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Mit der Grande Armée des Orchesters

                       Beethoven als Stratege

Erstaunlich, dass sich bislang kaum eine der zahllosen Veröffentlichungen zu Beethoven und Napoleon für die Ähnlichkeit taktischer Modelle in Beethovens Symphonien und Napoleons „art de guerre“ interessiert hat. Formuliert denn nicht gerade Beethovens Orchestersprache einen Fundus an Überraschungs- und Ausweichmanövern, an Zermürbungspartien, Attacken und Blitzsiegen, der dem Aktionsrepertoire Napoleons, seinem militärischen Genie des Kalküls und der Improvisation verwandt ist? Auch wenn Beethoven, abgesehen vom Spektakel der Schlacht bei Vittoria, alles andere als programmmusikalische Kampfszenarien komponiert hat, schärfen sich insbesondere seine Symphonien zur Struktur eines plan de bataille, um, wie im Fall der Neunten, mit der Rhetorik der Offensive und dem Feuer von 1789 die restaurative Erstarrung der Ära Metternich aufzusprengen. Gleichwohl bleibt die Frage nach der Wirkung solcher primär strategischen Weltentwürfe, zumal auf den Habitus eines Bürgertums, das in Beethoven einen seiner Heroen feiert.

Bayerischer Rundfunk, 2007

​Bspl. 1: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz

 

"Vergleichbar den verschiedenen Regimentern, die durch genaues Manövrieren zum Gewinn der Schlacht beitragen, folgen die Orchesterstimmen in Beethovens Symphonien Befehlen im Interesse des Ganzen und sind meisterhaft konzipierten Plänen untergeordnet." Nicht nur Balzacs Gambara, auch die musikwissenschaftliche Literatur hat an Beethovens Symphonien oft genug deren taktisches Potenzial hervorgehoben. Wollte doch Beethoven, Martin Geck zufolge, als ein „NapoIeon der Musik [...] die Kunst der Komposition beherrschen wie dieser die Strategie des Kriegführens“.

Komponiert Beethoven demnach den Übergang zum Finale der Fünften Symphonie als militärisches Tableau? „Hatten sich Beethovens musikalische Truppen innerhalb des Scherzos in sicherem und übersichtlichem Gelände befunden, so ergeht nunmehr der Befehl, dem Feld­herrn blind auf anderes, unbekanntes Terrain zu folgen. Als sie – ohne zu wissen, was geschehen ist – die Augen wieder öffnen, erstrahlt ihnen die Sonne des neuen, gelobten Landes.“ Vergisst Gecks Bebilderung hier nicht allzu unbekümmert die bilderlose Sublimie­rung des Strategischen in Beethovens Musik, ihre Struktur also? Jedenfalls hat Beethoven alles andere als martialische Programmmusik in Noten gesetzt, abgese­hen vom Spektakel Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria. Und das klingt dann so:

Bspl. 2: Beethoven, Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria

Doch zurück zur Fünften Symphonie. Auch wenn der Übergang vom Scherzo zum C-Dur-Triumph ihres Finales immer wieder unter Berufung auf solare Lichtmeta­phern analysiert wurde: verwunderlich bleibt, dass dabei niemals ein berühmter, der Komposition zeitnaher Sonnenmythos bemüht wurde. Jener vom 2. Dezember 1805 nämlich, als Napoleon in Austerlitz seine Strategie auf die Wetterbedingungen hin abstimmt und einige seiner im Nebel unbemerkt vorgerückten Divisionen zusammen mit der durchbrechenden Sonne unerwartet und mit vernichtender Konsequenz das Zentrum der gegnerischen Alliierten angreifen lässt: „Le beau soleil d´Austerlitz“.

Natürlich illustriert Beethoven nicht die Legende von Austerlitz. Das wäre nur eine weitere programmmusikalische Zurichtung. Dennoch: eben weil im Fall der Fünften Symphonie zu programmmusikalisch gedacht wurde, konnte übersehen werden, dass die Gemeinsamkeit zwischen Beethoven und Napoleon in ihren Strategien liegt. So wie Napoleon meteorologische Variablen in seinen Gefechtsplan einbe­zieht, so färbt Beethovens Taktik die Überleitung zum Finale der Fünften Symphonie naturbildhaft ein. In beiden Fällen ein Stück strategisch inszenierter Natur. Womit wir beim Thema wären.

