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Johannes Bauer

Die Stille und das Weiße

John Cages 4´33´´

​Not one sound fears the silence that extinguishes it. And no silence exists that is not pregnant with sound.

John Cage

 

Woodstock, 29. August 1952, Maverick Concert Hall. Die Tastatur eines Flügels wird geschlossen, ein Instrument mit Stille versiegelt: der Beginn von John Cages 4´33´´. Das Weiß und Schwarz der Tasten: kaum mehr als eine Möglichkeit von Klängen. Das Klavier selbst eine Blackbox. Und der Pianist, fern allen gängigen Interpretations- und Konzertritualen: Ähnelt er nicht dem Schreiber Bartleby aus Melvilles gleichnamiger Erzählung, dessen ständiges »I would prefer not to« gewohnte Erwartungs- und Handlungsmuster außer Kraft setzt?

          Die Tastatur eines Flügels wird geschlossen. Und dies zu Beginn einer Interpretation, einer Komposition, falls man bei einer solchen Umkehrung tradierter Werk- und Hörkriterien überhaupt von Komposition, von Interpretation sprechen kann. Gleichwohl wäre es fatal, Cages 4´33´´ der Entscheidungsfalle Musik oder Nicht-Musik auszusetzen und damit jener kanonischen Widerspruchslogik, die noch die Idee vom Paradoxen an die krude Zweiwertigkeit des Ja/Nein bindet. Im Eingemeindungs- und Ausschlusszwang des Entweder/Oder liegt schließlich einer der Gründe, weshalb Cages »silent piece« von zenbuddhistisch inspirierten Deutungen umstellt ist, die den Sinnzwang ins Leere laufen lassen; vergleichbar den Koan-Meditationen, die die urteilsgenaue Erkenntnis dem Schwindelgefühl des Absurden aussetzen: »Hört den Klang einer klatschenden Hand!«. 4´33´´ – ein Stück zwischen Zen und Exerzitium?(1)

          Auch wenn es Korrespondenzen zwischen der Idee der Stille bei Cage und der expressiven Qualität des Nicht-Ausdrucks in der Lyrik des Haiku, der Abwesenheit der Körperbewegung im No-Drama oder der Leere in der Malerei des »hakushi-san« gibt: Cages Demontage der westlichen Tradition steht nicht außerhalb der Tradition. Seine Dekompositionen und Transformationen bis hin zur Entzauberung des geschlossenen Werks lassen sich ebenso schlüssig von Mallarmé, Nietzsche oder Artaud her verstehen. Etwa was das Bewusstsein von Zeit und Tod gegen den ästhetischen Schein, was die Delinearisierung des Gedächtnisses oder den Wirkungssog des Zufalls anbelangt: Spuren der Moderne, die Cages Musik bis hinein in ihre zenbuddhistischen Intentionen als eine Spiegelschrift eben dieser Moderne lesbar werden lassen. Gerade von der ästhetischen und philosophischen Normen- und Urteilsskepsis des späten 19. Jahrhunderts her wirkt Cages »stilles Stück« wie ein Akt des Bleichens, der das unentwegte Senden sinneffizienter Signale und ihren Empfang durch ein stets sendebereites, sinnerzeugendes Bewusstsein wie ein leichter Schnitt durch die Zeit unterbricht. 4´33´´ – eine Technique du blanc für die sinnbegierige Instanz des Verständlichmachens und Logisierens, die gemeinhin Subjekt heißt.

          Was bewirkt nun diese Technique du blanc? Oder, anders gefragt, ist 4´33´´ deswegen bereits ein leeres Stück? Dass es das Hörbewusstsein ins Leere laufen lässt, hängt vorrangig mit der Abwertung des passiven, unwillkürlichen Gedächtnisses zum identitätsgefährdenden Kontrollverlust zusammen, folglich mit der Allianz zwischen Synthesis, Gedächtnis und Identität. Dieser Allianz will Cage unter dem Einfluss des Zen sämtliche Projektions- und Spiegelflächen entziehen, um damit zugleich die Ästhetik des narzisstisch blockierten Ichs zu hinterfragen. Wie wird dem Unbekannten begegnet, ist eine dieser Fragen. Wie wird Stille wahrgenommen, ertragen? Mit Gleichgültigkeit, mit Gelassenheit, mit einer Lust am offenen Hören? Oder mit Aggression, mit jener emotionalen Maske also, die Angst sich am häufigsten zulegt?

