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Charles Thévenin - La Fête de la Fédération, ©Musée Carnavalet, Paris
Alla marcia
Zur Rhetorik eines musikalischen Topos
Sender Freies Berlin 1983

​Beispiel 1: Beethoven, 9. Symphonie, Finale, T. 331 bis T. 374 (ab T. 367 abblenden)

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Im Schlußsatz der Neunten Symphonie gestaltet Beethoven den Typus des Marsches zum letztenmal mit dem Anspruch republika­nischer Öffentlichkeit. Er setzt einen Aufbruch in Szene, der das triumphale Erreichen eines Ziels zu gewährleisten ver­spricht. Der Ansporn des Tenors, "Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen", der in ein Fugato aneinan­der sich abarbeitender Stimmen führt, läßt dem programmati­schen Wortlaut von Freude und Sieg gemäß einen strahlenden Durchbruch erwarten.

 

Beispiel 2: Beethoven, 9. Symphonie, Finale, T. 359 (ab dem dritten Achtel zügig aufblenden) bis T. 488 (ab 

                                                                   T. 482 abblenden)

 

Die kurze Unterbrechung soll Gelegenheit geben, die Auf­merksamkeit auf das Ende dieser polyphonen Dramatik zu len­ken. Fast unmerklich treiben die rivalisierenden Verläufe in ein Stadium der Reduktion. Das heißt: die dem Fugato zugrun­deliegende Verdichtung des zuvor marschmäßig rhythmisierten Themas der Freude wird bis zur Eintaktigkeit abgeschliffen. Im nachhinein trübt sich so der Enthusiasmus der vorwärts­drängenden Bewegung, gibt sich die Losung des "Laufet, Brü­der!" als eine Parole des Kampfes zu erkennen. Sie bleibt einer Gewalt der unaufhaltsamen Zersetzung des Themas ver­bunden, die ihrer Konsequenz nach die Grundlagen der tonalen Syntax gefährdete.

 

Beispiel 3: Beethoven, 9. Symphonie, Finale, T. 485 (aufblenden) bis T. 525, erstes Viertel (ab T. 518 
                                                                   abblenden)

 

Schließlich wird das vor dem endgültigen Verschleiß bewahr­te Relikt des Freudenthemas pianissimo in die Ferne, nach h-Moll, entrückt. Es wird, während die Musik sich staut, für einen Augenblick seiner Verbürgtheit entzogen. Die Lähmung löst sich, indem das Pianissimo ruckartig zum Fortissimo ge­weitet wird, und ein dezidierter Wechsel nach D-Dur in den glorios reprisenhaften Einsatz des Hauptthemas, das "Freude, schöner Götterfunken", im Tutti von Chor und mün­det.

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Beispiel 4: Beethoven, 9. Symphonie, Finale, T. 520 (aufblenden) bis T. 550, erstes Viertel (ab T. 546 

                                                                   abblenden)

 

Daß Beethoven die Musik auf diese Grenze zulaufen läßt, um im entscheidenden Moment den Umschlag zu erzwingen, verweist auf ein Gestaltungsmittel des heroischen Stils.

          Bereits die "Türkische Musik" mit ihrem charakteristischen Rhythmusinstrumentarium von Großer Trommel, Becken und Trian­gel, das das "Alla marcia" zum Einsatz bringt, steht hier nicht mehr für das orientalische Kolorit etwa der sogenannten Türkenopern, wie im Fall der Mozartschen Entführung aus dem Serail. In der Verbindung mit Holz- und Blechbläsern erin­nert die Marschintonation bei Beethoven eher zitathaft an die französische Revolutionsmusik: an die Freiluftmusik der über die Weite des Marsfelds gruppierten Tableaus der nationalen Feste. Beethoven beschwört noch einmal den Geist der aufklärerisch republikanischen Ideale. Und obwohl, ja gerade weil er das "Alla marcia"-Fugato auf ein offenes Ende hin anlegt, soll die Passage inmitten ihres Umfelds emanzipatorischen Gehalt gewinnen.

          Um dies zu verdeutlichen, ist es notwendig, die dem "Alla marcia" unmittelbar vorausgehende Variation einzubeziehen. Sie schließt mit den Worten: "Und der Cherub steht vor Gott". Danach hebt, durch eine Generalpause getrennt, mit einem tie­fen b der Fagotte und des Kontrafagotts die Partie des Mar­sches an. Ihr Beginn kontrastiert dem Glanz des göttlichen Namens aufs krasseste.