 

Bspl. 3: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz

 

Die Brückenpartie zum vierten Satz der Fünften Symphonie ist eine des Sogs. Im Verlauf von 50 Takten hellt sich ein schattenhaftes Klangterrain im letzten Moment mit gewaltiger Crescendo- und Tutti-Schubkraft auf, um das Finale durch eine Ju­belbresche regelrecht zu inthronisieren. Solche Steigerungen gehören zu Beethovens neuen Strategien, die der erste Satz der Fünften Symphonie mit seiner arbeitsteiligen Mobilität und Effizienz sämtlicher musikalischer Parameter exemplarisch einlöst. Nichts vereinzelt sich auf Dauer, nichts dominiert, nichts unterwirft sich hier: Beispiel eines Organismus, dessen Mo­dell in der Philosophie um 1800 eine zentrale Rolle spielt. Bürgerlich-republikani­sche Tendenzen melden sich darin zu Wort; Tendenzen mit naturhaften, naturrecht­lichen Zügen. Kein Wunder, dass Kant das Wesen des Organismus an einem „Pro­dukt der Natur" demonstriert, um von hier aus Parallelen zur "Organisation" eines "Staatskörpers" zu ziehen. "Denn jedes Glied soll [...] in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck [sein], und indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und seiner Funktion nach, be­stimmt sein.“

 

Bspl. 4: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz

 

 

In Beethovens Fünfter Symphonie bleibt die republikanische Zweck-Mittel-Relation des ersten Satzes auf eine bislang ungehörte Ökonomie des Materials hin abge­stimmt: auf Kraftmassen und Massenkräfte mit einer eigenen Rhetorik, die im Ton­fall der französischen Revolutionsmusik den Aufbruch einer Nation im Namen von Freiheit und Gleichheit zitiert und feiert.

Es war dieser Aufbruch im Wirbel der Ereignisse von 1789, der in der Umwälzung des Kriegswesens seine Verteidigung gegen die Koalition der europäischen Monar­chien finden musste. Grundlage der Bewaffnung und Kriegsführung war – und hier kommt die Dimension der Masse demographisch zum Tragen – die Ressource einer ganzen Nation und ihrer „Levée en masse“. Dieses Volksheer mit seinen unge­wöhnlichen Kampftechniken optimal organisiert und eingesetzt zu haben, war Na­poleons Verdienst. Die Grande Armée war kein schwerfälliger Mechanismus mehr, keine Maschine mit sturen Befehlsempfängern, sondern eine in autonome Teilein­heiten differenzierte, wenn auch nach einem Generalplan agierende Streitmacht mit stellenweise flachen Hierarchien. Blitzschnell operierende Truppen bilden einen amöbenartigen Verbund, der offene und geschlossene Gefechtsformen, Schützen­schwärme und kompakte Verbände, freie Formationen und Kolonnen virtuos kombi­niert. Fähig zu unberechenbaren Einzelattacken wie zu massiver Angriffswucht. Al­les in allem eine Armee, auf die selbst zutrifft, was ihrem Oberbefehlshaber als Wortspiel zugedacht war: „Napoleon – Chamäleon“.

Fällt es wirklich so schwer, in diesen Taktiken etwas von Beethovens Orchester­strategien zu erkennen?

 

Bspl. 5: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz

 

 

Es ist das Besondere am „Allegro con brio“ der Fünften Symphonie, dass es Form produziert, um gleichzeitig durch diese Form kanalisiert zu werden. Die Notwendig­keit des Komponierten soll als Freiheit erscheinen. Als eine Einheit von Ausdrucks­wille und Formstruktur, die darauf abzielt, wie es in Clausewitz´ Kriegstheorie von 1810 heißt, „stets auf die Mitwirkung aller Kräfte zu wachen“ und zu achten, „dass kein Teil dersel­ben müßig sei“. Denn „wenn einmal gehandelt werden soll, so ist das erste Bedürfnis, dass alle Teile handeln [...]“.