 

Angstgrund und Arbeitsethos

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Die vom Takt befreite Stille war bis zu Cage eine unbekannte musikalische Größe. Ein Umstand, der etwas über das Wesen überkommener Zeitvorstellungen aussagt. Zumal was die christliche Verstrickung von Zeit, Angst und Tod betrifft. Erst mit dem Sündenfall beginnt Geschichte. Zeit und Leben stehen unter dem Urteil des Gerichts. Die vom Tod begrenzte Lebenszeit wird zum Maß der Nutzung nach göttlichen Heilskriterien. Schließlich dann, im Namen protestantischer Ethik, die Kreuzung religiöser und ökonomischer Belange und Interessen. Eine sakral überhöhte Eingewöhnung in praktische Weltbelange, bei der die ästhetische Aufhebung der Zeit allmählich Erlösungscharakter annahm. Vor allem der Musik fiel im Regelkreis bürgerlicher Kultur die Funktion zu, Zeit von der Zeit zu erlösen, um die Askese des Lebens wenigstens für Momente im Elysium der Kunst aufzuheben. Fast scheint es, als ob der Angstgrund, der in der realen Existenz nur allzu präsent blieb, vom Kontinuum der Musik umso obsessiver eingebunden und übertönt wurde.

          Auf diese Fusion von Angst und Zeit reagiert Cages Gegenentwurf. Stille angstlos auszuhalten, ist ein Stück realisierter Utopie. Im Unterschied zu einer Reaktion wie unter Entzugserscheinungen, sollte das Ostinato unablässigen Geschehens und Tönens auch nur kurzfristig abreißen. Darum wendet Cage die offene Zeit, den Zufall, wie ein Therapeutikum gegen die Anästhesie- und Harmonisierungspraktiken einer zur Substanz verklärten Ich-Regie. Ein an Nietzsches heroisches Ja erinnernder Habitus mit dem Ziel, »keine Angst« zu haben, sondern zu »akzeptieren, was auch kommen mag, ungeachtet der Konsequenzen«. Cage demontiert die Selektionsfilter der subjektdramatischen Zeit, weil sie der Sinnagentur des Verstandes suggerieren, den Zufall als sinnlos abblenden zu können. Für Cage hingegen ist die Unberechenbarkeit des Zufalls weit mehr das Phänomen einer bewusstseinsbrüskierenden Überdeterminierung als ein imperfekter, defizitärer Zustand. Daher erfüllt 4´33´´ nicht mehr die Funktion eines Generators subjektzentrierter Sinnspuren. Als offenes System sensibilisiert es für plurale Zeiträume und für die Tiefenschärfe einer plissierten, polyakustischen Zeit. Mit diesem Räumlichwerden der Zeit öffnet sich Musik einer Überlagerung unterschiedlicher Eigenzeiten und mit ihr dem Zufall als dem komplexen Ausdruck dafür, dass heute »alles gleichzeitig geschieht«.(3)

