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Musik der Postmoderne
 

Ein Phantom?

Kafkas Satz "Zum letztenmal Psychologie!" findet seine Varianten bei Artaud: "Wir [...] sollten mit der Psychologie Schluss machen"; bei Cage, dem es auf "Kompositionen" ankommt, "deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinne­rung (Psychologie)"; bei Marinetti: "Man muss das ‚Ich’ in der Literatur zerstören, das heißt alle Psychologie", und bei Heidegger, dem die Psychoanalyse als eine Machen­schaft des seinsvergessenen Subjekts, als ein Abweg des "vorstellenden Denkens", seiner Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit gilt.

Und hatte nicht schon Stavrogin in Dostojewskis Dämonen seine Abneigung gegen die "Psychologen" zum Ausdruck gebracht, "die mir in die Seele dringen", und dem­gegenüber auf Selbstbestimmung bestanden, darauf, "dass es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt"? Darin verwandt den Aporien einer gottlosen Sprache bei Nietz­sche und dem Problem ihrer Überschreitung? "Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!"
 

Johannes Bauer, Vorbemerkung zu einigen Thesen über das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne in der Musik

Mehr als ein Schattendiskurs? Neue Musik und das Phantom der Postmoderne
Ringvorlesung am Salzburger Mozarteum (2007)
Postmoderne Musik
Ein Essay

Paris-Lodron-Universität Salzburg / Universität Mozarteum

Ringvorlesung Postmoderne (Wintersemester 2007/2008

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Glass Violinkonzert.JPG

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Mehr als ein Schattendiskurs?

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Neue Musik und das Phantom der Postmoderne

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Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

ich denke, Sie kennen es alle: das Problem des Beginns, den Anspruch erster Sätze, die Zumutung einer leeren Seite. Und als würden die Bürde des initialen Akts und sein Di­lemma zwischen Sog und Tabu nicht schon genügen, wird einem Vortrag zum Themen­kreis der Postmoderne der Anfang zudem noch wegen des zu Recht oder zu Unrecht ver­kündeten Endes der Großen Erzählungen fraglich. Und dass es mittlerweile zum guten Ton dekonstruktivistischer Schulung gehört, die Schwierigkeit des Anfangs als Schwierigkeit zu benennen: wer wüsste es nicht? Wie also wäre im endlosen Reigen der Diskurse, der je­den Anfang immer schon zu spät kommen lässt, so etwas wie eine Zäsur zu setzen? Um jedoch, entmutigt von solchen Malaisen des Beginnens, nicht sofort wieder das Podium zu verlassen, empfiehlt sich vielleicht zunächst eine Art Selbstversuch. Ein Versuch, der möglichst unverfänglich „Ich“ sagt und auf Werturteile verzichtet - vorerst wenigstens.

Gestatten Sie mir deshalb den Anfang mit einer persönlichen Erfahrung, die rund fünfzehn Jahre zurückliegt. Mit einer Erfahrung, die etwas anschaulicher werden mag, wenn ich Sie bitte, sich folgende Szenerie vorzustellen: Griechenland, Rhodos, das Meer, kurz: einen Sonnentag von mediterraner Fülle. Und inmitten solcher Sommerwunder einen Zeitgenossen, der zum ersten Mal diese Musik hört:

 

Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra, (2) [Tr. 2, 0´00–2´55] [2´55]

  (Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi, Gidon Kremer)

 

Natürlich weiß ich nicht, was der soeben gehörte Ausschnitt aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra bei Ihnen ausgelöst hat. Ich zumindest war von diesen einfachen, ja simplen Takten berührt. Genauer: berührt und irritiert. Wie war dieses Abweichen von der Thora der Neuen Musik - der strengen, einzig wahren - überhaupt möglich? Dieser Kon­trollverlust? War es der Wunsch nach Regression, gefördert durch die emotionalisierende Dienstleistungsfunktion der Klänge? Hatte sich gar das Mirakel einer sirenenhaften Lo­ckung ereignet - damals, unter dem blauen Himmel der Ägäis?

Trainiert, wenigstens argumentativ mit sich ins Reine zu kommen, verweist der Katechismus intellektueller Gewissenserforschung inmitten solcher Anfechtungen auf ei­nen seiner investigativen Grundsatzartikel, auf den nämlich, ob Glass’ Violinkonzert nicht schlicht purer Kitsch sei. Falls aber nicht, worin liegt dann die Hintergründigkeit des so belanglos Komponierten?

Um Sie nun nicht weiter mit den Details von reflexiver Einkehr und ästhetischer Absolution zu langweilen, nur so viel: Für mich - und bitte beachten Sie, dass ich noch immer im Namen einer privaten Einzelerfahrung spreche - für mich bedeutet Glass’ Vio­linkonzert eine Musik des Als-ob. Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleich­sam einer in Anführungszeichen. Konfliktfrei, routiniert und kulinarisch aufbereitet zele­briert und diagnostiziert diese Musik, wenn auch unfreiwillig, den einsamkeitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart. Mit ihrer Verliebtheit in die Alltäglichkeit von Sequenzen und Kadenzen, dabei ebenso wiederholungssicher wie selbstgenügsam in eingängigen Patterns in-sich kreisend, animiert, verführt und täuscht sie mit Raffinesse. Zehrt sie vom Kult der Stimmungen doch nur, um diesen Kult über tonale Versatzstücke sofort wieder auf formel­hafte Gefühlsrelikte hin abzudämpfen: eine cool gestylte Soft music moderner Großstadt­wüsten, fast ohne Eigenschaften.

Glass’ Violinkonzert: die musikalische Hohlraumversiegelung einer diffusen und leeren Innerlichkeit und einer ebenso diffusen Trauer über diese Leere. Ist dies die Musik einer reflektierten Zustandsbeschreibung, die der Kunst nicht aufbürdet, was Sache der Ethik ist? Eine Musik der Gewaltenteilung, ein Komponieren ohne Häme und ohne das Ecce-Homo-Pathos so vieler - vermeintlich standhafter - zeitgenössischer Solokonzerte?

Was aber machen wir - durch die Schule Adornos gegangen - mit der provokant simplen Faktur dieses Konzerts? Zeigt diese Faktur nicht dadurch Wirkung, schärfer for­muliert: rächt sie sich nicht dadurch, dass sie die Komposition in das Genre der Beschrei­bung verweist? In das der Schilderung? In den Bereich des Dokuments also, den Walter Benjamin dem des Kunstwerks kontrastiert, sofern aufseiten des Dokuments die ‚Herr­schaft des Stoffs’ und des „Stofflichen“ dominiere, im Kunstwerk aber das „Formgesetz“?(1) Denkt man Benjamin zufolge das Formgesetz und mit ihm das Kunstwerk im Pakt mit dem aktuell komplexen Entwicklungsstand der ästhetischen Produktivkräfte, dann setzt Benja­mins analytischer Kanon nicht nur eine Differenz der Sphären - die des Dokuments und die des Kunstwerks -, sondern einen Rangunterschied. Glass´ Violinkonzert: nicht mehr und nicht weniger als ein Dokument? Als Kunstwerk hätte sich ein Solokonzert heutigen Kom­ponierens demnach anders anzuhören. Etwa so:

 

Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang, Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00-2´27] [2´27]

(Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini)

 

Während das Violinkonzert von Phil Glass die Ich-Rhetorik als Sprache, als die Sprache voraussetzt, unternimmt das soeben angespielte Beispiel aus Helmut Lachenmanns Aus­klang eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Lachenmanns Kompo­sition für „Klavier mit Orchester“ lotet über die Andeutung und den gleichzeitigen Entzug musikalischer Sinneffekte, über deren Genese und Herstellbarkeit also, die historische Di­mension dieses Sprachgrunds aus: sein Werden und sein Vergehen. Zielt Glass aufs Ver­traute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Lachenmann interessiert nicht das konzertante Wechselspiel, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Musik wird hier nicht zum Generator einer Sinnspur. Im Gegenteil: Erst das Aussetzen der subjektdramatischen Zeit ermöglicht eine neue Präsenz der Klänge, ihrer geschichtlichen Ladung und ihrer materialen Basis. Erst mit dem Spren­gen der narrativ gefestigten Einheit der Subjektmonade differenzieren sich die Mittel, um durch die Demontage überkommener Affektklischees und durch die Beseitigung sämtli­cher Aufschubsbarrieren zwischen kompositorischen Haupt- und Nebensachen dem Ohr eine ungewohnte Tiefenschärfe zu geben.

Die simultane Entstehungszeit der Kompositionen Lachenmanns und Glass´ - 1985 und 1987 -, lässt fragen, ob es sich auch hier um zwei Kulturen handelt, um zwei Kulturen von Musik. Um eine authentische und eine weniger authentische, um eine wahre und eine falsche. Oder geht es hier einfach nur um zwei gleichwertige Optionen in einem Katalog mannigfacher Angebote?

Womit wir im Zentrum unseres Themas wären: Wie sehr hat sich eine Analyse postmodernen Komponierens an dem zu orientieren, was - versuchsweise - radikale Neue Musik heißen könnte? Das heißt an einer Musik, die tief schneidet, die ihren Sprachgrund freilegt, sich über komplexe Texturen wie über strukturelle Abrüstungen am Unberechen­baren und Unverfügbaren versucht, ohne der Kompression einer medial überverdichteten Welt mit der Depression nostalgischer Ich-Legenden zu antworten; an einer Musik folg­lich, die sich von der Einheit des Subjekts, vom Humanismus und mithin von ihrem meta­physischen Erbe verabschiedet?

Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zunächst daran erinnern, dass die Be­stimmung postmoderner Kunst eine begriffsverwirrte ist. Schwierig werden Diskussionen zum Thema Postmoderne meist, weil Definitionen gegeneinander ausgespielt und abge­wertet werden, sich außerdem ständig vermischen, ohne hinreichend präzisiert worden zu sein. Etwa die Auffassung von einer Postmoderne des „Anything goes“, die übrigens we­niger trivial ist als es ihr Schlagwortdasein vermuten lässt. Oder die Auffassung von einer Postmoderne im Anschluss an Jean-François Lyotard, der die Postmoderne als eine kon­trastreiche Feinbestimmung der Moderne versteht. Oder, eine dritte Spielart, die Auffas­sung von einer Postmoderne, in der es zwar Qualitätskriterien geben soll, aber bitte keine allzu rigorosen. Und inmitten all dieser Varianten der Zweifel, ob der hektische Wechsel der Periodisierungen und Etikettierungen – Prämoderne, Moderne, Anti-Moderne, Post­moderne, Zweite Moderne – nicht in erster Linie Ordnungsfallen kultiviere, die sich an ei­ner Sinngebung der Unübersichtlichkeit des allzu Nahen versuchen. Womöglich gilt auch für die Musik, was Niklas Luhmann nach immerhin fast 1200 Seiten am Ende seiner Theo­rie der Gesellschaft resümiert: „Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür ge­geben, dass irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es recht­fertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten. [...] Nach wie vor werden all die Errungenschaften der Moderne [...] beibehal­ten; nur ihre Konsequenzen findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Ar­chitektur vielleicht ausgenommen) gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen mo­derner und postmoderner Kunst.“(2)

Ich möchte hier vor allem auf Lyotard verweisen. Seine Ablehnung der Beliebig­keit des „Alles ist erlaubt“ verpflichtet die Kunst der Postmoderne auf die der Moderne. Auf eine Kunst des Experiments, die mit der Naturwissenschaft ihrer Epoche den Abschied von intuitiven Wahrnehmungsprozessen teilt und für die Energien des Unkalkulierbaren und Undarstellbaren im Namen des Erhabenen sensibilisiert. Kompositorisch gesprochen weist dies in die Richtung einer Musik der Mikro- und Zwischenbereiche, der mit der zweiwertigen Logik von Kohärenz und Inkohärenz, von Askese und Sinnlichkeit, von Wahrheit und Lüge nicht mehr beizukommen ist. Einer Musik aber auch - und das wäre die Differenz zwischen Lyotard und Adorno - die nicht mehr am Werkorganismus - auch nicht dem der Zerrüttung - und keineswegs mehr am „Ausdruck des Entsetzens“ eichbar ist. Kurz, einer Musik, die sich einer normativen Ästhetik metaphysischen Zuschnitts entzieht - und das ohne Bedauern. Dass ein Komponist wie Cage dabei zur philosophischen Schranke zwischen Adorno und Lyotard wird, ist nur konsequent.

Auch hier wieder das Thema Metaphysik und Neue Musik. War es nicht Adorno, dem zufolge die Kunst der Moderne um einen „metaphysischen Sinnverlust“ kreist?(3) Wo­möglich wären es die Reaktionsweisen auf den Zerfall der metaphysischen Episteme, die eine Grenze zwischen Moderne und Postmoderne ziehen.

Hier ist wohl die beste Gelegenheit, Ihnen, meine Damen und Herren, genau diesen Gedanken als die grundlegende These meiner Überlegungen vorzustellen. Eine These, die seit Nietzsche alles andere als neu ist, bei der es allerdings darauf ankommt, wie sie ent­faltet wird. Es soll also um die Lesart gehen, die die Kunst der Moderne von der Auflösung ihrer metaphysischen Konditionen her zu entziffern sucht. Eingebettet in den gesamtgesell­schaftlichen Prozess entpuppt sich von diesem ästhetischen Großereignis her die Postmo­derne als eine strikte Konsequenz der Moderne oder, wenn Sie so wollen, als eine mehr oder weniger belanglose Periodenmarkierung. Zu einer mehr oder weniger belanglosen Pe­riodenmarkierung wird nun freilich auch der Begriff der Moderne selbst, der sich überstra­paziert, weil die Epochenstrecke, die er abzudecken hat, immer länger wird. Mein Vor­schlag zur Güte oder zur Ungüte wäre deshalb, mit dem Begriff der Postmoderne auch den der Moderne zeitweise auszusetzen und stattdessen - im Anschluss an Nietzsche - von den Grabenkämpfen, den Zerstörungs- und Verteidigungsgefechten auszugehen, die das Ende der abendländischen Metaphysik martialisch aufladen. Konzentrieren wir uns daher wie Heidegger, Adorno, Derrida oder Lyotard auf die Arena dieser Auflösung.

Nun soll dieser Vortrag nicht primär von Philosophie handeln, sondern davon, wie der metaphysische Zerfallsprozess das musikalische Terrain verändert und auf ein postmo­dernes Komponieren hin auflockert. Dennoch bleibt zunächst die Frage: Metaphysik und Musik, Metaphysik in der Musik - was kann das überhaupt bedeuten?

Am nachdrücklichsten zeigt sich das metaphysische Fluidum von Musik an Kom­positionen der dur-moll-harmonischen Epoche. Und zwar als transzendierendes Moment, als eine gewisse Levitationstendenz, das Schwergewicht der Welt über den ästhetischen Widerhall dieser Welt vorübergehend aufzuheben, zumindest zu erleichtern. Widerhall von Welt verstanden nicht als deren harmoniesüchtige Zurichtung, wohl aber als Ausschluss aller nicht im reinen Ton sublimierbaren Expressionen, ihrer Nacktheit und ihrer existen­ziellen Abgründe. In dieser Epoche von einem Platonismus des geistsublimierten Körpers zugunsten der musikalischen Idee zu sprechen, ist sicher nicht falsch. Zudem legiert sich in der tonalen Ära der reine Ton mit der Reinheit des Werks, das heißt, mit dem Entwurf des Werks als Organismus. Wobei die organische Einheit und Geschlossenheit des Werks der Einheit und der Geschlossenheit des hörenden Subjekts aufs Engste korrespondieren, ja sie erzeugen. Diese Wechselwirkung zwischen Werk und Subjekt ist so dicht, dass sich die empirisch irreversible Zeit beim Hören mitunter in der ästhetischen Zeit kondensiert: und zwar mit einem Gefühl der Unsterblichkeit. Es ist diese nunmehr überwiegend narzissti­sche Selbstvermittlung, die den meisten Ohren nach wie vor als die einzige und universale Sprache der Musik gilt. Massenwirksam trivialisiert in den Ressorts Klassik und Pop. Me­taphysisch-humanistische Rest-Energien aus dem Fundus des Homo divinus aktivieren sich hier zu einer Praxis der Selbstaffirmation. Im Mittelpunkt steht das zum Subjekt - oder eine Etage tiefer - das zum konsistenten Ich verklärte Individuum, dem wenigstens die Mu­sik etwas von seiner säkularen Gottesimago zu retten erlaubt.

Gravierend ist nun, dass Neue Musik solche metaphysischen Modalitäten auflöst. Und mit ihnen den Schein der Transzendenz. Neue Musik begreift sich primär als eine der Immanenz. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorrangig nach dem Reglement eines athletischen, ja schwerathletischen Komponierens - angemessen dem Schwergewicht der Welt, ihrer Gewalt- und Terrorgeschichte. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts dann mit einer Tendenz zur Steigerung des Immanenzgebots. Jetzt nämlich reflektiert Musik das Bewusstsein und die Spur des Todes nicht mehr nur als ein ästhetisch gelindertes Sujet: die Struktur selbst wird zum Ort der Kontingenz als einer Erfahrung von Endlichkeit ohne Transzendenzbonus.(4) Zum einen infolge der Leerstellen und Lecks, die das Rauschen und die Stille im Kosmos der Werke aufbrechen lassen; zum anderen infolge der Überdetermi­nierung durch Zufall und rhizomatische Komplexität, die jedes prophetische, jedes voraus- und zurückhörende Hören außer Kraft setzen und mit ihm die Suggestion ästhetisch gewährter Unsterblichkeit. Die gottererbten Allmachtsfantasien des Subjekts, auch die des hörenden, jederzeit Herr der Lage zu sein, jederzeit über das Wo und Wie und Wann Be­scheid zu wissen, scheitern an der Überforderung, jenes Unberechenbare sinnvoll aufzulö­sen, das der Formenkreis des Zufalls zumutet. Nietzsche schon hat diese Unberechenbar­keit zum traumatischen Faszinosum der Moderne erklärt und Cage wird mit der Relevanz des Zufalls eine massiv metaphysikzersetzende Variante in die Musik nach 1945 ein­schleusen. Diese metaphysikzersetzende Variante wird noch klarer, wenn ich Sie daran erinnere, dass die Aufhebung des Zufalls noch in Hegels philosophischer Agenda an oberster Stelle stand.

Dass Neue Musik inzwischen das Gebot strenger Immanenz wieder gemildert hat, resultiert meines Erachtens aus einer Überschreitung, die den Abschied vom Ethos der Metaphysik und seinem Sinnpotenzial nicht mehr als Tragödie, nicht mehr als Verlust be­greift. Ich werde auf diese Figur der Überschreitung und was sie mit postmodernem Be­wusstsein zu tun haben könnte, später noch zurückkommen.