Erst diese umfassende Arbeit produziert die Geschwindigkeit, Elastizität und Schlagkraft des ersten Satzes der Fünften Symphonie, dessen Rasanz zuweilen an elementare Naturvorgänge erinnert und damit an einen Habitus, der den Zeitgenos­sen an Beethoven und Napoleon auffiel. Wenn Bonaparte im propagandistischen Begleitorgan seines Italienfeldzugs sich selbst, den von Sieg zu Sieg eilenden Ge­neral, mit den Worten rühmt: "Er fliegt wie der Blitz und schlägt zu wie der Donner. Er ist überall und sieht alles“, dann bricht sich das Ungestüm des Strategen in der Allgegenwart politischer Entschlusskraft. Solche Brechungen hat Beethoven in der Pastorale auskomponiert: In ihrer "Gewitter"-Szene spiegeln sich Natur und Kultur wechselseitig in einer Triebdynamik ungebändigter, nicht exakt ortbarer Kräfte bis hinein in die geräusch­hafte Tongebung. Wer wollte klären, ob in dieser Entladung die Terreur der Franzö­sischen Revolution, Napoleons Heere oder eine reinigende Apokalypse der Ge­schichte schlechthin losbrechen?

 

Bspl. 6: Beethoven, 6. Symphonie, 4. Satz

 

Beethovens Kunst der Symphonie und Napoleons Kriegskunst: nicht selten sind ihre organisatorischen Parallelen solche der Dramaturgie. Bei Napoleon „zerfiel eine Schlacht in [...] zahlreiche getrennte Akte, in denen der Divisions- oder auch der Korps-Kommandeur über seine verschiedenen Waffen [...] nach eigenem Ermessen verfügte und der Feldherr erst [...] je nach den Umständen den Entschluss fasste über den Stoß, der die Entscheidung bringen sollte“. Deshalb wurde „für den Verlauf der Schlacht die Zurückhaltung und Verwendung einer Re­serve [...] immer bedeutsamer“. „Das Gefecht war nicht mehr angelegt auf die Ent­scheidung durch den ersten Stoß, sondern wurde zunächst eingeleitet und dann aus der Tiefe genährt, hingehalten oder gesteigert.“

Wie oft aber – um mit Hans Delbrücks Analyse napoleonischer Schlachtenlenkung für die Musik zu sprechen – wie oft setzt nicht auch Beethoven auf Ressourcen. Nachdem die Schlusspartie der Fünften Symphonie ihren Geschichts- und Gat­tungsoptimismus mit einer Art Offenbarungsemphase verkündet hat, ohne dass weitere Steigerungen zu erwarten wären, übertrumpft Beethoven diese Schlusspar­tie samt Coda aus der Reserve heraus noch mit einer Stretta, die letzte Vorbehalte brechen soll.

 

Bspl. 7: Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz

Auch in Austerlitz begann der letzte Akt mit dem Einsatz der Reserve der Gardekavallerie, um mit dem Artilleriebeschuss des Satschaner Teichs zu enden: Schlussdetonation eines neunstündigen Infernos mit rund 25.000 Toten und Ver­wundeten. Und eines Infernos, das sich unschwer mit Begriffen wie Exposition, Durchführung und Coda dramatisieren ließe.

„Der Ausgang einer Schlacht ist das Ergebnis eines Augenblicks, einer Eingebung“, resümiert Napoleon auf St. Helena. „Man nähert sich mittels verschiedener Manöver, kommt miteinander ins Handge­menge, kämpft für eine gewisse Zeit, dann naht sich der entscheidende Augenblick, intuitive Gewissheit durchzuckt einen und die kleinste Reserveeinheit bringt die Ent­scheidung.“

Reserven verweisen im Rahmen einer Ökonomie der Kräfte auf die Heftigkeit und Wucht von Widerständen. Beethoven konstruiert solche Widerstände im musikali­schen Material, um sie strategisch souverän zu überwinden. Der Eigensinn des Materials aber schärft das Ohr für die Physik in der Musik: für das Berechnen von Stoß und Gegenstoß, von Belastung und Entlastung, von Statik und Dynamik und für den Zusammenhang von Raum und Zeit, ja einer Raumzeit wie im ersten Satz der Fünften Symphonie. Indem dieser Satz das Areal der Partitur fast in jedem Mo­ment und an jedem Ort durch ein äußerst variables Kernmotiv besetzt und unter Spannung hält, erzeugt er eine hochgradige Synchronisierung des gesamten Appa­rats. So wie Napoleons Tirailleure im „Interesse des Ganzen“ vor oder neben den Kolonnen ausschwärmen, überaus agil und raumgreifend operieren, so zeigt auch das Zentralmotiv im ersten Satz der C-Moll-Symphonie eine Präsenz und Wendig­keit der Stimmführung in alle Richtungen: ein Motiv, ebenso wandelbar wie expan­siv, und darin der beste Agent einer kinetisch erhitzten motivisch-thematischen Ar­beit. Geist ist hier Taktik und Taktik Geist, und die Gegenwart das höchste Stadium der Zeit.