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Beispiel 5: Beethoven, 9. Symphonie, Finale, T. 321 bis T. 340 (ab T. 337 zügig abblenden)

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Dennoch ergeben sich über die Generalpause hinweg zwischen der von Hoheitssymbolik und sakraler Aura bestimmten oberen Region und der zum geschichtlichen Naturgrund säkularisierten unteren vielfältige Bezüge. Sie konzentrieren sich im Aufzug des "Alla marcia", vermittelt über die Zäsur der Generalpause. Diese Zäsur markiert den Umschlag zur Intention, der weltli­chen Geschichte die teleologische Kraft göttlicher Vernunft, des summum bonum, als Endzweck zuzueignen. Geschichte aber dringt dem Kontext der Stelle nach in die Rastlosigkeit des Fugatos ein. In dessen Organisation gegeneinander geführter und einander verfolgender Stimmen als einer kürzelhaften Chiffre von Konkurrenz nach dem Muster des liberalistischen Wirtschaftsmodells Adam Smithscher Prägung.

          In diesem Sinn erhellen zentrale Begriffe aus Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht die Funktion des "Alla marcia". Zu nennen sind die Motive der treibenden Kraft des Antagonismus und der zur regulativen Idee erklärten Instanz "Gott" als des Schlußsteins einer Kon­struktion des Sittlichen. Der "Antagonism ... in der Gesellschaft", führt Kant aus, die "ungesellige Geselligkeit der Menschen", mit der "Neigung, sich zu vergesellschaften" und zugleich "sich zu vereinzeln", stellt das "Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Ent­wicklung aller ihrer Anlagen" in den menschlichen Vermögen "zu Stande zu bringen". Daß dieser Widerspruch "doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung" werde, bleibt Fluchtpunkt dieser Konstruktion; dem entschiedenen Übergang zum Themenkreis von Sympathie und Elysium nach der rückläufi­gen Dynamik des Fugatos bei Beethoven vergleichbar. Kant interpretiert den Antagonismus der Gesellschaft zum Motor des kulturellen Fortschritts, mit dem Ziel ihrer Ver­wandlung "in ein moralisches Ganzes". Die Idee dieser Zweck­gerichtetheit eben läßt, so Kant, die "Anordnung eines weisen Schöpfers" vermuten, jene postulierte göttliche Instanz, die Beethovens Komposition vor Beginn des "Alla marcia" verklärt.

          Bevor Sie nun den besprochenen Komplex im Zusammenhang hö­ren werden, seien die entscheidenden musikalischen Ereignisse nochmals stichwortartig erinnert: Apotheose des göttlichen Namens - Generalpause - "Alla marcia"-Aufzug - Appell des Te­nors - Fugato mit Themenschrumpfung - reprisenhafter Chorein­satz.

 

Beispiel 6: Beethoven, 9. Symphonie, Finale, T. 313 (zügig aufblenden) bis T. 594

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Beethovens eminent politische Konzeption der Neunten Sym­phonie bleibt dem Gattungssubjekt verpflichtet, gemäß einer Emanzipation der in jeder Person gründenden Idee der Mensch­heit. Der von verordneter Unmündigkeit, Zwang und Verhärtung diktierten Wirklichkeit der Ära Metternich die Koordinaten von Vernunft und Freiheit einzuziehen: dazu soll das sympho­nische Unternehmen bewegen. Vom Ethos der Pflicht aus kompo­niert, selbst Appell an die Pflicht.

          Sympathetische Einheit und Kraft der Überwindung bestimmen auch die trauermarschartige Partie, mit der bereits der tragi­sche Verlauf des ersten Satzes der Neunten Symphonie wie folgt schließt:

 

Beispiel 7: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz, T. 513 bis Ende

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Der kollektive Duktus des Beginns dieses Abschnitts gründet in der Wirkung der Gemeinsamkeit gemessenen Schreitens, einem typischen Merkmal des Trauermarsches und ihm verwandter For­men. Als eine solche hat, neben gravitätischen Schreittänzen wie dem der Pavane, die Französische Ouvertüre zu gelten. Ge­nauer: ihr langsamer Eröffnungs-, später auch Schlußteil, de­ren feierliches Schrittmaß auf dem marschmäßig punktierten Rhythmus beruht. Diese Tradition greift Beethoven auf, ver­mittelt wohl über sein in den späten Jahren verstärktes Inter­esse am Werk Georg Friedrich Händels. Beethovens Formulierung von Trauer auf der Basis des Heroischen kam diese barocke Diktion und insbesondere deren spätbarocke Gestaltung bei Händel entgegen. Wie dessen Totenmärsche aus den Oratorien Saul und Samson im Dur der stolzen Trauer notiert sind, gewinnt auch Beethovens Pathos des Schmerzes einen Ausdruck, dessen Tragik sich zur produktiven Intensität der Behauptung wandelt.