          Cage will angstfreie Spuren des Todes in eine Musik einlassen, die in ihrer Unberechenbarkeit offen ist für die Anfälligkeiten und Störungen einer kaum gefilterten Welthaltigkeit.(4) Gegen die Stilisierung der Kunst und die Kunst der Stilisierung kann schließlich in 4´33´´ »alles (...) allem folgen«(5). Nichts soll über Nichts Gewalt haben. Ein Gedanke, der an Meister Eckharts Satz erinnert, für die »Seele in ihrem natürlichen Tag« sei kein Ding »fern oder nah«, vielmehr seien ihr »alle Dinge gleich edel«.(6) Provokant indes dürfte Cages »stilles Stück« nach wie vor durch einen Affront sein, der sich am ehesten im Blick auf die Zero-Partitur von 4´33´´ nachvollziehen lässt. Im Blick auf eine weiße Seite mit nichts als dem Notat »I  TACET  /  II  TACET  /  III  TACET«. Auf diese Provokation hat Boulez reagiert, als er in Richtung Cage von »kompletter Faulheit« sprach, was die »Ausarbeitung«, die »Reflexion« und den »Einsatz der eigenen Kräfte« in der Durchorganisation des Werks anbelangt.(7) Der calvinistisch gefärbten Ökonomie der Neuzeit, allen voran der Heiligsprechung der Erwerbsarbeit und ihrer Rechtfertigungsexerzitien für Sinn und Leben, wird 4´33´´ zum Verstoß gegen eine Funktions- und Arbeitsmoral, die mit Beginn der industriellen Revolution sämtliche Lebensbereiche durchdringt und »immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite (bekommt)«.(8) 4´33´´ – ein weiterer Skandal in der Reiz- und Verfemungsgeschichte von Muße und Müßiggang, vergleichbar Lafargues Pamphlet Le droit à la paresse. Hat nicht auch Cage im Geiste Thoreaus immer wieder den Kopf geschüttelt über den häufig genug Zweck und Mittel verkehrenden Arbeitswahn? Über den Profitzwang des Immer-Mehr und Immer-Weiter und seiner für ganze Weltteile einkalkulierten Mangelwirtschaft inklusive Ausbeutung und Verelendung?

          Der Einwand, der Arbeitsgesellschaft dürfe auch musikalisch nur mit gleichen Mitteln begegnet werden, ist eher das Relikt einer Zwangslogik unter Verkennung ästhetischer Ressourcen. Einer am puritanischen Leistungsprinzip orientierten Gesellschaft freilich müssen kompromisslose Bündnisse mit dem Zufall selbst noch auf künstlerischem Gebiet als Umsturz sämtlicher Wert- und Sinnkategorien gelten. Gegen Cage steht deshalb Boulez' Verteidigung des redlich arbeitenden Komponisten und seines guten Gewissens im Namen von Konstruktion und Perfektion: »L’Artisanat furieux«. Dass wie in 4´33´´ ästhetisches Niveau quasi spielerisch erreicht werden kann, grenzt für den seriösen Künstler an Scharlatanerie. Als müsste sich die Qualität von Kunst und Reflexion immer noch ausschließlich am geleisteten Arbeitsaufwand messen lassen. Eine Ansicht, über die sich wiederum schon Nietzsche lustig gemacht hatte. »Die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, dass die ›Wahrheiten‹ eigentlich nichts weiter seien als Turngerätschaften, an denen wir uns wacker müde zu turnen hätten,– eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.«(9)

 

Intensität des Zeros

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4´33´´ – eine Abrüstung der Struktur, eine semantische Fraktur. Gegen die Autorität der Form und die Vermarktungsstrategie des Sinns, ja gegen den Sinn als Vermarktungsstrategie setzt Cage auf ein breites Maß an Kontrollverzicht, nachdem bereits der Zusammenbruch der theologischen und metaphysischen Sinnbühne die Umwertung und Verabschiedung zahlreicher Hierarchieprinzipien zur Folge hatte. Eine dieser Umwertungen betrifft die Enthierarchisierung des Signals, seien es Worte, Töne oder Strukturen. Inmitten der digitalisierten Kommunikationsgesellschaft, der alles kommunizierbar, weil kommerzialisierbar scheint, schärfen sich Störung und Bruch zum Einspruch nichtsignifikanter Zustände gegen die Übermacht einer codierten Welt. Risse in der Textur der Zeichen, Leerstellen im Netz des Sinns setzen die Ordnung der Signale punktuell aus oder lassen sie in ein anonymes Pulsieren fallen: Symptome der Abstinenz inmitten einer Norm- und Sinnpräsenz, die spätestens seit Hofmannsthal virulent bleiben. Seit seiner Kritik an der Prostitution und am Vampirismus der »Worte«, die sich »vor die Dinge gestellt« haben, indes das »Hörensagen die Welt verschluckt hat«.(10) Und die Musik? Sie wird wie in 4´33´´ zur Zäsur, zum Zero und zum Sensor leicht überhörbarer und überhörter Intensitäten. Vergleichbar Rauschenbergs White paintings und Kleins monochromer Malerei oder der Qualität des Weißen und der Stille bei Mallarmé und Cage. Macht doch der Vergleich eines »leeren Blatts Papier - Mallarmés weißer Seite - mit der Stille« bewusst, dass »der kleinste Fleck, das kleinste Zeichen, das unscheinbarste Loch, der kleinste Fehler oder der kleinste Klecks die Gewissheit (geben), dass es keine Stille gibt«(11). Und wie in Nam June Paiks ›Film ohne Bilder‹ der Staub auf der Filmrolle zum Ereignis wird, so werden aus Rauschenbergs weißer Leinwand »Landebahnen für Staubpartikel und das, was in ihrer Umgebung Schatten wirft«(12): Kunst weniger in der Funktion eines Reflektors als in der eines Detektors.