Ich habe, meine Damen und Herren, von einem Komponieren gesprochen - sollen wir es probeweise „postmodern“ nennen? -, das sich vom Subjekt und seiner idealisierten Herrschaftsperspektive, dem Humanismus, verabschiedet. Von einem Komponieren, das stattdessen auf die Erosion individueller Autonomie im Vermittlungsgetriebe der Massen­gesellschaft reagiert. Sprach Nietzsche bereits vom „Dividuum“, muss, wer heute das Wort Individuum, gar das vom Subjekt in den Mund nimmt, einer Verspannung in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen Rechnung tragen, die einander durchdrin­gen und polyphrene Bewältigungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Zu rechnen ist mit multiplen Psychen, die gelernt haben, widersprüchliche Denk- und Handlungswei­sen unter einen Hut zu bringen und deshalb im Privaten den harten Kern des Ego umso zä­her konservieren. Um diesem Zustand musikalisch zu begegnen, gibt es etwa für die Gat­tung des Solokonzerts auf postmodernem Terrain mindestens zwei Möglichkeiten: Entwe­der die einer Einsicht in den zwingenden, gar befreienden Konkurs des Subjektmonopols oder diejenige, die sich mit einer Verteidigung der Ich-Rhetorik dagegen sperrt. Glass und Lachenmann wären dafür Beispiele.

Zieht demnach das Ende der Großen Erzählung vom Subjekt - vom Entwurf des Menschen in seiner Einheit als Selbstbewusstsein und von dem des Kunstwerks in seiner Einheit als Organismus - eine zusätzliche Grenze zwischen Moderne und Postmoderne? Wäre postmoderne Musik demzufolge mit dem Abschied vom Fundamentalismus der Werkkonsistenz, vom Subjektcharakter des Kunstwerks anzusetzen? Da doch erst ein Komponieren, das mit dem geplanten Zufall, mit variablen Formen und einer bislang un­bekannten Freiheit der Interpreten arbeitet - mit dem Aufbrechen der unveränderlich ge­schlossenen Einheitszeit also -, eine Fülle neuer Verfahren und Genres freigibt? Vor allem die einer Verflüssigung der Werkästhetik? Und damit performative Strukturen, besser: Nicht-Strukturen samt der Möglichkeit ungeahnter Synapsenbildungen; zusammen mit ei­nem Repertoire an „Übermalungen, Inskriptionen und Kontrafakturen“, um Wolfgang Rihm zu zitieren; einem Repertoire an Transfer und Recycling, an Mischungen und Kreu­zungen jenseits des Unterschieds von Rohem und Gekochtem? Wobei der Begriff des Ro­hen und Gekochten auf den Grad der Konstruktion anspielt. Und all dies im Wuchern pro­misker, hybrider Formen. Würde somit eine Postmoderne der Musik erst dann manifest, wenn das Bündnis aus Notation, Struktur und qualitativ artikulierter Zeit zerfällt und das Ausbleichen des Formgedächtnisses vormals tabuisierte Zonen einlässt? Die des Geräuschs etwa - einem Fading von Kunst und Empirie vergleichbar? Wenn sich also der von Hegel überlieferte Kontext zwischen Sprache, Subjekt und (Welt-)Geist zersetzt und mit ihm der Wahrheitsbegriff nicht nur des Kunstwerks? Indes die Übermacht des Energetischen über das Semantische Verwerfungen des ästhetischen Sinns produziert, die auf die philosophi­sche Hermeneutik dieses Sinns zurückwirken?

Wie Sie hören, meine Damen und Herren, bin ich nicht darauf aus, Sie mit Ant­worten zu beruhigen, sondern darauf, Sie mit Fragen zu beunruhigen. Mit Fragen, bei de­nen es ein Leichtes wäre, sie als überzeugungssichere Behauptungssätze zu präsentieren. Was anlässlich einer akademischen Veranstaltung zudem noch den Vorteil des Seriösen hätte. In meinem Fall allerdings auch unredlicher wäre: ratlos wie ich bin auf dem Gebiet postmoderner Musik.

Was können demnach die metaphysik- und subjektkritischen Impulse Neuer Musik zum Begriff einer musikalischen Postmoderne beitragen? Bekanntlich war es der Perfekti­onsgedanke als Garant des Schönen und Wahren, der das Kunstwerk in seiner Ausformung zum Organismus in den metaphysischen Rang des Vollkommenen als des absolut Notwen­digen erhob. In den Rang einer Vollkommenheit, zu deren Suggestionskraft es gehört, frei von allen Schlacken des Gemachten zu sein. Bis der Genealoge Nietzsche in einem grandi­osen Inthronisierungsakt der Moderne das Dogma vom „Vollkommenen“, das „nicht ge­worden sein [soll]“, zum „mythologischen“ Relikt genialischer Schöpfungsfantasien er­klärt.(5) Und als wäre ihr Nietzsches Appell zum Programm geworden, zeigt sich Metaphysik­kritik in der Neuen Musik nicht selten an einer Offenlegung der Genese als ei­ner Fühlungnahme mit dem Herstellungsprozess des Komponierten.

Lachenmanns Autopsie des Tons etwa schärft das Ohr für die Einheit zwischen der Physis des Klangs, seiner Stoff- und Energiebasis, und dem musikalischen Diskurs. Jede Verschleierung dieser Untrennbarkeit wäre für den Komponisten Lachenmann im Bereich Neuer Musik harmonistisch, gewissermaßen philharmonisch. Sinn ist von seinen materia­len Trägern ebenso wenig zu lösen wie die Botschaft von ihrem Medium. Gegen die Aus­grenzungsdirektiven des Zivilisationsprozesses interpretiert Lachenmanns Musik den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs. Eine „Umwertung der Werte“, die wieder an Nietzsche denken lässt. Das Verfahren, die mechanischen Bedingungen der Klangerzeugung ohne Reinheitsfilter in die Komposition einzubeziehen, verabschiedet ein platonisches Ideal der Läuterung. Und damit ein Ideal, das sich über Epochen hinter reinen Tönen und wohlpro­portionierten Konstruktionen verschanzt und eine Art musikalischer Ideenhimmel konsoli­diert hatte. Klang verstanden als „Nachricht seiner Hervorbringung“(6) hebt die Hierarchie zwi­schen Geist und Materie auf und mit ihr das Gefälle zwischen der Idee und dem Boten­stoff des Sinnlichen. Musikalische Metaphysikkritik par excellence!(7) Nicht zufällig blitzt in Lachenmanns Begriff eines aufbrechenden „Freiraums von Nicht-Musik“(8) die Spur ei­ner Dekomposition der abendländischen Musikgeschichte auf - in Parallele zu Heideggers ›anderem Anfang‹ einer Nicht-Metaphysik des Denkens und einer „Destruktion“ der abendländischen Metaphysikgeschichte.

Haben Sie noch ein wenig Geduld, meine Damen und Herren, ein wenig Geduld auch mit mir, und lassen Sie uns den Strang einer kompositorischen Metaphysikkritik mit Blick auf die Schlüssigkeit des Periodenbegriffs „Postmoderne Musik“ noch ein wenig weiterverfolgen.

Von Beginn an steht Neue Musik - gleichzeitigen philosophischen Tendenzen ana­log - in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Des­sen Gründungs- und Begründungsmacht - „nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich musi­kalisch am nachhaltigsten in der austarierten Werkeinheit zur Zeit der tonalen Epoche. Das heißt in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und - ich erinnere an Mozarts abgründigen Musikalischen Spaß - in den dieser kompositorischen Logik zufolge erst möglichen Regel­verstößen. Auch wenn für Schopenhauer Musik den „Satz vom Grund“ ausdrücklich ent­mächtigt, bleibt dessen Schatten gleichwohl im Innern jener Kompositionen Mozarts und Rossinis präsent, die dem Philosophen um 1820 das Erlebnis solcher Enthebung vermit­teln.

„Nichts ist ohne Grund“. Orientiert an diesem anthropologisch fundierten Grundge­setz abendländischer Metaphysik und Praxis - einem Gesetz von Folgerichtigkeit, Zusam­menhang und Notwendigkeit -, kultiviert auch Musik einen Sinnfundus an Wahrheit. So korrespondieren - Sie sehen, dieses Motiv lässt mich nicht los - die organisch durchge­formten Werke der sogenannten Tonalität und ihre symbolisch-gestische Syntax aufs Engste mit der Identität des Selbstbewusstseins. Mit dem also, was die Philosophie seit Descartes mit der Einheit des Subjekts als einer Einheit von Begründungen zu fassen sucht. Auch wenn sich dieser Sinn- und Begründungsfundus im musikalischen Metier stets mu­sikspezifisch, das heißt mimetisch und logiksubversiv verschattet: in begründeten Ordnun­gen selbst begründet zu sein, im Grund der Werke sich selbst zu finden, wird zum ästheti­schen Kanon schlechthin. Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Dezentrierungen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ metaphysik­kritisch ins Innere der Struktur.(9) Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der mnemoni­schen Souveränität des Subjekts gegründete Allianz auf. Mag auch die hochge­rüstete Konstruktion serieller Musik ihrer Produktion nach zum letzten Mal und bis in den letzten musikalischen Parameter hinein eine extreme Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten, ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich jeder ihrer komponierten Begrün­dungszusammenhänge ins Grundlose auf. Darin repräsentiert die Serialität und ihr Bruch zwischen Konstruktion und sinnlicher Erfahrung, zwischen Produktion und Rezeption, den Übergang von einer metaphysisch bestimmten zu einer nachmetaphysischen Moderne. Vom Grund zum Grundlosen, vom Begründeten zum Unbegründeten, zum Abgründigen.(10) - Wäre dergestalt schon die serielle Musik, so eng sie ihrer Kontinuität nach an die Mo­derne, an Schönberg gebunden bleibt, unter die Rubrik „postmodern“ zu rechnen?