          Es ist dies ein Verfahren, das an die folgenden Gedanken Schillers zum Pathetisch-Erhabenen der tragischen Kunst erin­nert: "Zum Pathetisch-Erhabenen werden ... zwei Hauptbedingun­gen erfordert. Erstlich eine lebhafte Vorstellung des Lei­dens, um den mitleidenden Affekt in der gehörigen Stärke zu erregen. Zweitens eine Vorstellung des Widerstandes gegen das Leiden, um die innre Gemütsfreiheit", die "moralische Selb­ständigkeit im Leiden", "ins Bewußtsein zu rufen". Soweit Schiller. "Selbständigkeit", die Spur von Autonomie manife­stiert sich im Beispiel Beethovens nicht zuletzt darin, daß der konduktartige Passus über ein Fanfarenfeld zur Wiederge­winnung der ersten Takte des hauptthematischen Gedankens als des tragisch-heroischen Sigels dieses Satzes führt.

          Hören Sie zunächst Händels 1741 komponierten Trauermarsch aus Samson, daran anschließend nochmals Beethovens 'alla marcia funebre':

 

   Beispiele 8 und 9: Händel, Samson, Dead March (ganz)

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                                 Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz, T. 513 bis Ende

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"Marche au supplice", 'Marsch zum Richtplatz', überschreibt Hector Berlioz den vierten Satz seiner drei Jahre nach Beetho­vens Tod entstandenen Symphonie fantastique. Den Erläuterungen des Komponisten nach ein Szenarium der vom Künstler-Prot­agonisten des Werks im Opiumrausch phantasierten eigenen Hin­richtung nach Tötung seiner Geliebten. Von keiner Einheit von Finalität und Sittlichkeit getragen zäsiert den Marsch dieses instrumentalen Dramas, das das humane Diktum des "Alle Menschen werden Brüder" nicht mehr voraussetzen kann, kolpor­tagehaft eine Gestalt der "idee fixe". Sie durchzieht das Werk als thematisches Symptom, als Klangsymbol der Geliebten. Wenn sich das Ende des Satzes szenisch schürzt, klingt es "dolce assai e appassionato" in der Klarinette auf, bevor der Schlag der Exekution aufblitzt, der den Gedanken durchtrennt.

          Wird hier der Schock einkomponiert, so macht sich in den tu­multuarischen Stößen der Blechbläser und des Schlagwerks nicht weniger als im rohen Lärm nach der illustrativen Sequenz der Enthauptung eine Erfahrung hörbar, die früh die Kluft zwischen der Einsamkeit des Künstler-Helden und dem Profanum der Menge bezeugt. Ihr verblaßten in der Arena der Rivalität die Forde­rungen der Französischen Revolution, die noch Beethovens Wunschproduktion in Gang hielten.

          Berlioz' Musik neigt dem jähen Wechsel und einer Doppelbö­digkeit der Empfindungen zu. In der "Marche au supplice" äußert sich das in der Zwiespältigkeit des Satzgefüges: in der Konträrwirkung der Instrumente, so der gestopften und of­fenen Hörner, in motivischen Umkehrungen, den Dur-MolI-Schat­tierungen oder im Grundieren triumphaler Partien durch die Barbarismen geräuschhafter Pedaltöne der Posaunen. Der Kompo­nist spricht selbst vom 'bald Düsteren und Wilden, bald Prächtigen und Feierlichen' dieser Musik. Es handelt sich um einen Marsch, der trägt und zugleich heteronome Gewalt zu Ge­hör bringt, dem Wunsch- und Wahnbild entsprechend, das aus dem Konflikt mit der ambivalent besetzten Erscheinung der Menge resultiert.