          Proust hat die Nullzeit in Flauberts Education sentimentale und deren zeitlicher Sprung- und Rhythmisierungstechnik bewundert, um sie später selbst zur Strukturierung der Diskontinuität des Ich einzusetzen. Zudem verflüchtigt sich die Erzählregie der Recherche in den zufallsbedingten Abschweifungen und Absichtslosigkeiten der »mémoire involontaire« bis an die Grenze ihrer Auktorialität. Und Proust ist es auch, der die Fülle des Schweigens, die »plénitude du silence«, als Substanz der Zeit deutet. So bilden mémoire involontaire, blanc und silence einen Sub- und Gegentext zur Textur des abendländischen Geistes und seinen von der kategorialen Einigungsmacht des Gedächtnisses gebündelten Sinnbahnen. Seit Proust jedenfalls bedeutet Vergessen eher eine Bedingung von Erinnerung als eine Blindstelle des Bewusstseins. Entsprechend kann erst einer vom dichten Konstruktionsideal befreiten Musik das »blanc« zum Ereignis werden – als Lücke, als Zero, als Rauschen. Mit einer Intensität, mit der etwa Peter Pfister Cages 0´00´´, die 1962 entstandene zweite Version von 4´33´´, als eine Singularität am Rand des weißen Rauschens realisiert.(13) Eine »disziplinierte Aktion« im Spannungsfeld zwischen Ordnung und Chaos und – in der Mischung aller Klangfarben und Tonhöhen –  ein Potenzial des Unbekannten.

          Der Sog des »blanc« und die Streuungen des Zufalls entbinden Zeit vom Kalkül einer strategischen Technik. Sobald unkoordinierte Progressionsreihen und Zielpunkte ins «blanc» fallen, wird Zeit zu einer ebenso losen wie perforierten Folge und Schichtung akausaler Ereignismannigfaltigkeiten. Umgekehrt vermögen sich erst von der Attraktion des Weißen und von den zufallsbestimmten Rändern des Sinns her Stille und Leere vom Status des Minderen zu emanzipieren. Erst das Ausfransen der einen, wahren und absoluten Zeit newtonscher Fasson erzeugt den Pluralismus der Zeitmodelle und die Offenheit von Formverläufen, lässt Peripheres eindringen, Zufälliges, Empirie, Welt.