Bspl. 8: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz

 

Das „Allegro con brio“ der Fünften Symphonie gewinnt seinen rhythmischen Furor dadurch, dass sich dieser Furor an Widerständen bricht und entzündet. Es gehört zu Beethovens wie zu Napoleons Operationsfundus, Gegenkräfte dem Gesamtprozess einzugemeinden – als Rendite einer „Arbeit des Negativen“. Die stockenden Pen­delbewegungen zwischen Streichern und Bläsern gegen Ende der Durchführung bedeuten deshalb nicht nur Kraftverlust und Innehalten, sondern mehr noch Sammlung neuer Energien, um im Durchbruch zur Reprise die hauptthematische Devise und mit ihr das Sturmbanner des Satzes zurückzuerobern.

 

Bspl. 9: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz

 

Auch wenn der komponierte Ernstfall Beethovens nichts mit dem Grauen, nichts mit dem Blut- und Todesmoloch auf Napoleons Schlachtfeldern zu tun hat: niemals ver­gisst Beethoven die Asche des triumphierenden Phönix, der als Sturmvogel der Re­volution in seinen Symphonien unentwegt neu ersteht. Reflektiert nicht die soeben gehörte Oboen-Episode zu Beginn der Reprise des ersten Satzes die Opferarsenale der Fünften Symphonie? Und damit jene Gewalt, die ein extrem kurzes und daher extrem manipulierbares Motivpartikel aus dem tonalen Sprachrepertoire heraus­schneidet, um es der Formtotale und ihrer atemlosen Kompression der Zeit umso müheloser unterwerfen zu können?

„Zeit“ indes „ist in der Kriegskunst wie in der Mechanik [...] das große Element zwischen Masse und Kraft.“

Napoleons Maxime könnte als Motto über dem „Allegro con brio“ der Fünften Symphonie und seiner Mobilmachung der Zeit stehen. Kommt es nicht darauf an, rasch die Gunst der Stunde zu erkennen, von der alles abhängt? Ja die Gunst einer Viertelstunde, wie jener fast schon sprichwörtlichen in Austerlitz, mit der Napoleon den Angriff auf das Plateau von Pratzen verzögert, um die vorgetäuschte Defensive im entscheidenden Augenblick offensiv zu wenden?

Die Schnelligkeit treffsicherer Entschlüsse gehört zur Qualität eines Heerführers, der Improvisation und Kalkül zu verbinden weiß; gerade weil nach Clausewitz der Krieg ein „wahres Chamäleon“ im „Spiel der Wahrscheinlichkeiten“ ist und die „Einmischungen des Zufalls machen, dass der Handelnde im Krieg die Dinge un­aufhörlich anders findet, als er sie erwartet hatte“. Kein starrer Plan mehr gibt die Order im Labyrinth der Unwägbarkeiten vor, sondern ein Agieren nach Lage und Umstand. Denn, so Napoleon, „das Genie handelt nur nach Inspiration. Was unter bestimmten Umständen richtig ist, ist unter anderen Gegebenheiten falsch; deshalb gilt es die Prinzipien nur als die Achsen einer Funktion, die sich als Kurve abbilden lässt, zu verstehen“.

Und wenn Napoleon das Gebiet um Austerlitz gleichsam auswendig lernt, bis hinein in die kleinste Bodenbeschaffenheit, um die Chancen und Risiken eines Kriegs­schauplatzes abzuwägen, dann erinnert diese Kartographie der Möglichkeiten an Beethovens Sondierung der harmonischen Plateaus, Gefälle und Bahnungen in der Szenerie eines Symphoniesatzes. Überdies erinnert sie daran, wie sehr Strategie auf einen Angelpunkt der Effizienz abzielt. In Austerlitz auf die Hügelformation des Pratzen, im ersten Satz der Eroica auf jene schon in den frühesten Skizzen notierte E-Moll-Episode der Durchführung, die den Binnenspannungen und Dissonanzstaus des „Allegro con brio“ erst Funktion und Gewicht gibt.