          Überdies bindet die phantastische Symphonie ihre Ruhelosigkeit an die erotische Passion und durchsetzt das Formgedächt­nis der Tonalität, bis zum späten Beethoven an Stringenz und Geschlossenheit orientiert, mit der Triebstruktur von Leiden­schaft und wahnhaftem Traum. Dem korrespondiert die Anspannung des Dissonanten über psychologisch verfeinerte Mittel der Or­chestrierung, die den Klang aufrauhen, über harmonische Schroffheiten und Irregularitäten der Metrik, über Momente, die im Sinn einer bewußt gestörten musikalischen Logik nicht geglättet werden.

          Beethovens Neunte Symphonie spannt ihren Verlauf vom Charak­ter des Erhabenen des ersten Satzes aus zum ethischen Postulat­ des Finales. Berlioz komponiert eine Musik, die mit der Ver­mischung stilistisch heterogener Charaktere Victor Hugos Dra­menkonzept von der Verschmelzung des 'Erhabenen und Grotesken' nahesteht und die tonale Ordnung nach Maßgabe einer Ästhetik des Häßlichen unterhöhlt.

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Beispiel 10: Berlioz, Symphonie fantastique, 4. Satz (ganz)

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Mit der industriellen Revolution bricht die Kluft zwischen einem vom ökonomischen Diktat beschränkten prosaischen Außen des Weltgetriebes und dem ins Innere des künstlerischen Subjekts geweiteten Raum der Imagination auf. Bei Chateaubriand, der in einer frühen Programmskizze zur Symphonie fantastique als Kron­zeuge angeführt wird, heißt es dementsprechend: "Die Phanta­sie ist reich, überströmend und wunderbar, das Dasein armse­lig, trocken und entzaubert. Mit vollem Herzen bewohnt man eine leere Welt."

          Einsamkeit bildet eines der Leitmotive im Asyl der Moderne. Daß die kollektive Verbindlichkeit des Marsches zunehmend in den Schritt des vereinzelten Wanderers umschlägt, liefert einen Beleg dafür. Schon bei Schubert wird dies keineswegs nur in den ins Refugium der Kammermusik eingezogenen Komposi­tionen hörbar. Große Teile des "Andante con moto" der späten C-Dur-Symphonie etwa weisen mit ihrer Moll-Tonalität und den bei geradtaktigem Metrum durchlaufenden Achteln "in gehender Bewegung" dieselben Merkmale auf wie beispielsweise jenes Lied, mit dem der Zyklus der Irrfahrt der Winterreise sei­nen Anfang nimmt.

 

Beispiele 11 und 12: Schubert, 9. Symphonie, 2. Satz, T. 1 bis T. 7 (ab T. 5, drittes Achtel, abblenden)

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                                 Schubert, Winterreise, "Gute Nacht", T. 1 bis T. 7, drittes Achtel (ab T. 5, drittes Achtel, 

                                                                                                         abblenden)

 

Den Schritt des Exilierten - "zu Ende mit allen Träumen" ­- der mit Beginn dieser Leben aufzehrenden, tödlichen Wander­schaft in einer fremd gewordenen, winterlich erstarrten Welt zu Gehör kommt, läßt zuweilen schon der orchestrale Satz ver­nehmen. Dessen oftmals verkleinert in Holzbläser- und Strei­cherfiguren widerhallenden und nachbebenden Fanfaren und Trommelwirbel gemahnen zudem an einen Einzug der Marschinto­nation ins Innere des kompositorischen Subjekts

 

Bspl. 13 und 14: Schubert, Winterreise, "Gute Nacht", T. 1 bis T. 38 + die ersten drei Ach­tel der 

                                                                               Wiederholung (ab T. 37, drittes Achtel abblenden)

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                           Schubert, 9. Symphonie, 2. Satz, T. 1 bis T. 57 (ab T. 52 abblenden).

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Vor diesem Hintergrund sind auch die folgenden Ausschnitte aus dem "Andante quasi Allegretto" der Vierten Symphonie An­ton Bruckners und dem rund zehn Jahre später komponierten dritten Satz der Mahlersehen Ersten aus der Zeit zwischen 1884 und 88 zu hören.

          Bruckners terrassierendes Prinzip der Steigerung gipfelt ein zu Anfang von den Celli entfaltetes elegisches Thema bei Einsatz des Klangbeispiels zu pompöser Präsenz auf. Der bis nach Ces-Dur geführte, ornamental verklärte Aufschwung, zu­gleich Höhepunkt des Satzes, fällt allerdings jäh ab. Selbst wenn der Epilog des c-Moll-Andantes in C-Dur ausklingt, bleibt der Umschlag zum solitären Rhythmus des Wanderers un­überhörbar. Der Versuch, kollektive Einheit durch eine Sakra­les und Profanes kreuzende Choralmarcia zu verbürgen, kann nicht eingeholt werden. Was leichthin Bruckners metaphysi­scher Stil genannt wird, gewinnt von dieser Ernüchterung aus ein Korrektiv.

