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Resonanzen zwischen

Alter und Neuer Musik

Zur Diagnose nicht nur der Musik der Gegenwart

Dass der gängige Konzertbetrieb auf lediglich 200 Jahre Musikgeschichte fixiert bleibt, scheint wenig zu irritieren. Zumal die Werke von Bach bis Debussy gemeinhin als Musik schlechthin gelten. Von diesem Fokus aus wirken die Bereiche der sogenannten Neuen und Alten Musik wie eine esoterische Randkunst für Spezialisten. Dazu kommt, dass sich die Kompositionen etwa der frankoflämischen Schule des 15. Jahrhunderts und die der Zeit nach 1945 meist kompromisslos von der melodisch orientierten Gefühlsdramatik der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts absetzen. Was aber bedeuten die Parallelen zwischen Alter und Neuer Musik und ihre Ferne zur affektbetonten, subjektzentrierten Ästhetik der klassischen Epoche? Zumal mit Blick auf eine nicht nur musikorientierte Diagnose der Gegenwart?

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Resonanzen zwischen Neuer und Alter Musik

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Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik

2012

Bspl. 1: Guillaume Dufay, Adieu m`amour

 

Bspl. 2: Mathias Spahlinger, adieu m`amour (hommage à guillaume dufay)

 

Alte und Neue Musik: ihrer Terminologie nach zunächst nichts weiter als zwei allzu plakative Begriffe, um die Musik vor Bach und die nach Schönberg geschichtlich einzuordnen und auf Distanz zu halten. Was könnte demnach eine Gegenüberstellung dieser beiden Stilepochen mehr bedeuten als eine Konfrontation von Gegensätzen?

Wenn Mathias Spahlingers adieu m`amour Guillaume Dufays gleichnamigem Rondeau über einen Zeitraum von rund 520 Jahren hinweg antwortet, verstört diese Antwort zunächst durch ihre Absage an eine erkennbare Variation des historischen Vorbilds. Spahlingers Komposition für Violine und Violoncello begegnet dem Werk des frankoflämischen Meisters mit einem Affront des Ungewohnten. Ihre diffizilen und extravaganten Grifftechniken scheinen die Unerreichbarkeit einer fremden Tradition bis in die Spielweise hinein festzuschreiben. Sobald freilich Spahlingers tastende Spurensuche einige Konturen von Dufays Rondeau wie verschattet anklingen lässt, schärft sich seine Hommage zu mehr als einem bloßen Ausdruck historischer Ferne. Es ist, als würde mit der Aura einer längst vergangenen Epoche der Musik deren Aktualität umso hörbarer.

Worin liegt nun aber die Aktualität etwa der frankoflämischen Musik des fünfzehnten Jahrhunderts für die Musik der Gegenwart? Liegt sie womöglich in einer wechselseitigen Korrespondenz - trotz der Kluft zwischen der theologisch bestimmten Ära der Alten und der säkularisierten Welt der Neuen Musik? In einer Korrespondenz etwa, sofern Alte wie Neue Musik auf Abstand zu zielgerichteten Zeitmodellen und zur Affektdramatik der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts gehen? Liegt diese wechselseitige Korrespondenz also, kurz gesagt, in der Entfernung zur Subjekt- und Ich-Rhetorik der klassisch-romantischen Epoche? Sollte es sich aber um eine strukturelle Wahlverwandtschaft zwischen Alter und Neuer Musik handeln, welche Folgerungen ergeben sich dann aus dieser Wahlverwandtschaft für eine Diagnose der Gegenwart?

Zunächst ist jedoch zu fragen, was der Begriff des Subjekts bedeutet, der im Lauf dieser Sendung die Nähe zwischen Alter und Neuer Musik als eine Art Gegenmodell präzisieren soll. Ist es doch - so die These - gerade die Subjektferne der Alten wie der Neuen Musik, die die jahrhundertelang etablierte theoretische, praktische und ästhetische Präsenz der Subjekt-Idee als historisch erfahrbar werden lässt.