 

Paramusik

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Gängige Zeitvorstellungen moniert Cage als Produkt einer ideellen Hypnotisierung. Gerade weil die Denkmuster von »kontinuierlich – diskontinuierlich, beständig – unbeständig« oder die von der Summierung von Augenblicken es »angeblich ermöglichen«, »Zeit zu denken«.(14) Dabei könnte sich Cages Veto gegen die grammatischen und logischen Gewöhnungen auf Wittgensteins Analyse jener sprachbedingten »Verwirrungen« berufen, »die sich aus dem Ausdruck ›die Zeit fließt‹ ergeben«. Darauf auch, dass Wittgenstein, um solche Blockaden »aus dem Weg zu räumen«, »Kleinholz aus der gewöhnlichen Grammatik« macht. Und wenn der Philosoph den »Grund der Sprache« freilegt, um die »Luftgebäude« zu »zerstören«, die die »grammatischen Täuschungen« und die »Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache« produzieren, dann zerstört der Künstler in 4´33´´ den Glauben, Musik sei einzig das, was bisher als Musik gegolten habe(15). Wie für Wittgenstein eine »ganze Wolke von Philosophie zu einem Tröpfchen Sprachlehre« kondensiert, so für Cage eine ganze Wolke von Musik zu einem Tröpfchen Kompositionslehre, genauer: zu einem methodischen Arsenal, um Zeit strategisch aufzuladen. Hat »man sich aber vom Maß der Zeit befreit, kann man nicht länger die Struktur vollkommen ernst nehmen«.(16) Cage bringt die Form als Zeitnetz der Organisation zum Verschwinden, um den Mythos der Herrschaft und der Beherrschung von Zeit auszusetzen. Wenn jedoch »ein Ton durch seine Höhe, seine Laut­stärke, seine Farbe und seine Dauer charakterisiert wird«, und wenn »Stille, welche das Gegenteil und deshalb der notwendige Partner des Tons ist, nur durch ihre Dauer charakterisiert wird«, dann ist »die Dauer, das heißt die Zeitlänge, die fundamentalste der vier Charakteristiken des musikalischen Materials«. »Stille kann nicht als Tonhöhe oder Harmonik gehört werden; sie wird als Zeitlänge gehört«(17).

          Cages Abwertung der Struktur und sein Credo der Unwiederholbarkeit korrespondieren miteinander, vermittelt über die Kritik des Aufschubs zwischen dem Notierten und seiner Bewältigung im Vollzug des Komponierens, Interpretierens und Rezipierens. Diese Verzögerungs-, weil Doppelungsspur des Symbols will Cage durch immer weniger Anweisungen mit immer größerer Wirkung zum Verschwinden bringen. In Form einer Musik, bei der wie in 4´33´´ alles zu jeder Zeit eintreten kann. Unterschiedlich zu einer solchen Fülle der Simultaneität begreift Cage deshalb auch die Logik der Linearität als eine Variante des Aufschubs, nämlich als eine der selektiven Verweigerung, gebunden an den Imperativ des Nacheinander. Diese Verwerfung des Aufschubs ist es, die Cage veranlasst, Töne nicht mehr zur Repräsentation eines ihnen vorausliegenden Sinns zu funktionalisieren. »Kein Ding braucht im Leben ein Symbol, da es deutlich das ist, was es ist«(18).

          4´33´´ kennt keine am Leitbild des personalen Charakters geschulte, wiederholbare Werkidentität mehr. Gegen die tonalitätsverwöhnte Garantie hoher Wiedererkennungswerte suspendiert Cage den Propheten im Hörer zugunsten eines Akteurs der Wahrnehmung. Und zwar mit einer Parataxe gleichberechtigter Elemente, deren wechselseitiges Sich-Durchdringen schwer vereinbar ist mit der Wertung nach Haupt- und Nebensachen und all den ziel- und systemfixierten Strecken der Entwicklung, der Über- und Unterordnung, wie sie für die herrschende Tradition der Hypotaxe und ihr Sinnmonopol charakteristisch sind. Parataxe dagegen heißt Offenheit für jenes Zufällige, Beiläufige, Mittelpunktslose, das schon Mallarmés Coup de dés ins Bild zu setzen begann. Sprache bricht strahlenförmig auf; der Satzspiegel, dessen »Leere« und »Lücken« die typographische Konstellation vom Sujet des Siebengestirns her rhythmisieren, lässt die Worte sternbildhaft im unendlichen Weiß der Seite aufleuchten, gruppiert zwar, und doch mit der Vielfalt freier Bezüge.

