdruck» nähert Musik sich jenem «Unbekannten», durch das sich Adornos Ästhetik für einen Augenblick von der Signatur des «Schmerzes und der Negativität» befreit. Ergibt sich von hier aus nicht eine Perspektive, nach der die hochauflösenden Mikroverfahren Feldmans keineswegs mehr auf einen Horizont des Sprachlosen und Katastrophischen hin zurechtgehört werden müssen? Eine Perspektive, weit genug jedenfalls, um neue Wahrnehmungs- und Erkenntnisebenen zu konturiereren, gerade indem das arbeitende und verarbeitende Bewusstsein an die Grenzen seiner Sicherheit geführt wird; ein Bewusstsein, dem auch ästhetisch ständig zu allem etwas einzufallen hat.
War Musik die Jahrhunderte hinweg eine hohe Schule der Gedächtniskunst, erkunden die Kompositionen Feldmans auf genuin musikalische Weise, was es mit dem Bewusstseinsapparat selbst auf sich hat: Mit seinem Geflecht aus Erinnern, Vergessen und Wiederholen samt ihren Überschneidungen; mit seiner Begrenztheit, seiner Überschätzung, seiner Jetztzentriertheit, seiner Kraft zur Transformation und seiner Überlagerung von kognitiven und emotionalen Spuren. Eine Erkundung frei vom Pathos des Verlusts und unbekümmert um den Narzissmus des Publikums. Erst von hier aus und eher peripher, ohne unmittelbare ethische Zuschreibungen, ergeben sich Verweise auf den gesellschaftlichen Kontext: auf die Bahnung des Sinns, seine Normen und deren Aufhebung. Man versteht, dass Feldmans Musik «between categories» den Begriff der Form durch den des Maßstabs ersetzt wissen wollte.
Erst wenn der metaphysische Überhang der theoretischen Spekulation über die musikalischen Phänomene durchschaut wird; erst wenn durchschaut wird, dass – wie nicht selten bei Adorno – die allzu dichte Engführung von kunst- theoretischen und gesellschaftskritischen Axiomen den Blick für die wegweisenden Transformationen der Gegenwartsmusik verstellt: Erst dann ist es möglich, die Zeitmodelle der Neuen Musik nicht mehr mit einer irrationalen Feier des Vergessens oder mit dem Gedächtnisverlust eines deformierten Bewusstseins, gar mit Sinnlosigkeit zu verwechseln.
Jenseits von Kohärenz und Inkohärenz beginnen Zeit, Form und Identität zu oszillieren. Das Expressivwerden der Struktur in den subtilen Veränderungen der Mikrovarianten, im Spiel von Wiederholung und Differenz; die Überlistung erkennungsdienstlicher Hörgewohnheiten: All dies trägt bei Feldman eben keinen negativen, keinen tragischen Akzent.
Ist Feldmans Musik also womöglich jene «zeitgenössische Kunst», die Adorno in den Noten zur Literatur mit dem «Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod» charakterisiert hat? Jene subjektlose Kunst, die gleichermaßen
B zur «Chiffre von Versöhnung wie von Entsetzen» wird; eine «Kunst ins Unbekannte hinein, die einzig noch mögliche, (...) weder heiter noch ernst; das Dritte aber zugehängt, so, als wäre es dem Nichts eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke beschreiben»?
A Wie auch immer. Das ‹zugehängte Dritte› jedenfalls hat die jüngere Entwicklung der Neuen Musik bereits enthüllt. Und ohne sich an Adornos metaphysischem Fluchtpunkt des Nichts orientieren zu müssen. Von einer «Reklame fürs Dasein» wie von einer «Überhöhung des Leidens» gleicherweise entfernt, spielt für zeitgenössisches Komponieren die «Alternative von Tragik und Komik» keine Rolle mehr, weil es sich in einer letzten Autonomiebewegung vom Monopol des Subjekts und dessen affektiv-rhetorischer Bühne distanziert hat. Wie in Kafkas Text schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee dieser Musik die Sirenen – die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Aber nicht in menschenfeindlicher Absicht, sondern mit Kurs auf eine neue Semantik der Erfahrung. Frei von einem unentwegt nach Subjektkriterien gemodelten Sinnbegriff und frei vom Anspruch einer Ästhetik, die unter dem Patronat kritischer Gesellschaftstheorie nicht anders als ethisch urteilen kann.
Feldmans Musik und zahlreiche Kompositionen der letzten drei Jahrzehnte verdeutlichen indes noch etwas anderes: Wie sehr sich nämlich überkommene ästhetische Kategorien in ihr Gegenteil verkehrt haben. Beispielsweise die von Fülle und Radikalität. Mit dem Resultat, dass im Vergleich zu einer Komposition wie Feldmans Zweitem Streichquartett manche dissonant zerklüfteten Bekenntnismusiken der Gegenwart wie rhetorisch-hohle Selbstläufer klingen. Das allerdings hat auch Adorno unmissverständlich registriert und mit der bereits erwähnten Zerrüttung des Subjekts in Zusammenhang gebracht.