Philosophisch kann vom Selbstverständnis des Menschen als Subjekt erst dann gesprochen werden, wenn in einem fortschreitenden Säkularisierungsprozess Wissenschaft und Technik mit mathematischem Kalkül und maschinell gesteigerten Produktivkräften den irdischen und himmlischen Kosmos entzaubern und dem Denk- und Machbaren in Theorie und Praxis unterwerfen. Erst wenn sich mit Beginn der Neuzeit der Mensch als Zentrum der Schöpfung begreift, kann sich ein selbstbewusstes Subjekt der Welt als Objekt gegenüberstellen. Bis schließlich auch die Kunst ihre Grundsätze im Geschmacksurteil des rezipierenden Ichs findet. Wenn aber Subjektsein heißt: der Mensch wird innerhalb einer als Fortschritt gedachten Geschichte zur universellen Begründungsinstanz der Welt, mit der Welt als Spiegel seiner Bestätigung, dann entziehen sich Alte und Neue Musik genau dieser Spiegelfunktion. Ihre Kompositionen, die „frei“ sind vom Prinzip des „individuellen Geschmacks“, um John Cage zu zitieren, lösen sich nicht im Verstandes- und Gefühlsspektrum der Ich-Identität als ihrem letzten Grund auf.

 

Bspl. 3: John Cage, String Quartet in Four Parts

 

John Cage, String Quartet in Four Parts: Eine Musik der Stille, ohne Konflikte, ohne Höhepunkte, ohne emotionale Erregung. Erreicht wird diese Ruhe durch Cages Verfahren, seinem Streichquartett eine Sammlung von Akkorden unbekümmert um deren musikalischen Zusammenhang zugrundezulegen. Erst diese Weigerung, die Klänge nach den Regeln einer harmonisch schlüssigen Folgelogik zu verbinden, entlässt die Musik aus ihrem gewohnten Korsett von Spannung und Entspannung. Mag auch der vorletzte Satz als Kanon komponiert sein: mehr als dieser Rückgriff auf ein frühes Formprinzip ist es die Bindungslosigkeit, die Cages erstes Streichquartett Strukturen der Alten Musik angleicht.

Auch Alte Musik kennzeichnet ein weitgehend offener Verlauf der Stimmen, bevor der Sog einer homogenen Zeitvorstellung spätestens seit dem Frühbarock sämtliche Größen der kompositorischen Grammatik miteinander vernetzt und final ausrichtet. Hört man beispielsweise die Instrumentalfassung von Matteo da Perugias Ballade Le greygnour bien aus der Zeit um 1415, so wird klar, wie weit ihr rhythmisch und gegenrhythmisch verwickeltes Stimmgefüge noch von einer Folgelogik der Klänge entfernt ist.

 

Bspl. 4: Matteo da Perugia, Le greygnour bien

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Die relativ ungebundenen bis freien Stimmverläufe in Kompositionen des frühen 15. Jahrhunderts und solchen der Neuen Musik basieren auf einem Zeitmodell ohne zielorientiertes Gefälle. Zielorientiert aber heißt zumeist auch lösungsorientiert, wie die oft triumphal-finalen Schlüsse klassischer Sonaten und Symphonien belegen. Im Unterschied zu solchen Zielorientierungen, die auf die Zeitregie des Ichs abgestimmt bleiben, konzentrieren sich weite Bereiche der Alten wie der Neuen Musik mehr auf das Komponierte selbst als auf Hör-Erwartungen. Wohl deshalb trifft der Vorwurf des allzu Experimentellen und Intellektuellen die Alte Musik nicht weniger als die Neue, wenn auch mit verschiedener Heftigkeit.

Woraus resultiert nun aber dieser Eindruck des Artifiziellen und Intellektuellen? Ein entscheidender Faktor liegt sicher im Feinbereich der rhythmischen Werte. Denken wir nur an die subtilen Kompositionskünste um das Jahr 1400, die der Stilperiode der „Ars subtilior“ ihren Namen geben. Hier unterlaufen nicht selten komplizierte metrische Relationen im Verhältnis 7:3, 8:5 oder 9:8 ohrgerechte Hörbelange. Aufgezeichnet in einer ex-travagant verfeinerten Notenschrift, erzeugen die Mikrowerte der Tondauern permanente rhythmische Verschiebungen bis hin zur Aufhebung eindeutiger metrischer Proportionen. So im Kanon Le ray au soleyl des Johannes Ciconia, geschrieben um 1370, und seiner vertrackten Polyrhythmik.