Mit der Serialität forciert Neue Musik die Selbstreferenz des Komponierten. Und es ist diese Selbstreferenz, die das Repräsentationsverlangen des vorstellenden Subjekts und seine mit dem Humanismus in Gang gesetzte „Eroberung der Welt als Bild“(11) radikal ent­täuscht. Verbünden sich im bildgebenden Subjekt seit der Renaissance Metaphysik und Humanismus zu einer Art Weltbeherrschungsemphase(12), dann ist eben, wie ich eingangs sagte, die Metaphysikkritik der Neuen Musik immer auch Subjekt- und Humanismuskritik. Das heißt, Kritik an der Deutungs- und Praxishoheit des animal rationale und seiner in die Welt projizierten Spaltungsontologie des Animalen und Rationalen, zentriert um den welt­setzenden Absolutismus der humanitas des homo humanus. Indem jedoch Neue Musik ihre äußere und innere Abbildlichkeit aufhebt, wird sie dem tradierten Erkenntnis- und Empfin­dungssensorium zum tönenden Schreckbild des Inhumanen. Der Spiegel des Narziss ver­wandelt sich in das Haupt der Medusa, um vom Visuellen her zu sprechen. Erinnern Sie sich noch, meine Damen und Herren, an Adornos Reflexion zum Thema des Humanen und Inhumanen in der Kunst? „Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kün­digt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.“(13) „Um des Menschlichen willen“ muss die „Unmenschlichkeit der Kunst [...] die der Welt überbieten“.(14)

Was an Neuer Musik im Unterschied zur symbolisch-gestischen Musik der tonalen Epoche, ja noch der Wiener Schule, als ein Verlöschen der Expressivität und der mimeti­schen Impulse charakterisiert und kritisiert wurde, kennzeichnet ein Komponieren, das dem Erlebnis das Ereignis entgegensetzt. Musik drückt nicht mehr etwas aus. Ihre „nicht­subjektive Sprache“(15) zieht die Summe aus der Tilgung der vorhin als äußere und innere Ab­bildlichkeit bezeichneten Repräsentationsspur. Dieser Ikonoklasmus, den Morton Feld­man das „Abstrakte“ nennt(16), verweist auf keinen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Ab­wesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Die Bühne der Projektion als eines ständigen Wiederfindens seiner selbst ist bis auf die letzte Kulisse hin abgetragen.

Und um noch bei Feldman zu bleiben: Wäre sein Spätwerk postmodern zu nennen? Aufgrund seines Metadiskurses zur Anatomie des musikalischen Gedächtnisses und seiner Bindungsarbeit, seiner Engramme, Leerstellen und Zeitfenster, seiner Verknüpfungsstan­dards und symbolischen Routinen - und deren Brechung? Während Musik doch sonst zu­meist eine Hohe Schule des Gedächtnisses war? Postmodern also seiner wahrnehmungs­ästhetischen wie seiner strukturellen Sensibilisierungseffekte wegen, integriert einer gegen Innerlichkeit versiegelten Musik, die das Gedächtnis sich selbst fremd werden lässt? Oder wäre die Behauptung zutreffender, Feldmans Musik sei modern und postmodern: modern in ihrer Absage an Einfühlung und Verinnerlichung, postmodern aber in ihrer Entbürdung vom Gewicht des Unversöhnlichen und vom Ethikmandat des „J’accuse“?

Vielleicht zeigt sich hier doch ein Weg in Richtung Postmoderne, sofern sich Feldmans Spätwerk der Hegel-Adornoschen Alternative von der Kunst als einem „bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk“ oder einer „Entfaltung der Wahrheit“(17) entzieht, ohne deshalb belanglos zu werden. Es dürfte maßgeblich das Phänomen des „Between“(18) als eines Zustands „zwischen den Kategorien“ sein, das ein Charakteristikum postmoder­ner Musik ausmacht und die musikhermeneutische, dialektisch akzentuierte Allianz Ador­nos aus Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik mit ihren philosophischen und soziologi­schen Vorentscheidungen kraftlos werden lässt. Allerdings wird sich erst von einer Feinbe­stimmung des „Between“ her entscheiden, von welcher Art Postmoderne die Rede ist. Doch dazu gleich mehr. Sollten sich indes die an Feldman skizzierten Momente aus dem metaphysikkritischen Movens der Moderne heraus verstehen lassen, wieso wären sie dann postmodern?(19) Postmodern, wenn nicht aus dem Grund, dass nach einer - mit Adorno ge­hört - dem Grauen der Geschichte geschuldeten Neuen Musik ein Komponieren möglich wurde, das auf höchstem ästhetischen Niveau die Zeugenschaft von Klage und Anklage hinter sich lassen kann. Das aber würde besagen, dass die modern-postmoderne, besser: die postmodern-moderne Neue Musik das Stigma des „metaphysischen Sinnverlusts“ auf ei­nen nahezu transmetaphysischen Ort des Freien hin überschreitet; philosophisch vergleich­bar Heideggers Unternehmen der „Destruktion“ oder dem der „Dekonstruktion“ Derridas. Musikalisch verweist diese Überschreitung zunächst auf die Galionsfigur Cage, der für Lyotard zum ersten herausragenden Komponisten der Postmoderne wird. Und doch blei­ben die Arbeiten Cages, des Vaters so vieler postmoderner Lizenzen, ohne analytische Zwangsdeutung im symbol- und metaphysikkritischen Tableau der Moderne lesbar, nicht moderner oder postmoderner als jedes andere Komponieren, für das die immanenten For­derungen und Möglichkeiten der Musik seit der Wende zum 20. Jahrhundert obligatorisch sind. Einzig die Schärfe der ästhetischen Metaphysikkritik im kompositorischen Extre­mismus Cages erlaubt es Lyotard, ihn der Postmoderne zuzurechnen. Eine Schärfe etwa wie die der Abrüstung der kompositorischen Willenspräsenz im Komponierten mit ihrer fast schon antimetaphysisch östlichen Praxis von Gelassenheit und Lassen und ihrer zeitli­chen Nähe zu Heideggers Philosophie nach der Kehre. Ob sich Musik allerdings jeder me­taphysischen Spur entledigen kann, wäre eine andere Frage.

Vielleicht können wir uns darauf einigen, eine Musik postmodern im Zeichen der Moderne zu nennen - vorerst und wenn es denn sein muss -, die weder unter das Ka­tastrophische noch das Regressive zu subsumieren ist. Von der Schnittmenge eines Dritten her ist sie gleicherweise immun gegen die Dialektik von Positivismus und Metaphysik wie gegen die auf Daseinsapotheosen oder Leidensapologien zugeschnittenen Rollenfächer. Befreit vom Souveränitätszwang und vom Souveränitätsmissverständnis des Subjekts und dessen affektiver Sinnbühne schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee dieser Musik die Sirenen, die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel mit Kurs auf viele Ithakas.(20)

Was ich nun mit diesem Dritten, diesem „Between“ meine, mit diesem Freisein von Daseinsapotheosen und Leidensapologien und mit dem Motiv der Immanenz, möchte ich erneut an einem zeitgenössischen Solokonzert demonstrieren. An einer Musik, die meines Erachtens eine Facette postmodernen Komponierens repräsentiert: nämlich an Elliott Carters Klarinettenkonzert aus dem Jahr 1996, genauer, an dessen zweiminütigem Finale.

Hören wir uns also zunächst einmal diesen „Agitato“-Satz an:

 

Bspl. 3: Elliott Carter, Clarinet Concerto, 7 (Agitato) [Tr. 7 (ganz)] [2´00]

      (London Sinfonietta, Oliver Knussen, Michael Collins)

 

Vorab fällt an der Solopartie dieses Satzes etwas unentwegt Sprechendes und doch Sprachloses auf: formelhafte Arabesken, ein deliranter Zug der Betriebsamkeit, enorm selbstbezogen; eine Fasson des Beliebigen, ja Geschwätzigen. Obwohl nichts wiederholt wird, wirkt die Rastlosigkeit der Klarinette wie in einem repetitiven Zirkel gefangen.

Anders dagegen der äußerst variabel durchgebildete Orchestersatz, genauer: der ei­nes Kammerensembles aus fünf Streichern, dreizehn Blas- und Schlaginstrumenten inklu­sive Harfe und Klavier. Ein Orchestersatz der Schnitte, mit einer Vielfalt an Farben, unru­hig, mobil, unkalkulierbar in seiner Plötzlichkeit, ein Kaleidoskop von hoher Ereignis­dichte.