Bspl. 10: Beethoven, 3. Symphonie, 1. Satz

 

Nun ist freilich Austerlitz nicht die Eroica und eine reale, mit ihren Unwägbarkeiten und Katastrophen unwiederholbare Schlacht kein reproduzierbares musikalisches Werk. Beethoven hatte sich deshalb daran zu messen, wie seine Kompositionen am Ungewissen, am Wagnis und an der Gefahr der „Prosa der Welt“ partizipieren könnten. Etwa über das Medium einer schockhaft unvermittelten Dissonanz, ge­nauer: der eines Septakkords, der ohne metrisches Fundament einsetzt und sich in die Subdominante auflöst, bis endlich nach acht Takten die Tonika zum ersten Mal in ihrer Grundgestalt erscheint.

             

Bspl. 11: Beethoven, 1. Symphonie, 1. Satz

 

Eröffnet man so eine Symphonie? „Man“ sicher nicht, aber Beethoven eben. Was spielt es da für eine Rolle, dass das feierliche Eröffnungsportal fehlt? Mag auch noch fünf Jahre nach der Uraufführung ein Rezensent genau dieses Portal vermis­sen und kritisieren, ein solcher Beginn passe keineswegs „zur Eröffnung eines großen Concerts“. Wo bleibt das „prachtvolle Unisono“, das eine musikalische Akademie „besser eröffnet“ hätte als dieser „unbestimmte, wenn­gleich genialische Anfang“?

Es ist der Formenkreis des Plötzlichen, dem der unerwartete, verstörende Beginn von Beethovens Erster Symphonie zuzurechnen ist; ein Formenkreis, den dieser Beginn mit einem Prinzip des „Kriegstheaters“ teilt, sofern nämlich „der Angriff [...] seinen einzigen Vorzug in der Überraschung besitzt, womit die Eröff­nung der Szene wirken kann“. „Das Plötzliche und Unaufhaltsame sind seine stärksten Schwingen“, „wo es auf die Niederwerfung des Gegners ankommt“.

Wo wäre nun aber, um mit Clausewitz und vom Beginn der Ersten Symphonie her zu fragen, der Gegner für Beethovens Strategien? Findet das Drama der Fünften Symphonie nur innermusikalisch statt? Oder nicht auch in Richtung Publikum? Soll nicht auch das Publikum überrascht, aus der Fassung gebracht, besiegt und da­durch verwandelt werden? Und wäre das nicht zugleich Beethovens politische Di­mension? So wie für Napoleon das Schlachtfeld ein Mittel der Politik war? Clause­witz’ zu Tode zitierter Satz vom „Krieg“ als einer „bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ zielt ja darauf ab, dass für Napoleon in seiner Eigenschaft als Kai­ser und als Kriegsherr politische Potenz und militärischer Erfolg nicht zu trennen wa­ren. Und Beethoven? Er notiert zur Konstruktion harmonischer Wechsel, dass sie "wirklich eine Veränderung in jedem Hörenden hervorbringen [sollen]".

Diese Notiz mag belegen, wie sehr auch bei Beethoven das Strategische politisch ist. Warum sollte der Sturz ästhetischer Normen nicht ebenfalls gesellschaftliche Verkrustungen sprengen können? In Form komponierter Publikumsattacken etwa? Oder in Form symphonischer Kampfdiskurse mit einer zermürbenden und dadurch erschütternden Überforderung der Hörer?

Solche Diskurse von Standhalten, Bewährung und Läuterung sind Beethovens Bei­trag zur napoleonischen Ära, in der sich Konflikte nicht erst kriegerisch äußern, son­dern bereits im Binnenraum des Subjekts manifest werden. Ist es doch das Drama von Freiheit und Notwendigkeit, das Hegel im Widerspruch zwischen dem „indivi­duell ersehnten Leben und der objektiv sich vollziehenden Gewalt“ erkennt. Solche Risse und Oppositionen schreiben sich als Politikum der Entzweiung auch dem ersten Satz der Neunten Symphonie ein. Beethoven komponiert in diesem Koloss aus Ansätzen, Verwerfungen, Verdichtungen und Auflösungen – oder sollte man besser sagen: aus Offensiven, Fehlmanövern, Kollisionen und Rückzügen – einen „plan de bataille“, der das Publikum auf die Vernunft- und Moraldirektive des Finales hin ausrichten soll. Als könnte das Feuer von 1789 fünfunddreißig Jahre später die restaurative Winterwüste doch noch zum Schmelzen bringen. Und wäre eine tragi­sche Zeitdiagnose musikalisch drastischer zu formulieren als mit der starren Unver­söhntheit gegenläufiger Skalen auf dem Scheitelpunkt des Eröffnungssatzes der Neunten Symphonie?