Vielleicht lässt sich das Verhältnis Adornos zur Musik der Avantgarde am besten mit einem Bild aus der Dialektik der Aufklärung darstellen; mit dem Bild vom «Fühlhorn der Schnecke» als einem «Wahrzeichen der Intelligenz»: Motiviert von der Bewegung des Sich-Annäherns und Zurückzuckens im Wechsel von Faszination und Irritation. Mag Adorno auch die Grenz- und Randgänge seiner Ästhetik auf das Gravitationszentrum einer Kunst des Subjektingeniums hin ausgerichtet haben; mag für ihn auch das Grauen von NS-Terror und Stalinismus auf der Basis des «autoritären Charakters» der modernen Massengesellschaft zu schwer gewogen haben, um einer «Abdankung» und «Austreibung» des «Subjekts» vorschnell beizupflichten: Selbst noch die für Adorno vom «Entsetzen der Geschichte» gezeichnete authentische Physiognomie der Kunst der Gegenwart wird seiner Ästhetik nicht zum unangefochtenen Dogma des Ausdrucks. Dass die Kunstwerke,
B «um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, (...) jenem sich gleichmachen (müssen)»; dass «radikale Kunst heute (...) so viel (heißt) wie finstere, von der Grundfarbe schwarz»:→
A ← selbst noch dieser Kanon der Ästhetischen Theorie provoziert den Einwand Adornos. Gibt er doch zu bedenken,
B ob in der «Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze (...) mit sich führt», nicht «auch das Gedichtete, Gemalte, Komponierte (verarmt)».
A Hier wären wir wieder bei der kritischen Masse, beim Überschreitungspotenzial von Adornos Ästhetik, der noch das Überschreiten des Gebots der «Klage» und des «Odiums der Entmenschlichung» in der Musik denkbar wird. Eben weil der Druck des universalen Leidens und sein ästhetischer Widerhall auch lähmen kann, ja mit dieser Lähmung dem Verblendungszusammenhang des Status quo vermutlich sogar noch zuarbeitet. Denn
B «nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese», die absolute Verzweiflung nämlich, «ist vielmehr seine Geschlossenheit. (...) So sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist: (...) Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen».
A Schließlich werden Adorno sogar der ‹Verlust der Identität› und der ‹falsche Reichtum› des Pluralismus zur zweideutigen und damit offenen Perspektive:
B «Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren (die Menschen) die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, dass damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert. (...) Die totale Vergesellschaftung brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne dass bis heute zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Befreiung.»
A Hatte Adorno nicht 1956 an Hans Magnus Enzensberger geschrieben:
B «Ich halte mich (...) für alles eher als einen Defaitisten.»?
A Möglicherweise hätte Adorno in Kenntnis der neueren und neuesten Entwicklung der Musik noch manche der zugespitzten Aporien seines musikphilosophischen Denkens aufgelöst und das dichte Gefüge aus Ästhetik, Ethik und kritischer Gesellschaftstheorie gelockert. Nicht um in der Routine gängiger Arbeitsteilung Erfahrung und Erkenntnis zu schwächen, sondern um einer feiner geeichten Einsicht in das Spezifische der Neuen Musik willen: Verpflichtet vor allem einem an der Autonomie des musikalischen Phänomens ausgerichteten ästhetischen Sensorium und weniger einer primär dem philosophischen Begriff zugewandten Exegese.
Einmal umschreibt Adorno den emanzipatorischen Fluchtpunkt der Musik als eine
B «Wiederherstellung gleichsam ihres lautlichen, intentionslosen Wesens» in der «Überwindung musikalischer Naturbeherrschung durch deren Vollendung hindurch».
A Ob dieser Utopie nicht eher eine Musik nahe kommt, die sich dem System der Verweisungen entzieht? Und sei es durch ein Äußerstes an Dichte oder Leere? Kein Nullpunkt der Musik zwar, aber ein Unterlaufen des Sinns. Eine Musik zudem, die den philosophischen Hunger nach Deutung, nach musikalischem Sinn dämpft und mit ihm die Sinngier der Sprache.
Ordnung und Ortung aufheben. Musikalische Zeit und musikalisches Gedächtnis in einen Zwischenbereich überführen. Vor allem aber auf das Dogma einer einzig «richtigen» Musik verzichten. Ob Adorno nicht selbst auch noch diese Perspektiven im Blick hatte? Am ehesten spricht dafür jenes Leitmotiv, das in den späten ästhetischen Schriften wie ein theoretisches Mantra wiederkehrt; jenes Leitmotiv, das die «künstlerische Utopie heute» umkreist und als die Notwendigkeit fasst,
B «Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind».
Bspl. 4: John Duncan, NAV-flex [Tr. 1, 2´00(aufbl.) – 4´20 (ab 4´15´´ausbl.)] [2´20]
Musikbeispiele
Bspl. 1: Cornelius Schwehr, Do you know what it means to miss (hat ART 6191)
Bspl. 2: John Cage, 4´33 (CRAMPS RECORDS CRS CD 101)
Bspl. 3: Morton Feldman, String Quartet (II) (hat[now]ART 4-144)
Bspl. 4: John Duncan, NAV-flex (Zeitkratzer 2002 zkr AQ 03)