Entscheidend ist nun, dass Carter das traditionelle Prinzip des Instrumentalkonzerts, den Dialog, in einen Paralog umformt. Diese veränderte Topik zwischen Solostimme und Orchesterensemble verwandelt die konzertanten Muster des Mit- und Gegeneinander in ein Nebeneinander, parallel getrennten Bühnen ähnlich. Trotz eines engmaschigen Konstrukti­onsgewebes finden sich im paralogischen Geflecht der Musik nur selten dialogische Mo­mente, flüchtige Berührungspunkte einer nervösen Interferenzzone zwischen Solo- und Orchesterpart. Weit mehr als um Drama und Tragik, weit mehr als um Kollision und Kul­mination, weit mehr auch als um den Phantomschmerz an den Leerstellen eines de­zentrierten Subjekts geht es Carter im Nebeneinander eines freien und differenzierten En­sembles und einer wie in rhetorischen Leerläufen befangenen Einzelstimme um das Para­dox einer spannungslosen Spannung ohne Aufschwünge und Abstürze. Carters Klarinet­tenkonzert boykottiert den Kult des Gefühls, das Sich-Einhausen in schal gewordene Emo­tionen, und verweigert sich doch aufgrund seiner Aktions- und Überraschungsfülle jeder Verweigerungsaskese. Und sosehr in diesem Klarinettenkonzert Schockhaftes rumort - in Reaktion auf die Beschleunigungstechniken und Geschwindigkeitsschichtungen der Mo­derne und deren Wahrnehmungsveränderung -, sosehr löst sich dieses Schockhafte fast schon spielerisch in den präzis konstruierten Eruptionen eines Orchestersatzes auf, dessen Rupturen subkutan gebunden werden. Subkutan deshalb, weil die Motive und Motivsplitter der Faktur alles andere als erkennungsdienstlich behandelt werden.

Im Unterschied zur Mono-Akustik des Violinkonzerts von Phil Glass und seiner Ich-Rhetorik komponiert Carter vom Ensemblesatz des Klarinettenkonzerts her eine ebenso kalkulierte wie absichtslose Musik der Poly-Akustik. Setzt die Mono-Akustik des Neo-Expressionismus auf das Ohr als Diskursmitte, um von hier aus den Verlauf auf den Hörer als Erlebnisfokus hin zu spiegeln, dann rechnet die Poly-Akustik mit der Wand­lungsfähigkeit eines Ohrs, das umgehend verschiedene Positionen einnehmen kann und muss und zusammen mit der audiozentrischen Position die Hierarchie zwischen Mittel­punkt und Peripherie aufhebt. Poly-Akustik begibt sich aus der Mitte, die überall und nir­gends ist, um anders und anderes zu hören. Dennoch zähmt, ja unterminiert in Carters Kla­rinettenkonzert die Konsistenz der Solostimme mit ihren seltsam an- und abwesenden Ich-Spuren die polyakustische Intention. Die plurale, rhapsodische Offenheit des Ensembles wirkt durch die monotone Solidität der Solostimme wie versiegelt. Auch wenn die Musik kein solistisch-dialogisches Zelebrieren mehr in Szene setzt, bleibt die Klarinettenstimme gleichwohl so autark, dass sie die Diskursformation von Solo und Tutti trotz der Umfor­mung zum Paralog konserviert. Mehr noch: aufgrund dieser Dualität wird das paralogische Modell lediglich zu einer Variante des dialogischen. Es ist diese duale Konstante, die dafür sensibilisiert, wie viel historisches Gespür Neue Musik in ihrer Auseinandersetzung mit der Tradition wohl braucht. Kann sich das musikalische Denken der Gegenwart wirklich noch und trotz aller Metamorphosen in einer Gattung finden, deren Reflexions- und Aus­druckscharaktere auf das 18. und 19. Jahrhundert verweisen? Seiner Anlage nach ist Carters Clarinet Concerto jedenfalls weit entfernt von der Dekonstruktion der Gattung „Solokonzert“ in Lachenmanns Ausklang.

Ihrer Genese und ihrer dualen Essenz nach bleiben Instrumentalkonzerte mit ihrem variablen Solo-Orchester-Dialog zunächst dem Vernunftideal der Aufklärung verpflichtet: dem Mündigwerden des bürgerlichen Subjekts im Diskurs von Streit, Diskussion und Kri­tik. Später antworten sie der Souveränität eines Subjekts, das sich um 1800 aus Gründen seiner Autonomie noch eine selbstbewusste Auseinandersetzung mit der „Prosa der Welt“ zuschreiben konnte. Antagonistisch verschärft und der dialektischen Philosophie des Deut­schen Idealismus nahe, orientiert am Politikum der „Entzweiung“ und am Drama von Frei­heit und Notwendigkeit, konnten Beethovens Solokonzerte noch von einem Einheitsbegriff der Person ausgehen, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Dieser Einheitsbegriff ermöglichte es, die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloin­strument und Orchester auszutragen und auszutarieren.

Wo aber wären gegenwärtig noch Relationen, auf die das duale Prinzip von Solo und Orchester adäquat reagieren und ein wie immer konsistentes solistisches Subjekt in­mitten klarer Fronten, Konflikte und Postulate rechtfertigen könnte? Untergegangen mit dem Pathos und der Personalisierbarkeit von Widersprüchen verlängern die dualen Muster eine Ideensphäre, die in ihrer Überschaubarkeit hinter dem zurückbleibt, was ich vorhin mit der Thematik des „Dividuums“ und der multiplen Psychen angesprochen habe. In Carters Konzert wird deshalb gerade die duale Infrastruktur zu einer Blindstelle. Mehr noch: sie wird zu einem soziologischen Fingerzeig wider Willen.

Das aber bedeutet, dass die Parallelsphären des Klarinettenkonzerts, die von Einzel-Stimme und Orchester-Kollektiv, sich nicht nur soziologisch einfärben lassen, sondern gleichsam dazu auffordern. Und dies nicht nur von Carters Schriften her, die die gesell­schaftliche Realität immer wieder auf deren verstellte Möglichkeiten hin überdenken. Dass im Klarinettenkonzert der Instrumentalkörper des Ensemble-Satzes, sein Corps de son, wie eine Choreografie des Corps social wirkt, der in den Vibrationen und Stößen des Orches­ters zum Beben gebracht wird; dass die Fluktuationen der musikalischen Struktur in Rich­tung eines Gesamttableaus differenzierter Einzelstimmen auf eine modellhaft demokrati­sche Ausdifferenzierung der Gesellschaft anspielen; dass schließlich der Tonfall der Solo­stimme an die normierten Sprachfertigkeiten der Kommunikationsgesellschaft erinnert: All dies muss zwar nicht mitgehört werden; dass es jedoch überhaupt mitgehört werden kann - anders als etwa im Spätwerk Feldmans - liegt an Carters dualem Modell, das immer noch „abbildet“. Zu wenig ikonoklastisch, zu wenig „abstrakt“, wird es in seiner Klarheit reduk­tiv - zu einer Art sozialem Lehrstück. Abbildend, bildgebend aber wird die Musik, weil sie eine substanzlos gewordene Traditionsbürde mit sich führt, die nicht von einem seismo­graphisches Bewusstsein für die Verwerfungen und das komplexe, ins Undarstellbare driftende Szenarium der Gegenwart umgeformt oder aufgelöst wird. Selbst die Argumen­tation, das Verhältnis von Ensemble und Solostimme diagnostiziere doch gerade die Para­doxie eines dynamisch erstarrten fait social, hat für die ästhetische Qualität nicht die ge­ringste Bedeutung. Dass Musik nicht konsequent, nicht radikal genug ist, bleibt ihr nicht äußerlich. Ist solcher Defizite wegen auch Carters Klarinettenkonzert eher ein postmoder­nes Dokument?

Sicher, auch Carters Musik ist eine der Zwischenbereiche. Weder hat sie etwas mit Stockhausens „Momentform“ noch etwas mit narrativen Modellen zu tun. Eine Musik des „Between“ hört sie weder subjektemphatisch noch subjektzynisch, weder nostalgisch noch katastrophisch, weder utopistisch noch defätistisch auf das, was ist. Eine Musik der Imma­nenz, transzendenzlos, beinahe sachlich. Und doch: Mag Carters Klarinettenkonzert auch ein ästhetisches Exerzitium gegen den Hörsturz einer akustisch überreizten Welt bieten, mit dem „Between“ Morton Feldmans und seiner „disorientation of memory“ hat es wenig zu tun. Was Carters Stück postmodern einfärbt, ist die Kreuzung, die die Klitterung zweier Idiome - mono-akustisch und neoklassizistisch das der Solostimme, poly-akustisch und mit dem Sprachrepertoire Neuer Musik komponiert das des Ensembles. Diese Zwitterhaftigkeit lässt Carters Stück modern und alt zugleich erscheinen, fast schon konventionell. Während Feldman im Kraftfeld der Moderne die Probe auf Kants Begriff der „ästhetischen Idee“ leistet, „die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“(21), entzieht Carters Klarinettenkonzert die Idee dem „Between“, der Offen­heit des Schwebens, und verspannt sie mit postmoderner Deutlichkeit in ein duales Raster.

Doch lassen Sie uns nach diesem Versuch mit Worten nochmals die Musik selbst hören:

 

Bspl. 4: Wiederholung von Bspl. 3

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, verständlicherweise werden Sie jetzt einwenden, ich hätte die Metaphysikkritik zum Leitmotiv einer Musik der Postmoderne als der einer strikten Moderne gemacht, um gleichzeitig die Vielfalt jener Lizenzen zu vernachlässigen, die doch in den meisten Köpfen immer noch und gerade das Phänomen Postmoderne aus­machen. Eben weil die Überwindung der katastrophisch und heroisch fundierten Moderne eine Explosion unterschiedlichster ästhetischer Möglichkeiten und Formationen ausgelöst habe.