 

Bspl. 12: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz

 

Den Gedanken Goethes, dass „alles Tragische“ auf einem „unausgleichbaren Gegensatz“ beruht, setzt Beethoven in kleinste Motivgefüge um. Die spiegelsym­metrischen Auf- und Abstiegsfiguren gerinnen in ihrer Entzweiung zum Ausdruck objektivierter Verzweiflung. So bilanziert auch bei Beethoven die polare Zweiheit eine Kampfrhetorik, die Clausewitz, der Napoleon-Exeget, auf den Punkt bringt: „Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser, uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen.“

Es ist diese Art des Kriegs, die in der Egmont- und Coriolan-Ouvertüre die Bühne für den Zweikampf von Ich und Weltlauf, für Sieg und Niederlage aufschlägt. Und es ist die Spannung zwischen dem Tod des Helden und der Entschlossenheit im Aufstand der Niederlande gegen die spanische Repression, die im F-Dur-Schlussjubel des Egmont-Vorspiels ein Fanal der Freiheit setzt.

Bspl. 13: Beethoven, Egmont-Ouvertüre

 

Im Kontrast dazu, obschon über das kriegerische Milieu eng damit verbunden, der Motivzerfall am Ende der Coriolan-Ouvertüre. Mit der Todessymbolik des sich aus­dünnenden Orchestersatzes, der die Phrasen auflöst und die Bewegung durch Ge­neralpausen endlich zum Verlöschen bringt: Ein Schatten nur noch jener synkopi­schen Verbissenheit, die die Ouvertüre zunächst als Impuls einer unbeugsamen Selbstbehauptung in Gang gehalten hatte.

Bspl. 14: Beethoven, Coriolan-Ouvertüre

Dennoch meint das Scheitern am Ende der Coriolan-Ouvertüre keinen Zusammen­bruch nach heutigem psychologischem Verständnis, sondern die Tragik eines heroi­schen Subjekts, das sich wie ein geschlossenes napoleonisches System des Wil­lens gegen die Welt stellt und zerbricht. Die Helden-Ouvertüren Beethovens und ihre strategischen Muster orientieren sich an dem, was Hegel die „Ehre der großen Charaktere“ und ihre Dämonie jenseits von Gut und Böse nennt. Zudem erzählt ihre Musik etwas über jene Kämpfer und Agenten des Weltgeistes, denen Geschichte zum Stoff eines chaosgefährdeten Welttheaters wird und folglich eine despotische Regie geradezu herausfordert. Na­poleon hat dieses Steuerungsmonopol für seine Person stets eingefordert. Und Beethoven? Er steigert den Verlauf seiner Symphonien nicht selten zu einer be­drohlichen Eigenmacht, die ihrem Schöpfer den Part eines Strategen mit höchster Bändigungskunst aufzwingt.

Der Stratege aber bedarf eines Repertoires an Mitteln, die sich je nach Situation funktionalisieren lassen. So wie im Eröffnungssatz der Neunten Symphonie, in dem die erste Exposition des Hauptthemas entgegen seiner Entfaltungspotenz vorzeitig abbricht und wie ein erfolgloses Manöver ins Leere läuft. Erst in einem zweiten Ver­such und mit einem demonstrativen Eingriff wird der kritische Punkt des Abbruchs überwunden: durch den Einsatz eines hebelartig dynamisierten Motivpartikels. Deutlicher als mit dieser Verwerfung und Reformulierung könnte sich Strategie ge­rade aufgrund ihrer Änderung nicht zu Gehör bringen.

 

Bspl. 15: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz

 

Strategien also. Strategien, die um 1820 mit der Gleichgültigkeit, mit der Gegner­schaft des Publikums zu rechnen haben und sich am realistischen Blick auf das Metternich-Regime schärfen. Die Engführung dieses Realismus mit dem idealen Schwung des Symphonischen soll einer in ihren Privatinteressen gefesselten Ge­sellschaft den Spiegel vorhalten. Deshalb greift Beethoven im „Alla marcia“ des Fi­nales der Neunten Symphonie noch einmal bekenntnishaft das republikanische Idiom des Marsches auf. Bereits das Instrumentarium – Große Trommel, Becken und Triangel – erinnert an die Freiluftmusik und die „Nation armée“ der Französi­schen Revolution. Mag das „Alla marcia“ zunächst auch gegen den Tritt gesetzt sein: der Ansporn des Tenors, „Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen“, verspricht triumphale Zielgewissheit.