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Beispiel 15: Bruckner, 4. Symphonie, 2. Satz, T. 193 bis Ende

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Beethovens "Alla marcia" orientierte sich an einer finalen Dramaturgie, die die Wirkung einer auf ein gemeinsames Ziel gerichteten Bewegung strukturierte. Dieses Ziel, das die Mu­sik noch als einlösbar zu vermitteln suchte, war über das Po­stulat der Mündigkeit der Idee einer humanen Gesellschaft, der größtmöglichen Freiheit von Entfremdung, Willkür und Un­terdrückung verbunden.

          Die Verschärfung des erwähnten Bruchs zwischen einer pro­saischen Realität und dem aus den Widersprüchen heraus auf­rechterhaltenen poetischen Anspruch des ästhetischen Modells berührt jedoch das Verhältnis der inneren Zeitschichten der Werke. Der Erschwerung eines Resultats des Jubels und der Überwindung im Plan einer Finalität, die die Zukunft auf die Gegenwart verpflichtet, entspricht umgekehrt ein allmähliches Vernehmbarwerden der Bewußtseinsebene der Erinnerung. Erinne­rung aber ist eine zeitliche Reflexionsform jenes künstleri­schen Produzenten, dem der richtungsweisende Entwurf in die Zukunft infolge des Schwindens der ein solches Zukunftsunterfangen stützenden historischen Basis verwehrt bleibt. Vergangenes wird zur Gegenwart zitiert, und Zukunft kann sich zumeist nur noch im Rückgriff auf Vergangenheit verschlüsseln.

           Die rhapsodische Anlage des marschmäßigen dritten Satzes aus Gustav Mahlers Erster Symphonie spart bei einem eher kreisenden Verlauf Kulmination und Durchbruch im Sinne von Zielgerichtetheit aus. In seinem Mittelpunkt steht - "wie eine Volksweise" - das sentimentalisch gebrochene Zitat des Schlusses der Lieder eines fahrenden Gesellen. Die letzten Worte dieses Zyklus - "War alles, alles wieder gut!" / "Lieb' und Leid! Und Welt und Traum!" - bringen die Verschränkung von Vergangenem und Zukünftigem im Rückblick der Erinnerung zur Sprache. "War alles, alles wieder gut!", lau­tet demgemäß die Formulierung der Sehnsucht nach Heilung des Risses zwischen Außen und Innen, zwischen "Welt und Traum".

          Auch wenn der Gesang zur rein instrumentalen Fassung des symphonischen Satzes nicht assoziiert wird, läßt sich der wehmütigen Episode der Ausdruck von Reminiszenz anhören. Dazu trägt neben einem klagenden Tonfall infolge der schmerzlichen Eintrübung ihres G-Dur durch Mollklänge vor allem ein Gestaltungsmittel bei, das dieser Rhetorik nach seit Schubert An­wendung fand: das der Schichtung zweier Zeitebenen. Sie er­gibt sich aus der Überlagerung des somatischen Impulses, des Rhythmus des Marsches also, und der Liedmelodik als der Klang­spur des Erinnerten.

          Aufmerksamkeit verdient dabei das rhythmische Geschehen des Übergangs vom d-Moll der Marschsektion zum G-Dur der Liedepi­sode. Einer Schnittstelle gleich verdeutlichen ein synkopi­scher Stau und eine Triolennotierung, die sich schließlich zur Achtelfiguration wandelt, den Modus des folgenden Liedzi­tats als den einer Ein- und Überblendung. Die pendelnde Marschbewegung, die den Satz meist in den Pauken und Bässen durchzieht, tritt in den Hintergrund. Im Klang der Harfe leicht instrumentiert und umspielt, läßt die Kantilene sie gleichsam unter sich. Der Schritt sublimiert sich zum Schlag des Pulses, einer klanglichen Metapher für den Einzug des Raums der Imagination ins Innere der Vorstellung als der Büh­ne eines Tagtraums.