 

Bspl. 5: Johannes Ciconia, Le ray au soleyl

 

Dass freilich auch Kompositionen unserer Tage gerade durch ihre feinrhythmische Konstruktion sicheren Boden entziehen, ist ein Gemeinplatz. Oder wie wäre der Eindruck von Claus-Steffen Mahnkopfs Gitarrenstück Mikrotomie und dessen „polyphoniegesteuerter Komplexität“ sonst zu beschreiben? Auch hier handelt es sich um eine vielfältig disparate Schichtung von Stimmverläufen, die dementsprechend in „vier metrisch und im Tempo divergierenden Systemen“ notiert ist.

 

Bspl. 6: Claus-Steffen Mahnkopf, Mikrotomie

 

Johannes Ciconias Le ray au soleyl und Claus-Steffen Mahnkopfs Mikrotomie: Zwei Kompositionen, die über ihre rhythmischen Finessen hinaus bewusst machen, wie wenig Alte und Neue Musik auf eine geschlossene narrative Dramatik und deren Affektkurven setzen. Damit heben sich beide Stilepochen von jener „dramatischen, finalen Form“ ab, die Karlheinz Stockhausen mit Blick auf eine Musik der Gegenwart schon 1960 als nicht mehr zeitgemäß kritisiert hat. Für die Musik der Avantgarde sind erzähldramatische Verläufe mit ihren >zwingenden Fortsetzungen, schlüssigen Konklusionen, logischen Anschlüssen, starken Kontrasten, aufregenden Spannungen und endgültigen Schlüssen< obsolet geworden. Nicht dass Alte und Neue Musik affektlos und frei von jeder Rhetorik wären. Die rhetorischen Figuren der frankoflämischen Meister, geschweige denn die eruptive Gestik der Neuen Musik, die ohne die Affektgeschichte der letzten 400 Jahre nicht zu denken ist, sprechen eine andere Sprache. Und doch ist es der Abstand zu einer Ästhetik der narzisstischen Einfühlung, der Alte und Neue Musik einander annähert.

Hören wir im Unterschied zu dieser Einfühlungsästhetik einen Ausschnitt aus Johannes Ockeghems Missa Prolationum. Um 1450 entstanden, entfaltet sich die gesamte Komposition aus einem Doppelkanon in unterschiedlichen Metren. Bereits diese kontrapunktische Bravour macht klar, wie streng Ockeghem der musikalischen Immanenz verpflichtet bleibt. Vor allem aber wird hörbar, wie wenig Ockeghem mit der Subjekt-Ästhetik der Empathie zu tun hat. Seine Musik kennt weder das melodiebetörte Spiegel-Ich noch die Sprache von Stimmung und Empfindung. Kein Wunder, dass Ockeghem dem am klassischen Musikfundus geschulten Ohr oft als anonym und abstrakt gilt. Beurteilte nicht auch Ernst Bloch Ockeghems Kunst als eine der >harten Stimmführung<, als „unsangbar, ausdruckslos, melodienlos und künstlich“?

 

Bspl. 7: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum

 

Die Distanz der Missa Prolationum zur gewohnten Affekt- und Gedächtnisregie resultiert maßgeblich aus Ockeghems Verfahren der „Varietas“. Varietas, Vielfalt aber bedeutet nichts weniger als eine fortwährende Umformung der musikalischen Substanz unter Tilgung jeglicher Schematik und Wiederholung. Weit mehr auf das Unregelmäßige als auf das Regelhafte ausgerichtet, wirkt Ockeghems Messe wie ein fortlaufender Diskurs des Unerwarteten, bis hinein in die asymmetrischen Vokallinien und den ständigen Wechsel des Rhythmus. Entscheidend ist jedoch, dass der athematische Duktus der Missa Prolationum weder die Ordnungsmuster der Wiederholung noch die des Kontrasts oder der Variation kennt, die dem Hören erst Kontinuität als Identität sichern. Ockeghems Verwandlung dagegen umkreist weniger die Identität als vielmehr die Intensität eines in sich bewegten und doch zeitlosen, gleichsam ewigen Jetzt. Jeder Moment dieser Musik ist gleich nah zum Mittelpunkt, ja selbst Mittelpunkt.