Wenden wir uns deshalb in einem zweiten, kürzeren Teil meines Vortrags dieser Vielheit zu, wenn auch stets kontrapunktiert vom Kanon einer Neuen Musik, die ich radi­kal genannt habe.

Vielheit ohne Einheit, ohne die ethisch bindende Richtkraft der Metaphysik: wäre das eine mögliche Konturierung des postmodernen Pluralismus? Ohne die Richtkraft der Metaphysik, aber mit der Richtkraft des Marktes? Von der Kunst her gesprochen ist der Slogan „Alles ist erlaubt, alles ist möglich“ eine Parole im Namen der Konsumenten, eine im Namen der Übermacht der Rezeption über die Produktion und die autonomieästheti­schen Postulate von Werk und Autor. Und damit eine genaue Umkehrung des vorhin er­wähnten Vorrangs der Produktion vor der Rezeption im Fall seriellen Komponierens.

Im postmodernen Stadium der Moderne verlangt die marktorientierte Zivilgesell­schaft, die unentwegt realökonomische Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse erzeugt, zumindest auf ästhetischem Gebiet Egalität. Das kann nur gelingen, wenn mit der Konsum- und Ranggleichheit von Kunstkunden und Kunstwerken das Gespür für den Wahrheitsge­halt der Kunst der Konkursmasse des Relativen zufällt. Den Dispens vom Anspruch der hohen Qualität erteilen die Usancen und persönlichen Vorlieben der Rezeption, denen zu­folge in einer arbeitsteiligen Gesellschaft dem arbeitsteiligen Individuum auch ein arbeits­teiliges Hören in vielen gleichwertigen Genres möglich sein soll. Der Markt spielt dabei die Rolle des Gleichmachers schlechthin, jenseits von gut und böse. Er stellt alles, solange es Rendite bringt, ins Belieben. Warum nicht auch die Renditen des Gefühls? Warum sollte das Musikhören multipler Individuen nicht eine mit Vitaminen, Kohlehydraten und Mineralstoffen ausgewogene Ernährung psychosensorisch-mental ergänzen und vom audi­tiven Fitnessprogramm einer rigorosen Entsubjektivierung bis zur Wellnesstour diverser Ego-Kuren reichen? Warum sollte die Psyche, bis ins Private hinein auf Affektcontainer und Rollenspiele verwiesen, nicht auch musikalisch im wahrsten Sinn des Wortes auf ihre Bedürfnisse hören? Die Kompensationsressource Kunst - postmodern eine Wahlfreiheit von Optionen.

Was wäre daran problematisch? Zumal doch, so könnte eingewendet werden, der Singularitätsanspruch Neuer Musik, ihrer Metaphysikkritik zum Trotz, selbst metaphysisch sei. Im Übrigen vertrage sich die Ausschließlichkeit des großen Kunstwerks doch wesent­lich besser mit der elitären Attitüde der klassischen Moderne als mit einer multikulturalen Kommunikationsgesellschaft und deren basisdemokratisch verstandenen Individualbedürf­nissen. Dass in diesem basisdemokratisch - oder sollten wir besser sagen: formaldemokra­tisch - verstandenen Freiheitskontinuum die Sucht nach Spiegeln zum Hauptinventar von Belohnungssystemen gehört, ist eine Reaktion auf Überforderung. Auf die Überforderung der vereinzelten Individualagenten im Zwangskontinuum des Funktionierens und der Funktionalität. Unter dem Druck eines Lebens, das das Arbeitsethos bibeltreuer, universa­ler, sinnstiftender und existenzieller verinnerlicht hat als je eine Gesellschaft zuvor, mögen angstexorzistische Klang-Mutterhöhlen und Sound-Glocken einiges lindern. Was könnte einem Ego, das - verspannt zwischen Produzieren und Konsumieren - seiner Lebenskraft nach entmächtigt und seiner Kaufkraft nach überreizt wird, das Ethos von Schaffenspro­zess und Werk bedeuten? Ein Ethos übrigens, das schlagartig deutlich wird, wenn Sie sich einen Komponisten wie Mathias Spahlinger vorstellen, um besonders drastisch zu werden, der je nach Gusto und Gewinn, ebenso arbeitsteilig wie marktkonform, die verschiedensten Sparten bedienen würde. Hier haben Sie den Unterschied zwischen Produktion und Rezep­tion und mit ihm die postmoderne Dominanz der Rezeption über die Produktion als einer - wie ich meine - Absentierung des Ethischen vom Ästhetischen.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Damen und Herren: Ich will hier kei­neswegs zu einem Ankläger hinter der Maske des Einfühlsamen werden. Und vielleicht sollten wir uns zwischendurch daran erinnern, dass wir zwar immerhin von Musik, aber immerhin doch auch nur von Musik sprechen. Niemand, der Feldman oder Lachenmann hört, ist dadurch bereits ein besserer Mensch.

Was also spräche gegen den Pool postmoderner Lizenzen? Oder anders gefragt: Muss Neue Musik so unerbittlich sein, nur sich selbst verpflichtet, unbekümmert um jed­wedes Publikum? Oder darf sie, ja muss sie - eine gemilderte Thora – Zugeständnisse ma­chen? Etwa so, wie Friedrich Schiller dies dem Religionsstifter Moses zugestand? „Den wahren Gott kann er den Hebräern nicht verkündigen, weil sie unfähig sind, ihn zu fassen; einen fabelhaften will er nicht verkündigen, weil er diese widrige Rolle verachtet. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als ihnen seinen wahren Gott auf eine fabelhafte Art zu verkündigen.“(22) Wäre dies nicht eine geniale Einladung zum niveauvollen Laissez faire postmoderner Vielfalt?

„Den wahren Gott“! Seine säkulare Epiphanie offenbart sich im Formenkreis einer Neuen Musik jenseits falscher Zugeständnisse immer noch als jene ikonoklastische Aura, die, um mich zu wiederholen, sämtliche bildgebenden Verfahren von Innerlichkeit und Projektion blind werden lässt und die Spiegel narzisstischer Selbstfindung zum Bersten bringt. Dagegen regt sich Widerstand. Gehören zur Essenz von Musik nicht seit je Trost und Tröstung? Und begründet nicht auch dieses Verlangen ein postmodern arbeitsteiliges Hören?

Aber lässt denn die globalisierte Kunst- und Kulturindustrie überhaupt eine Diffe­renz zu dem aufkommen, was anders wäre als sie selbst? Pausenlos verkündet sie, was man zu lieben hat, pausenlos suggeriert sie, „gut ist, was mir gut tut“. Die Freigabe der Welt zum konsumtiven Akt opponiert den Autoritätsgeboten nur vordergründig. In Wahrheit hat sie den Imperativ zu Trott und Trend längst verinnerlicht. Insofern wäre der omnipräsenten Konsum- und Zerstreuungsmusik nach wohl von einem musikalischen Analphabetismus der Weltgesellschaft insgesamt zu sprechen. Doch lassen wir das.

Dazuzugehören, sich nicht einsam fühlen, sich belohnen - was wäre verständlicher? Wer oder was sollte in einer durchökonomisierten Welt des Rechnens und Messens, in ei­ner Welt der gnadenlosen Immanenz und der Frist des Nur-einmal-Lebens noch verlangen oder erzwingen können, unnötig Schmerz zu ertragen? Oder Sinne und Verstand auf Ver­luste und Versagungen hin zu schärfen, die weder als Verlust noch als Versagung erfahren werden? Um sich der Ortlosigkeit in der Dissonanz- und Geräuschhölle Helmut Lachen­manns auszusetzen? Auch wenn der nicht müde wird, auf eine schon verdächtige Weise immer wieder von der „Heiterkeit“ seiner Musik zu sprechen? Was vermöchte Adornos „Glück der Erkenntnis“ inmitten der Angst, nicht zu leben? Einer Angst, die ja gerade als sozialer Triebgrund das Entertainmentfieber und den Sensationsamok schürt und Unter­haltung zu einer Wunderwaffe der Zeitüberlistung aufrüstet? Ist es überlebensstrategisch nicht klug, inmitten der Weltkonformität des protestantischen Ethos die verstörende, wo­möglich existenzgefährdende Offenheit von Experimenten abzuwehren - und seien es sol­che der Musik? Erfahrungsverweigerung zahlt sich aus. „Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher“ - Brechts Anti-Verführungs-Appell: kulturindustriell zumindest wird er tagtäglich umgesetzt, wenn auch nicht im Sinn seines Erfinders. Neue Musik, die kompromisslos-radikale, weiß von all dem mehr als genug. Was sollte sie anderes tun, als angesichts einer solchen Realität stoisch mit den Schultern zu zucken, falls sie denn welche hat?

Hier moralisch zu argumentieren wäre moralistisch. Je mehr das grundlose Indivi­duum ohne den Traum der Transzendenz seine Zufälligkeit ahnt, umso mehr verlangt es nach den Zerstreuungsmustern des Vertrauten. Wie sollten in einer Mangel- und Belas­tungsökonomie, die bei Marx „Vorgeschichte“ heißt und alle als Geiseln nimmt, die Ohren auf universale Weise angstfrei werden, um komplexe Klänge, polyvalente Strukturen, irri­tierende Schönheiten des Fremden zuzulassen? Die Nobilitierungsrendite, die die tonale Musik den Einzelnen bietet, liefert im Weltasyl der Flexibilität zumindest ein Habitat der Gewohnheit, eine flüchtige Illusion des Wohnens. Warum sollte sich diese Verwöhnung der Entwöhnung durch eine Musik aussetzen, die einem Eissturm gleich in die Wärme pri­vater Wunschlandschaften einbricht?