             

Bspl. 16: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz

             

Doch es kommt anders. Während des folgenden Fugatos zersetzen die aneinander sich abarbeitenden Stimmen zusammen mit der thematischen Substanz den Sinn­grund ihrer Antriebskraft. Das marschmäßig rhythmisierte Thema der Freude, das motivisch verdichtet das Fugato wie eine ethische Leitidee durchziehen sollte, wird bis zur Eintaktigkeit aufgerieben: Resultat einer regelrechten Zermürbungsstrategie. Kurz vor dem endgültigen Verschleiß dann die Entrückung des Freudenthemas – oder was davon übrig geblieben ist – nach h-Moll, in die Ferne. Pianissimo ihrer Verbürgtheit entzogen und buchstäblich in höchster Not steht die visionäre Signatur des gesamten Satzes auf dem Spiel. Schließlich diese ruckartige Weitung zum Fortissimo-Tutti des „Freude, schöner Götterfunken“. Eine Euphorie der Wiederkehr in D-Dur, mit der die Musik dem Auf­lösungssog unter Aufbietung einer massiven Beschwörung standzuhalten sucht.

Wie Geschichte als „Antagonismus der Kräfte“ in das „Alla marcia“-Fugato eindringt, zeigt die martialische Hast der gegeneinander geführten und einander verfolgenden Stimmen mit ihrem Druck der Reduktion zur Genüge: Eine Musik gewordene Ur­szene des liberalistischen Konkurrenzgetriebes und ihrer Kampfparole „Laufet, Brü­der, eure Bahn!“.

Die „ungesellige Geselligkeit der Menschen“ liefert das „Mittel“, „dessen sich die Na­tur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen“ in den Menschen „zu Stande zu bringen“. „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“. So interpretiert Kant den „Antagonismus“ der Kultur als Motor des Fortschritts, das heißt der Verwandlung der Gesellschaft in ein „moralisches Ganzes“. Und wie Kant zufolge dieser Fortschritt die Absicht eines „weisen Schöpfers“ vermuten lässt, so postuliert auch Beethoven die göttliche Instanz als sittliches Unterpfand des „Alla marcia“ unmittelbar vor dessen Einsatz: im Verbund mit Schillers „Und der Cherub steht vor Gott“. Ziel wäre somit, den Vernunftgrund der Transzendenz in die Imma­nenz der Geschichte einzuholen.

Und der Weg dahin? Ihn und mit ihm das Ziel komponiert Beethoven als offene Frage. Ist dem Emanzipationsentwurf Kants, Herders oder Schillers überhaupt noch zu trauen? Dem Gattungskonzept von Widerstreit und Rivalität in einer ökonomi­schen Arena, die im Exzess der Mittel den Zweckgedanken Kants von einer „ge­rechten bürgerlichen Verfassung“ zerreibt?

 

Bspl. 17: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz

Beethovens Strategien entlarven, wie sehr sich die Sphären des Kulturellen und Kriegerischen mischen. Wie sehr der Wertekanon des Idealen und Heldischen einer gesamtgesellschaftlichen Ökonomie zugehört, die das Denken und Handeln be­stimmt und auf mannigfache Weise als Arbeit erscheinen lässt, und sei es als eine zerstörerische. Deshalb kann Clausewitz den noch nicht industrialisierten Krieg als einen „Akt des menschlichen Verkehrs“ begreifen, um damit zugleich einen unter­gründigen Kommentar zu Beethovens „Alla marcia“ zu liefern: Der Krieg „ist ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst, und nur darin ist er von den anderen verschieden. Besser als mit irgendeiner Kunst ließe er sich mit dem Handel vergleichen, der auch ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätig­keiten ist, und viel näher steht ihm die Politik, die ihrerseits wieder als eine Art Han­del in größerem Maßstabe angesehen werden kann“.

Bis zuletzt ging Beethovens symphonische Wunschproduktion von jener Einheit der Person aus, die das Einzelsubjekt im Zeichen der Vernunft an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Diese Einheit war es, die die Spannungen zwi­schen Individuum und Gesellschaft zuweilen mit den Konfrontationsstrategien einer musikalischen „bataille napoléonienne“ auszutragen erlaubte. So wie im Kopfsatz des Fünften Klavierkonzerts und seiner Patt-Situation im hochdramatischen Kräfte­messen zwischen Solo und Orchester. Ein Konfliktgipfel und eine Geschichtslektion sondergleichen. Und ein fragiler Augenblick nicht nur der Musikgeschichte, bevor sich Beethovens heroisches Subjekt der klaren Konflikte und Postulate allmählich in Funktionen und Rollen auflöst, die sich überlagern, einander widersprechen und mittlerweile vielfältige Entlastungs- und Bewältigungsroutinen schon im Alltäglichen verlangen.