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Beispiel 16: Mahler, 1. Symphonie, 3. Satz, T. 70 (zügig aufblenden) bis T. 117 (ab T. 115 abblenden)

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Anton von Weberns viertes Orchesterstück aus opus 6, ur­sprünglich mit dem Vermerk "Marcia funebre", radikalisiert im Rahmen der zur Diskussion stehenden Thematik einen geschicht­lich qualitativen Sprung: der dem Marsch unabdingbare somati­sche Impuls gerinnt in seinem Negativ.

          Webern strukturiert hier ein Protokoll objektivierter Angst jenseits funktionsharmonischer Gesetze. Schon der Beginn im Pianissimo possibile, ein dumpfes Grollen des vibrierenden Schlags der Großen Trommel, wie ein aus weiter Ferne wider­hallendes Dröhnen, entzieht dem Hörer den Boden der Sicher­heit. Tam-Tam und tiefes Glockengeläute, als kaum hörbares und "von unbestimmter Tonhöhe" in äußerstem Gegensatz zu festlichem Tönen, fügen sich der Diktion eines Stenogramms der Gefahr. Desgleichen der Flatterzungeneffekt der Flöten sowie die gedämpften Blechbläser mit dem Timbre nicht des strahlenden, sondern des erstickten Klangs. Das über weite Strecken durchgehaltene Tremolo der Kleinen Trommel signali­siert Spannung, vergleichbar der beim "Auftreten eines trau­matischen Moments", um mit einem Begriff der zeitgenössischen Psychoanalyse Freuds zu formulieren.

          Bereits die ersten thematischen Bruchstücke lassen an Par­tien einer verlorenen Coda denken, bevor sich die Motivik zur Hohlform skelettierter Marschkonturen verdichtet. Die Umkeh­rung einer bei Mahler ausgeprägten Dramaturgie organisiert die Ereignisse entgegen der Folge von tragischem Höhepunkt, Zusammenbruchsfeld und Epilog. Vielmehr droht der Schrecken des Ungeheuren dem ästhetischen Gebilde, in ihm nur ahnbar, von außen und wendet die Splitter des Abgesangs zu Anfang zu­gleich zum Vorspiel. Wenn am Schluß der überhang des zum For­tissimo anschwellenden Schlagwerks das Tosen bis zum Zerreißen expandieren läßt, endet das bruitistische Crescendo im Sog einer einbrechenden Katastrophe.

          In Polarität schlägt diese Komposition, deren beklemmende Wirkung im Ausdruck liegt, unter dem Bann eines zum Unheil offenen Ziels zu stehen, den Bogen zu Beethovens Versuch zu­rück. Keine autonome, aus sich gesetzte Sukzession mehr, lädt sie ein Modell negativ auf, das die im "Alla marcia" zum Weg umgesetzte Zeit auf eine Einlösung der Emanzipation der Ge­sellschaft hin bestimmen wollte. Im Spannungsfeld dieser hi­storischen Klammer gibt die in Thomas Manns Doktor Faustus problematisierte 'Zurücknahme der Neunten Symphonie' nach wie vor den Prüfstein der Gegenwart ab.

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Beispiel 17: Webern, Orchesterstück op.6, Nr. 4 (ganz)

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Musikbeispiele und Interpretationen

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Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr.9 d-Moll, op.125, 1. Satz und Finale

(Solti / Lorengar,Minton,Burrows, Talvela / Chicago Symphony Orchestra und Chorus / 1972)

 

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Hector Berlioz, Symphonie fantastique op. 14, 4. Satz

(Boulez / London Symphony Orchestral / 1967)

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Anton Bruckner, Symphonie Nr. 4 Es-Dur, 2. Satz

(Kertesz / London Symphony Orchestral / 1966)

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Georg Friedrich Händel, Samson, Dead March

(Leppard / Baker, Watts, Tear, Shirley-Quirk, Luxon / London Voices / English Chamber Orchestra / 1978)

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Gustav Mahler, Symphonie Nr. 1 D-Dur, 3. Satz

(Levine / London Symphony Orchestra / 1974)

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Franz Schubert, Winterreise (D 911), Gute Nacht

(Fischer-Dieskau / Moore / 1951)

                       Symphonie Nr. 9 C-Dur (D 944), 2. Satz

(Szell / Cleveland Orchestra /1957)

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Anton von Webern, 6 Stücke für Orchester op. 6, 4. Stück (Boulez / London Symphony Orchestra / 1978)

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