Aber das alles ist ja zur Genüge bekannt. Und dass die Erschütterungsvehemenz Neuer Musik auch aus dem Widerstand gegen die massenmedial postmoderne Verwöh­nung zu begreifen ist, steht außer Frage. Als Musica negativa mahnt Neue Musik den Exo­dus aus einer harmoniesüchtigen Unmündigkeit an, die ihr als eine Verstocktheit gegen das Offene, Freie gilt. Diese Absage an den akustischen Spiegel des Sich-Wiederfindens gilt in postmodernen Milieus als sadistisches Unwesen. Kann es nicht sein, so wird gefragt - und ich bitte Sie, meine Damen und Herren, während der nächsten Sätze das Beispiel aus Phil Glass Violinkonzert in Ihrem inneren Ohr wie einen Kontrapunkt zum Gesagten mitzuhö­ren -, kann es nicht sein, so wird gefragt, dass kompromisslos Neue Musik immer noch und trotz ihrer Varianten mit einer verinnerlichten Schock-Blockade das Trauma der Katastro­phengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts unzeitgemäß konserviert? Kann es nicht sein, dass diese Musik unmenschlich ist nicht um des Menschlichen willen, sondern un­menschlich um des Unmenschlichen willen? Eine Musik möglicherweise, die den subtilen, aber sukzessiven Umbau des hinfälligen Homo sapiens zum kalkulierbaren, gefühlsresis­tenten Androiden begleitet. Mit dieser Registrierung spielt übrigens auch Paul Virilio seine neuerdings etwas platt aufgelegte These von der Grausamkeit zeitgenössischer Kunst durch: einer „Kunst des Schreckens“, deren terrormimetisches Potenzial selbst zum Terror werde.(23)

Und doch, meine Damen und Herren: Natürlich wissen aufgeklärte und mit einem gewissen Repertoire an Angstfreiheit begabte Zeitgenossen, dass das von den postmoder­nen Lizenzen her kritisierte, vermeintlich Inhumane Neuer Musik eines der verzerrten Per­spektive ist. Dass somit das, was an Neuer Musik subjektferne Kälte sein soll, keine Men­schenverachtung der Musik selbst ist, sondern ein Erfahrungsdefizit des rezipierenden Be­wusstseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte ausschließlich um seiner Selbstbestätigung willen da zu sein. Sobald hingegen Musik - der Postmoderne des Mark­tes zufolge - zum Mittel der Einfühlung degradiert wird, kann sie immer nur innerhalb des Echoraums von Erleben und Erlebnis antworten, nicht aber selbst, das heißt autonom spre­chen. Das genießende, kundenhofierte Ich verkennt, dass es das, was es ständig für sich einfordert - nämlich es selbst zu sein - dem Kunstwerk abschlägt. Enteignet aber die Ego­manie des Individuellen das, was anders ist als sie selbst, muss sie selbst enteignet werden. Mit einem zwischen Heidegger und Adorno changierenden Tonfall könnte man auch so formulieren: Neue Musik tilgt in sich das Menschliche als das ausnahmslos Subjektzent­rierte, um sich dem herrschaftsblind und daher gesichtslos gewordenen Subjekt ohne ver­meintlich menschliches Angesicht zu zeigen - und dadurch eben mit Antlitz. Dass das menschliche Gesicht in der Malerei der Moderne dekomponiert wird, verschwindet oder sich als Wunde zeigt, wäre eine Parallele dazu. Erst indem Neue Musik die Legierung von Formgedächtnis, Subjektspur und Ausdrucksgestus hinter sich lässt, bleibt sie inmitten postmoderner Lizenzen eine Musik der konsequenten Moderne.

Dass die der Moderne verantwortliche Neue Musik unsinnlich sei, ist ein Wider­spruch in sich. Abgesehen davon, dass sie die Vielfalt der Schwere und des Leichten kennt. Es gibt in ihr heiße und kalte Zonen, das Athletische und das Schwebende; das Immunisie­rende und das Öffnende und dazwischen Nuancen die Fülle. Neue Musik ist keine mehr, die pausenlos in Waffen steht. Ihr ununterbrochener Selbstversuch mit sich selbst lässt auch innerhalb ihres Spektrums etwas vom postmodernen Farbenbogen aufleuchten. Darin liegt ihr Tribut an die Verabschiedung der Geschichte vom Absoluten - mit der Avantgarde als einer Sparte unter vielen.

Wie gesagt: Die Physiognomie Neuer Musik ist längst nicht mehr ausschließlich die von Tremendum und Schrecken. Seit Adorno hat der Monotheismus von der unver­söhnlichen und einzig wahren Musik des Entsetzens an Überzeugungskraft verloren. Mitt­lerweile - und darauf reagiert die Rede von der Postmoderne zu Recht - mittlerweile nuan­cieren die Neue Musik längst polytheistische Züge. Allerdings halten auch hier ihre kom­promisslosen Varianten an der Tradition des Bilderverbots und somit am ikonoklastischen Gebot fest. An einem Gebot des Unverfügbaren, Nutzlosen, gleichsam Heiligen, unzu­gänglich jeder Rechtfertigung ob seiner Tauglichkeit für das Goldene Kalb des Marktes. Früher war diese Nutzlosigkeit einmal ein Charakteristikum des Schönen. Heute ist sie eher das Bundeszeichen des Widerstands im neuen Babylon der Zerstreuung und inmitten einer Diaspora der Selbstvergessenen. Wobei ich mich hüten werde, um die alttestamenta­rischen Assoziationen zu komplettieren, von einem Bundeszeichen für Auserwählte zu sprechen.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, sicher haben Sie schon lange die Hoffnung auf­gegeben, von mir eine Antwort, geschweige denn eine Generalantwort zum Fragenkom­plex unseres Themas zu bekommen. Eine solche Antwort machte sich unbestritten der Un­redlichkeit und der Hochstapelei verdächtig. Lassen Sie mich daher, damit sich der Kreis zum Beginn des Vortrags schließen möge, erneut vom Reservat des Subjektiven aus zum Ende kommen.

Ist die kulturelle Sphäre heute eine Marginalie des ökonomischen Dominiums, dann ist die marktresistente Neue Musik ein Skandalon, das sich nicht zurechthören lässt. Für den Markt der Postmoderne ist sie ein Sektor unter anderen, ein Ghetto eher, eine Alibi- und Subventionslast. Für einige wenige aber wird sie zum Ohr der Welt. Wahr­scheinlich gehöre ich zu einer aussterbenden Spezies von Zeitgenossen, die von den letzten Distanzrefugien und deren Rand- und Rangqualitäten nicht ablassen wollen. Auch nicht vom Ethos einer Musik, die gegen die Konsumpflicht an einem Erkenntnischarakter fest­hält, der mehr ist als pure Selbstaffirmation: nämlich etwas Indisponibles, Anderes als das verordnet Gegebene. Auch wenn ich ahne, dass die Welt erst bis in den letzten Winkel durchkapitalisiert werden muss, bis ihre Zwangssysteme vielleicht auf die großen Weiten des Aufatmens und des Freien hin aufbrechen können.

Auch dies ist eine Lesart der Globalisierung. Dass Globalisierung und Postmoderne viel miteinander zu tun haben, liegt auf der Hand. Beide verweisen auf den zeiteffizient be­schleunigten Markt als einer Expansion im Raum und auf die Raumhaftigkeit des Bestan­des, der Verfügbarkeit, des Sich-bedienen-Könnens. Bis hin zu den Auswüchsen eines postmodernen Historismus und einem Weltarchiv, ja einer Archivwelt der Zitate und Pla­giate und deren Mixturen. Dem Bestand, seiner Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ent­spricht in letzter Konsequenz der globalisierte Blick von oben, der vom All auf den Plane­ten Erde.(24) Kunst aber partizipiert an den Zeitpressionen des Marktes, indem sie das parasi­täre Vernutzen angesammelter Materialvorräte in den Rang des ehemals Schöpferischen erhebt. Innovationsrasanz und ein Kult des Neuen um jeden Preis sind Marktroutinen des organisierten Vergessens. Ethos als Marktresistenz hat demnach auch immer etwas mit Eingedenken zu tun. Und sei es als Einsicht in das verschwiegene Bündnis von Material und Geschichte: Rückbesinnung auf Vergangenes, verstanden als eine Erinnerung nach vorn. Nicht umsonst ist Mnemosyne die Mutter der Musen und der Künste, die nicht ver­gessen können.(25)

Träfe somit nicht doch - wie an Phil Glass Violinkonzert erörtert - für eine Reihe postmoderner Kompositionen der Status des Dokuments zu? Für solche Kompositionen, die das Verdunsten der metaphysischen Aura mit der Fetischisierung des Materials und dessen Ausstellungscharakter verschleiern - unter Zurücknahme der reflexiv-mimetischen Annäherung an die Stoffressorts? Eine Annäherung, die selbst Cage niemals aufgegeben hat. Ästhetisch entspricht diese materiale Akkumulationsrasanz lediglich der konsumhyste­rischen Verdampfung des Gebrauchswerts in einer profitüberhitzten Weltmaschine des Tauschwerts.