Damit ergeben sich Parallelen zwischen Ockeghem und Karlheinz Stockhausens „Momentform“ als einem zentralen kompositorischen Entwurf der Gegenwart. Handelt es sich doch auch bei der „Momentform“ um eine Musik, die „sofort intensiv“ ist und „ständig gleich gegenwärtig das Niveau fortgesetzter ›Hauptsachen‹ bis zum Schluss durchzuhalten“ sucht. In ihr, so Stockhausen, macht die „Konzentration auf das Jetzt - auf jedes Jetzt - gleichsam vertikale Schnitte“, die die „horizontale Zeitvorstellung quer durchdringen bis in die Zeitlosigkeit, die ich Ewigkeit nenne: Eine Ewigkeit, die nicht am Ende der Zeit beginnt, sondern in jedem Moment erreichbar ist“.

 

Bspl. 8: Karlheinz Stockhausen, Gesang der Jünglinge

 

Die Intensität des Jetzt bei Ockeghem und die Intensität der Momentform bei Stockhausen ergeben sich aus der Dichte des Augenblicks, die zugleich eine Dichte der Musik ist. Diese Dichte - als Prinzip der Varietas bei Ockeghem, als Prinzip unentwegt „fortgesetzter Hauptsachen“ bei Stockhausen - hält die subjektive Einfühlung in Schach. Mag in Ockeghems Chansons auch eine frühe Ich-Emphase hörbar werden: seine großen Messen sind frei von jeder psychologischen Dramaturgie. Deshalb ergeben sich von Ockeghems vor- und zugleich transsubjektiver Sakralmusik her zahlreiche Bezüge zur Gegenwart, etwa zu Brian Ferneyhoughs Missa Brevis von 1969; Bezüge in erster Linie, was die Fülle einer äußerst heterogenen und damit welthaltigen Polyphonie anbelangt. Und dies trotz der Radikalität einer Moderne, die bei Ferneyhough Stimmen und Worte in extreme Grenz- und Artikulationsbereiche treibt. Stehen Ockeghem und Ferneyhough, Alte und Neue Musik damit nicht - über die Jahrhunderte hinweg - für ein Komponieren, das als unverfügbares Ereignis das Einfühlungs-, das Projektions- und Identitätsverlangen des Ichs dämpft und zum Schweigen bringt?

 

Bspl. 9: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum, Kyrie

 

Bspl. 10: Brian Ferneyhough, Missa brevis, Kyrie

 

Sinngebung ist eine anthropologische Konstante. Allerdings bricht sich diese Konstante in geschichtlichen Varianten. So gewinnen etwa erst im 16. Jahrhundert die musikalischen Topoi von Melodie und Thema an Einfluss. Erst mit der neuzeitlichen Idee des Subjekts entwickelt sich auch das Sinngebot einprägsamer melodischer Phrasen und prägnanter musikalischer Themen. Dass die Begriffe Thema und Subjekt musiktheoretisch schon früh austauschbar werden, ist deshalb kein Zufall. Das Subjekt als Thema der musikalischen wie der sozialen Bühne versteht sich ja als das Gesetzte, das seinen Charakter durch sämtliche Gefährdungen hindurch behauptet und dadurch den Beweis seiner Identität liefert.

Die Subjektferne Alter und Neuer Musik resultiert demzufolge auch aus einer Abwesenheit der Affektdramaturgie des Melodischen. Erzeugt doch musikalisch erst das Wiedererkennen unverwechselbarer Sequenzen und Motive den Identitätsspiegel des Subjekts. Während diese Gedächtnisstütze des Melodischen in zahllosen Sakralwerken Alter Musik so gut wie keine Rolle spielt, wird sie in zeitgenössischen Kompositionen regelrecht demontiert. So setzen sich Tom Johnsons Rational Melodies von 1982 entschieden vom Gefühlskontext der Melodie ab, um, den Erläuterungen des Komponisten zufolge, „weder meine Emotionen auszudrücken noch die der Hörer zu manipulieren“. Stattdessen geht es um eine eher arithmetische Suche nach „additiven, isorhythmischen, verdoppelnden […] (Ton-)Reihen“, ausgerichtet an Strukturen, nicht an persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Schließt Johnson damit nicht an Praktiken der Alten Musik an?

 

Bspl. 11: Tom Johnson, Rational Melodies, Nr. 9

 

Melodischer Subjektferne wie in Johnsons Rational Melodies begegnen wir häufig auch in Kompositionen des 14. Jahrhunderts. Oder wo fänden sich zum Beispiel in Guillaume de Machauts isorhythmischem Hoquetus David charakteristische Melodieprofile?