Vielleicht lässt uns deshalb der Ernstfall dieses Klavierkonzerts fragen – ohne Re­signation und Nostalgie –, was denn wohl die Gegenwart vor Beethoven bedeutet, vor Beethoven und seinen Strategien.

 

Bspl. 18: Beethoven, 5. Klavierkonzert, 1. Satz

 

 

 

Musikbeispiele

            

Bspl.   1: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz [Tr. 3, 4´06 – Tr. 4, 1´30] [2´03]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60093 2  5]

 

Bspl.   2: Beethoven, Wellingtons Sieg [Tr. 11, 3´38 – 5´04][1´26]

              [Herbert von Karajan / Berliner Philharmoniker / Deutsche Grammophon 419 624-2]

 

Bspl.   3: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz [Tr. 3, 4´06 – Tr. 4, 0´10] [0´42]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60093 2  5]

 

Bspl.   4: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 2´37 – 3´59] [1´22]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60093 2  5]

 

Bspl.   5: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz, [Tr. 1, 0´00 – 1´18] [1´18]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60093 2  5]

 

Bspl.   6: Beethoven, 6. Symphonie, 4. Satz [Tr. 8, 0´00 – 3´23] [3´23]

              [John Eliot Gardiner / Orchestre Révolutionnaire et Romantique   
               Deutsche Grammophon, Archiv Produktion 439 903-2]

 

Bspl.   7: Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz [Tr. 3, 10´37 – 12´50)] [2´14]

              [René Leibowitz / Royal Philharmonic Orchestra / MENUET 160019-2]

 

Bspl.   8: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 2´37 – 3´59] [1´22]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60093 2  5]

 

Bspl.   9: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 3´33 – 4´43] [1´10]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60093 2  5]

 

Bspl. 10: Beethoven, 3. Symphonie, 1. Satz [Tr. 5, 6´45 – 8´49]  [2´04]

             [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60090 2  8]

 

Bspl. 11: Beethoven, 1. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 0´00 – 1´16] [1´16]

              [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243  5 60090 2  8]

 

Bspl. 12: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 5´43 – 6´39] [0´56]

              [Claudio Abbado / Berliner Philharmoniker / Karita Mattila, Violeta Urmana,           
               Thomas Moser, Thomas Quasthoff / Swedish Radio Choir,           
               Eric Ericson Chamber Choir / 
               Deutsche Grammophon  471 491-2] 

       

Bspl. 13: Beethoven, Egmont-Ouvertüre [Tr. 5, 5´33 – 7´32] [1´59]

             [Leibowitz / Royal Philharmonic Orchestra / MENUET 160021-2]

 

Bspl. 14: Beethoven, Coriolan-Ouvertüre [Tr. 2, 6´27 – 7´57] [1´30]

             [Otto Klemperer / Philharmonia Orchestra / EMI Classics 7243  5 67965 2  2]

 

Bspl. 15: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 0´00 – 1´45] [1´45]

              [John Eliot Gardiner / Orchestre Révolutionnaire et Romantique    
               Deutsche Grammophon, Archiv Produktion 439 905-2]

 

Bspl. 16: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz [Tr. 5, 3´21 – 7´04] [3´43]

             [Claudio Abbado / Berliner Philharmoniker / Karita Mattila, Violeta Urmana,           
              Thomas Moser, Thomas Quasthoff / Swedish Radio Choir,           
              Eric Ericson Chamber Choir / Deutsche Grammophon  471 491-2] 

       

Bspl. 17: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz [Tr. 5, 2´59 – 6´18] [3´19]

             [Claudio Abbado / Berliner Philharmoniker / Karita Mattila, Violeta Urmana,           
              Thomas Moser, Thomas Quasthoff / Swedish Radio Choir / Deutsche Grammophon  471 491-2]

        

Bspl. 18: Beethoven, 5. Klavierkonzert, 1. Satz [Tr. 1, 9´56 – 11´43] [1´47]

              [Vladimir Ashkenazy / Chicago Symphony Orchestra / Georg Solti / DECCA 417 703-2]

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