Im Zug einer digitalisierten Weltverfügbarkeit, die auch musikalisch maximale Ef­fekte mit minimalem Aufwand garantiert; im Zug einer Kultur des Sampling; im Zug auch einer zum Basar der Stile vernetzten Welt-Musik stellen sich alte Fragen neu: Was ist ein Autor? Was ist ein Werk? Was ist ein Interpret? Und schließlich: Wie viel Postmoderne verträgt die Postmoderne?

Das Gestöber des Aktuellen verdunkelt den Horizont des Potenziellen. Als Dauer­gravur des Kurzzeitgedächtnisses hat die Allgegenwart von Kalkül und Information die Zäsur der Stille nahezu vollständig eliminiert. Kein Wunder, dass ihre Leerstellen seit Cage für die Neue Musik so wichtig werden. Eben weil die Maxime des effizienzdressier­ten Bewusstseins lautet, sich pausenlos als Unternehmer seiner selbst zu schulen und den Rohstoff Welt zu verwerten, müsste ein Komponieren der Besinnung und des präzis ge­schärften Eigensinns der Sinne nicht nur auf das „Dass“ der Materialressourcen reagieren, sondern sich vor allem auf das „Wie“ der Arbeit mit ihnen konzentrieren. Je größer die Versuchung postmoderner Materialekstasen wird, die Ressourcen selbst mit Kunst zu ver­wechseln - Ressourcen, die doch ihren technischen Möglichkeiten und Zwängen nach zu­nächst unaufgeregt als Material zu begreifen wären -, umso mehr kommt es darauf an, wie klug und sensibel sich Komponistinnen und Komponisten in den Stoffmagazinen bewegen.

Dass die ästhetische Qualität trotz postmoderner Entlastungseuphorien immer noch von einer Musik bestimmt wird, die tief schneidet - mögen diese Schnitte wie bei Feldman noch so weich geführt scheinen -, verweist das kompositorische Metier auf die Fühlung­nahme mit der Problem-Agenda des Zeit- und Weltgeistes. Nichts anderes als diese Füh­lungnahme meint der Begriff des Ethos in meinem Vortrag. Unverzichtbar bleibt eine ge­wisse Alarmbereitschaft für die Belange des Jetzt und dafür, was aufgrund dieser Belange vom Bewusstsein des Materials als einer Matrix und eines Resonanzraums von Geschichte her noch möglich ist und was nicht. Darin gab auch Lyotards Postmoderne-Begriff in nichts nach. Wird demnach das Signum Postmoderne auch für Kompositorisches jenseits der Einsicht in obsolet gewordene Sinninstanzen reserviert; für ein Komponieren also, das das vermeintlich Anti- und Inhumane wieder auf menschliche Proportionen zurückbringen will, dann wäre in solchen Fällen zwar von postmoderner Musik zu reden, aber doch wohl von einer des abgesenkten Niveaus. Dass die plurale Version der Postmoderne die Ko­existenz des Vielen ohne hierarchische Abstufung zulässt, liegt weniger an einer Unschärfe der Terminologie als daran, dass das Einzelwerk zum Supplement des Ichs im Spiel gleichgültiger Idiome vergleichgültigt wird. Eine letzte Konsequenz postmoderner Belie­bigkeit. Sowenig es um eine Pauschalkritik des postmodernen Stilpluralismus zu tun ist, sowenig ein Diktat der einzig wahren Rezeption zu lancieren wäre, sowenig dürfte es an­gehen, dass postmodern flottierende Rezeptionsmuster die künstlerische Produktion bis ins Letzte reglementieren.

 

Müsste, dürfte, sollte! Sie merken, meine Damen und Herren, wie die Coda meiner Rede ethisch beschwingt wird. Also doch eine Jeremiade zugunsten der Thora der einzig wahren Musik? Und dies in einem Vortrag zum Thema Postmoderne! Mit dem untergründigen Kommentar womöglich, erst eine Neue Musik, die diesen Namen verdient, eröffne mit ih­rer Entsetzung von egomanen Selbstbeschränkungsmanövern und Selbstbeschränktheits­blockaden neue Horizonte des Freien und Offenen.

Ach, das Ethos, wie harmlos und ohnmächtig, wie ärgerlich es doch geworden ist! Fragen wir deshalb am Ende nochmals - ohne jedes Prophetenpathos und geradezu men­schenfreundlich - das Publikum, die Hörer, deretwegen, wie es heißt, die Musik doch da sein soll. Die aber zucken nun ihrerseits als postmoderne Konsumenten mit den Schultern und hören - das, was sie wollen.

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Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, für Ihre Geduld.

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 Anmerkungen

 

  1 Walter Benjamin, Einbahnstraße, in: Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. IV, 1, Frankfurt am Main 1972, S. 107f.

  2 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, Zweiter Teilband, S. 043.

  3 Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild, in: GS 10,1, S. 449f.

  4 Zur Spur des Todes in den Arbeiten von John Cage, vgl. Johannes Bauer, Cage und die Tradition, in Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), My­thos Cage, Hofheim 1999, sowie Johannes Bauer, «Ständig gleich gegenwärtig». Zeitstruktur und Zeiterfahrung in der Neuen Mu­sik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 50 (II 2002)

 5 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Monti­nari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 2, S. 141.

 6 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 402.

 7 Vgl. dazu Johannes Bauer, Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik, in: Positionen. Bei­träge zur Neuen Musik, Heft 64 (IX 2005).

 8 Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, S. 199.

 9 Für den Zusammenhang zwischen Moderne, Metaphysik- und Subjektkritik und gewissen Zeitdauern nach dem „Tod Gottes“ ist die Ab­wehr des Psychologischen besonders aufschlussreich. So findet Kafkas Satz „Zum letztenmal Psychologie!“ seine Varianten bei Artaud   „Wir [...] sollten mit der Psychologie Schluss machen“; bei Marinetti: „Man muss das ‚Ich’ in der Literatur zerstören, das heißt alle Psychologie“; bei Cage, dem es auf „Kompositionen“ ankommt, „deren Zusammenhang frei ist von individuellem Ge­schmack und Erinnerung (Psychologie)" und bei Heidegger, dem die Psychoanalyse als ein Abweg des „vorstellenden Denkens“, seiner Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit gilt. Und hatte nicht schon Stavrogin in den Dämonen Dostojewskis gegenüber den verhassten „Psychologen“, „die mir in die Seele dringen“, auf dem Recht der Selbstbestimmung bestanden und dar­auf, „dass es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt"? Darin verwandt den Aporien einer gottlosen Sprache bei Nietzsche? „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. - Und wir - wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“

10 Vgl. dazu Bauer, Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik.

11 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1980, S. 92ff.

12 Vgl. dazu Heidegger, Brief über den „Humanismus“, in: Heidegger, Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, S. 153.

13 Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 125.

14 Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 293. - Die Nachdrücklichkeit, mit der auf dem - vom Humanismus her - Inhumanen und Antihu­manen insistiert wird, kann sich seit Nietzsche auf eine Reihe prominenter Vertreter berufen, etwa auf Apollinaire, Dubuffet, Heidegger, Henry Miller, Lévi Strauss, Foucault oder Lyotard.

15 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, in: GS 16, S S. 635.

16 Morton Feldman, After Modernism, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 74.

17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Mar­kus Michel, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 15, S. 573.

18 Nach Feldmans programmatischem Aufsatz Between Categories, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 83ff.

19 Vgl. ausführlicher zu Feldman: Johannes Bauer, Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik, in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing 2007 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft. Hg. v. Adolf Nowak; Bd. 33).

20 Vgl. dazu Johannes Bauer, Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik.

21 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, Bd. 10, S. 249f.

22 Friedrich Schiller, Die Sendung Moses, Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1980, Bd. 4, S. 799.

23 Vgl. dazu Paul Virilio, Die Kunst des Schreckens, Berlin 2001.

24 Wie sehr der Blick von oben der Erfahrung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und einer Erfahrung des Bestandes korreliert, zeigt die „Sechste Fahrt“ aus Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, einer Gründungsurkunde globaler Weltsicht. „Vierte­halbtausend Fuß tief rannte die weite Erde [...] unter mir dahin, und ihr breiter Teller lief mir entgegen, worauf sich Berge und Hol­zungen und Klöster, Marktschiffe und Türme und künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jägerhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen [...] Auf der Fläche, die auf allen Seiten ins Unend­liche hinausfloss, spielten alle verschiedenen Theater des Lebens mit aufgezogenen Vorhängen zugleich - einer wird hier unter mir Landes verwiesen - drüben desertiert einer, und Glocken läuten herauf zum fürstlichen Empfang desselben - hier in den brennend-farbigen Wiesen wird gemähet - dort werden die Feuersprützen probiert - englische Reuter ziehen mit goldnen Fahnen und Schabara­cken aus - Gräber in neun Dorfschaften werden gehauen - Weiber knien am Wege vor Kapellen - ein Wagen mit weimarschen Ko­mödianten kommt - viele Kammerwagen von Bräuten mit besoffnen Brautführern - Paradeplätze mit Parolen und Musiken - hinter dem Gebüsche ersäuft sich einer in einem tiefen Perlenbach [...].“ (Jean Pauls Werke in zwölf Bänden, hg. v. Norbert Miller, Mün­chen/Wien 1975, Bd. 6, S. 559f.)

25 Vgl. dazu Johannes Bauer, Und Troja brennt noch immer. Arbeit am Mythos in Liza Lims ›The Oresteia‹, in: Dissonanz Nr. 97 (III 2007).

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