 

Bspl. 12: Guillaume de Machaut, Hoquetus David

 

Dass Alte und Neue Musik inmitten des allgemeinen Credos „Musik ist Gefühl!“ ins Abseits geraten, verwundert nicht, auch wenn die Bestimmung von Musik als einer primären Kunst der Emotionen nur trägt, solange wir uns auf eine spätere Phase der dur-moll-tonalen Empfindungswelt beschränken. Dass das Melodische für lange Zeit ein machtvoller Gefühlsverstärker und Ich-Multiplikator war und sein wird, steht außer Zweifel. Aber eben nur für lange, keineswegs für alle und keineswegs zu jeder Zeit. Deshalb irritieren Alte und Neue Musik den Unterhaltungsmarkt der Gefühle und des Gefühligen, der zunehmend Sinne und Erfahrung blockiert. Indem sie sich dem Sog der Erlebnismusik entziehen, demonstrieren sie, dass Musik nicht durchweg auf ihre Rücksicht gegenüber individuellen Lust- und Unlustempfindungen zu verpflichten ist; trotz der Erwartung, die da lautet: Musik muss ein Spiegel sein, Musik muss mein Spiegel sein, in dem ich mich bespiegeln, in dem ich mich bestätigen kann.

Mag es nach mehreren Jahrhunderten auch anders scheinen: die abendländische Epoche des Subjekts ist durch und durch geschichtlich. Diesen Zeitkern machen im Bereich der Kunst gerade die subjektfernen Stadien Alter und Neuer Musik bewusst; abgesehen davon, dass seit den Errungenschaften der Aufklärung mit ihren ökonomischen, technischen und künstlerischen Emanzipationsschüben zunehmend auch das Gewaltpotenzial in der Geschichte des Subjekts und seines Autonomie-Ideals als historischer Sprengsatz offenbar wurde. Allem voran eine rigorose Naturbeherrschung, auf die die Neue Musik ihrerseits mit einem Aufstand des Körpers reagiert, bis hin zum Schrei und zur materialgefärbten Unreinheit der Töne.

Gleichwohl gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich die technische Vernunft der Moderne auf eine ökologische Vernunft hin weitet. Ob der transsubjektive Impuls Alter und Neuer Musik dabei eine Rolle spielen kann? Zumindest wird von der Möglichkeit einer solchen Kursänderung her verständlicher, warum Neue Musik so sehr auf der Aufhebung der Ich-Blockaden und ihrer Fixierung auf den Status quo besteht. Auch und vor allem dann, wenn Neue Musik auf eine späte Periode Alter Musik trifft, die, wie bei Carlo Gesualdo um 1600, bereits ich-melodisch durchdrungen ist. Und so löst sich denn in Caspar Johannes Walters Gesualdo-Komposition L´Infinito auf ein Gedicht Giacomo Leopardis die Poesie der Worte immer wieder in „einzelne Vokale und Konsonanten“ auf - stimmungswidrig gleichsam und entgegen jeder Innerlichkeitsästhetik. Und wenn bei Leopardi schließlich die unsteten Gedanken im „Unermesslichen“ versinken und Walters Musik dabei an Gesualdos oft wie ruhelos komponiertes chromatisches Schweifen erinnert, dann wird dieses Versinken, dieser >sanfte Schiffbruch<, dieser >dolce naufragar<, auch zu einem Sinnbild der Musik: Als könnten derzeit die Klänge - inmitten einer Flut an Ich-Musik - nur durch den Untergang ihrer melodischen Fracht neue, unbekannte Ufer erreichen.

 

Bspl. 13: Caspar Johannes Walter, L´Infinito

 

Indem jedoch Alte und Neue Musik die Epoche des Subjekts von der Ästhetik her geschichtlich verorten, ermöglichen sie uns zugleich ein neues Hören des melodischen Passionatos und der als klassisch-romantisch eingestuften Musik mit ihren grandiosen Gefühls- und Bestätigungsritualen. Jetzt erst können Drama, Konflikt und Leidenschaft mit anderen Ohren wahrgenommen werden. Keineswegs weniger intensiv, aber bei weitem nicht so nostalgisch, so absolut. Liegt in dieser geschichtlichen Verortung nicht auch eine gelöste, heitere Perspektive, von der in Carlo Gesualdos Sechstem Madrigal-Buch gesungen wird? Und zudem nicht auch eine Freiheit? Die Freiheit nämlich, feiner, offener, hellhöriger hören zu können und zu ahnen, was anders wäre als das bekannte Spiegelsubjekt und sein Zentralismus.