          4´33´´ ist kein Beispiel vollendeter Exhaustion, sofern Exhaustion nach abendländischen Vorstellungen als Mangel und Leere auf den gottanalogen Begriff der Fülle bezogen bleibt und damit auf eine Metaphysik hierarchischen Zuschnitts. Ebenso wenig ist 4´33´´ das Beispiel einer Semantik der Entsemantisierung. Auch dies wäre wieder nur eine Rückbindung an die Idee des Sinns, der noch der Nicht-Sinn als sinnvoll zufällt. Cage ist kein Meister der Innerlichkeit, der die Ökonomie der Synthesis zugunsten einfühlungsästhetischer Belange enteignet. Sein Aufheben der Grenzen zwischen Kunst und Empirie verweigert in 4´33´´ die Trennung von Methode und Material mit der Frage, ob Nichtkomponieren als ein Verfahren der Entstrukturierung dem Akt des Komponierens in einer Welt des Konkretismus nicht zumindest ebenbürtig ist. Darin ist 4´33´´ eine Paramusik, gegenläufig zum okzidentalen Hauptstrom der Musik und ihrem Werkbegriff; ein akustischer Wunderblock, dessen Stille-Grund potenziell alle Töne und Geräusche aufnimmt; eine Musik entlang der Musik, die »zu denken geben« will, »ohne dass das Geringste voraussehbar ist«.

          Die Absage ans hermetisch abgedichtete Werk praktiziert 4´33´´ in doppelter Hinsicht: als Abkehr vom ästhetischen Ideal des kompositorischen Handwerks und als Befreiung der verfemten Bereiche von Geräusch und Stille, die dem Gebot des reinen Tons und dem der Kontinuität lange genug als eine Art Partisanentum des Chaos und der Redundanz galten. Freilich entgeht sogar Cages »silent piece« nicht dem Dilemma, dass Komponieren selbst noch als Dekomponieren Zeit in Beschlag nimmt. Will 4´33´´ auch die Verwechslung von Zeit und Ökonomie aufheben: die Arbeit mit dem Zufall bleibt Formung und Verfügung, sofern sie Töne innerhalb eines Zeitrahmens zu akustischer Präsenz oder Nichtpräsenz zwingt. Aber wie heißt es doch bei Cage gegen jedes Establishment von Sinn und Dogma, gegen jede Form von »cage«? »In welchem Käfig man sich auch befindet, man sollte ihn verlassen.«(19)

 

 

Anmerkungen

 

   1 Vgl. dazu die detaillierte Studie von Thomas M. Maier, Ausdruck der Zeit. Ein Weg zu John Cages stillem Stück 4´33´´,

       Saarbrücken 2001.

   2 Cage, Silence, übs. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 39 u. 60.

   3 Richard Kostelanetz, John Cage, Köln 1973, S. 231.

   4 Vgl. z. B. Cage, Silence, S. 47 f.

   5 John Cage, Anarchic harmony, hg. v. Stefan Schädler und Walter Zimmermann, Mainz 1992, S. 41.

   6 Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint, Zürich 1979, S. 205 f.

   7 Pierre Boulez, Wille und Zufall, Stuttgart/Zürich 1977, S. 96.

   8 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (KSA, Bd. 3), München 1980, S. 557.

   9 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (KSA, Bd. 2), S. 540 f.

10  Hugo von Hofmannsthal, Eine Monographie (Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, hg. v. Bernd Schoeller), Frankfurt

       am Main 1979, S. 479.

11  John Cage, Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 40 ff.

12  John Cage im Gespräch, hg. v. Richard Kostelanetz, Köln 1989, S. 139.

13  Cage, 0´00´´: hat ART CD 2-6070.

14  Cage, Für die Vögel, S. 96.

15  Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930-1935, Frankfurt am Main 1984, S. 185 f.

16  Cage, Für die Vögel, S. 38.

17  Richard Kostelanetz, John Cage, S. 111 f.

18  Cage, Silence, S. 50.

19  John Cage im Gespräch, S. 217.

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