 

Bspl. 14: Carlo Gesualdo, Al mio gioir il ciel si fa sereno

 

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Musikbeispiele

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Bspl.   1: Guillaume Dufay, Adieu m`amour [Tr. 9, 0´00 - 1´23][1´23]

  (Studio der Frühen Musik, Andrea von Ramm, Thomas Binkley   EMI Classics 8 26493 2)

  (LC 06646 / EAN 7 2438264932 8)

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Bspl.   2: Mathias Spahlinger, adieu m`amour (hommage à guillaume dufay) [Tr. 3, 5´51 - 7´33][3´24]

          (Ensemble Recherche   ACCORD 206222)

          (LC 00280   /   EAN 3 229262062220)

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Bspl.   3: John Cage, String Quartet in Four Parts [Tr. 3, 1´50 - 4´28][2´38]

  (Arditti Quartett   mode records   mode 27)

  (LC 01923   /   EAN 7 6459300272 7)

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Bspl.   4: Matteo da Perugia, Le greygnour bien [Tr. 8, 0´00 - 1´05][1´05]

  (Early Music Consort of London, David Munrow   Virgin Classics 7243 5 61284 2 2)

  (LC 7873   /   EAN 7 2435612842 2)

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Bspl.   5: Johannes Ciconia, Le ray au soleyl [Tr. 12, 0´34 - 1´46] [1´12]

  (Ensemble Project Ars nova   New Albion Records NA 048)

          (LC 03456   /   EAN 0022551004825)

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Bspl.   6: Claus-Steffen Mahnkopf, Mikrotomie [Tr. 7, 2´42 - 4´50 (ab 4´40 ausbl.)][2´08]

  (Jürgen Ruck   Baldreit-Edition / Südwestfunk 1995)

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Bspl.   7: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum [Tr. 10, 3´31(zügig aufbl.) - 7´04][3´33]

  (The Clerks´ Group, Edward Wickham   Gaudeamus CD GAX 550)

         

Bspl.   8: Karlheinz Stockhausen, Gesang der Jünglinge [Tr. 4, 10´38 - 13´08] [2´30]

  (Stockhausen Verlag 3)

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Bspl.   9: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum, [Tr. 9, 2´47 - 3´57][1´10]

          (The Clerks´ Group, Edward Wickham   Gaudeamus CD GAX 550)

             (EAN 0743625055023)

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Bspl. 10: Brian Ferneyhough, Missa brevis, Kyrie [Tr. 7, 1´23(zügig aufbl.) - 2´15][0´52]

 (Neue Vocalsolisten Stuttgart, Manfred Schreier   col legno 20030)

 (LC 07989   /   EAN 5099702003025)

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Bspl. 11: Tom Johnson, Rational Melodies, Nr. 9 [Tr. 9, 0´00 - 1´09 (ab 1´00 ausbl.)][1´09]

         (Eberhard Blum   [(hat[now]ART 6133)

         (LC 6048   /   EAN 7619925613320)

 

Bspl. 12:Guillaume de Machaut, Hoquetus David [Tr. 20, 0´00 - 1´13 (ab 1´06 ausbl.)] [1´13]

(Early Music Consort of London, David Munrow   Polydor 453 185-2)

(LC 0113   /   EAN 0 2894531852 3)

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Bspl. 13: Caspar Johannes Walter, L´Infinito [Tr. 6, 1´44(zügig aufbl.) - 3´34][1´50]

(Neue Vocalsolisten Stuttgart, Manfred Schreier   col legno 20031)

        (LC 07989   /   EAN 5099702003124)

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Bspl. 14: Carlo Gesualdo, Al mio gioir il ciel si fa sereno [Tr. 12, 0´00 - 2´16][2´16]

(Collegium Vocale Köln, Wolfgang Fromme   CBS Maestro M2YK 46467)

(LC 0149   /   EAN 5099704646725)

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