Im Unterschied zum Ethos in Schillers Dramatik und Beethovens Symphonik, ihrer Ökonomie und ihren Affektfiltern im Dienst des Ideals sowie ihrer methodischen Stringenz setzt der künstlerische Eros Mozarts und Goethes auf eine Kunst der Verschwendung jenseits der Allianz von Ethik und Ästhetik. In Mozarts Musik geht es trotz aller melancholischen Facetten weit mehr um die Durchlässigkeit eines epikuräischen Stoizismus als um ein Standhalten unter tragischen Vorzeichen. Das "Corriam tutti a festeggiar" wird zum generellen Leitmotiv seines desintegrativen Formdenkens, deren sinnlich-strukturelles Motivrepertoire und seine Impressionen nicht sofort von der Regie des kompositorischen Ich nach den Regeln eines heroischen Charakters organisiert werden, vielmehr das flüchtige Ich allererst konturieren. Alles aber, was schon die Zeitgenossen an Goethes und Mozarts Lockerheit der Struktur, an ihrem verschwenderischen Umgang mit Einfällen und Gedanken kritisieren, sind Einwände seitens der Willensinstanz des ethischen Charakters.
Wie Goethe kommt es Mozart darauf an, Vielfalt zuzulassen. Mozarts und Goethes Genius des Spiels setzt auf keine Letztbegründungen. Es gibt für Goethe und Mozart keine absoluten Werte, auch nicht die von Sprache und Wahrheit. Beide setzen auf Mischung, auf das Einlassen des Ungeschiedenen, Polymorphen. Genau auf jenes Moderne also, das Kritiker wie Wilhelm von Humboldt oder Hans Georg Nägeli monieren, dessen bürgerlich-philiströse Affektökonomie Mozarts "Geniefehler" rügt, "durch Kontraste zu wirken" und Mozarts "Stilunfug", seine "Züge einer widerwärtigen Stillosigkeit" anprangert. Nägeli vermisst an Mozart trotz dessen "Genialität" die "wahre Stilgröße", um diesen Makel schließlich aus "Mozarts Charakter und Lebensweise" abzuleiten: Mozart war "zu eilfertig, wo nicht zu leichtfertig, und komponierte, wie er war."[1] Ähnlich Humboldt, der in Goethes Wahlverwandtschaften "Schicksal und innere Notwendigkeit" vermißt, den Mangel an "poetischer Stimmung", um die prosaischen Tagesreste "in ein Ganzes gehörig zu verschmelzen"[2].
[1] Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung des Dilettanten, Darmstadt 1983, S. 157 ff. [Erstausgabe 1826]
[2] Wilhelm von Humboldt an seine Frau, 6. 3. 1810.
Entscheidend sind bei Goethe und Mozart die vermischten Genres, am offenkundigsten in Faust II und im Don Giovanni. Aber es gibt verdecktere Beispiele. Wer könnte etwa im zweiten Satz aus Mozarts G-Dur-Klavierkonzert KV 453 säuberliche Affektscheidung betreiben? Wird für Schiller und Beethoven die Entmischung relevant, der Rigorismus des Ideals als ein Ausscheiden, Abtrennen, Säubern, kurz: ein Kult des Reinen im Abspalten des Niederen vom Hochsittlichen, stiftet bei Mozart die komplexe Freiheit der einzelnen Elemente, die affektive Spannung des Einzelnen den Zusammenhang, ohne einem Zentralismus der Idee unterworfen zu sein.
Eines der Mißverständnisse in der Rezeption Mozarts liegt in seiner Annäherung an Beethovens Ethos. Am deutlichsten zeigt sich dies im Unverständnis des "lieto fine" des Don Giovanni. Man will den tragisch-reinen Mozart des 19., nicht den komplexen, wandelhaften des 18. Jahrhunderts. So, wie d'Alembert von der zeitgenössischen Philosophie als von einer "Experimentalphysik der Seele" spricht; so, wie Goethe in Howards Ehrengedächtnis ein verstecktes atmosphärisches Gleichnis seiner Sprache entwirft, die des "Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut, / Am Wechsel der Gestalten sich erfreut"; so, wie Diderots Beweglichkeit des Denkens gegen fixe Prinzipien den an der Bühne des Wirklichen orientierten Perspektivenwechsel propagiert, so liegt der Äther von Mozarts Imagination in der Logik des Subkutanen, im rhapsodischen Wechsel der Motive und Affekte und ihrer Verwandlung. Seine Rhetorik des Unerwarteten ist eine im Fluss diskreter Seelenzustände, auch wenn Mozarts Musik kein "Triebleben der Klänge" komponiert.
Warum sind die experimentellen Szenarien und Versuchsanordnungen der Psyche wie in Così fan tutte oder den Wahlverwandtschaften samt ihren symmetrisch-asymmetrischen Konstellationen bei Goethe und Mozart denkbar, nicht aber bei Schiller und Beethoven? Weil der Triumph des Geistes und der Willensfreiheit narzisstisch gekränkt vor den Triebtableaus von Passion, Leidenschaft und Natur zurückschreckt?
Bei Mozart und Goethe führt die Einsicht in die flüssigen Konturen von Person und Personalität ins Innere ihres musikalischen und poetischen Denkens. Der Wechsel und die Überlagerung der Affekte und Charaktere, ihre Fülle und Flüchtigkeit, korrespondieren insofern mit dem Bewußtsein des 18. Jahrhunderts, als hinter diesem Wechsel keine ethische Zentralinstanz steht, die ihre Souveränität erst durch die Beherrschung und vernunftgesteuerte Regie der Seelen- und affektiven Triebzustände beweisen muss. Es handelt sich dabei um jene spätaufklärerische Moderne, in der David Hume den menschlichen Verstand als eine rasante Folge von Eindrücken und Vorstellungen begreift. Als ein "Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen", die "einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind". Auch Mozarts und Goethes Intention liegt es fern, die poetische, die musikalische Komposition und ihr Geschehen an die deduktive Motivkandare zu nehmen. Die Parataxe des Geschriebenen und Komponierten soll durch kein monistisches Formgesetz voreilig gezähmt werden. Mit dieser Verweigerung einer straffen Direktive öffnet sich die ästhetische Konfiguration zur Freiheit des Paradoxes, Form ohne die Gewalt der Formung zu realisieren.
Solche libertären Züge sind Programm bei den subversiven Aufklärern des 18. Jahrhunderts bis hinein ins Psychologische. Lichtenberg spricht von der menschlichen Seele als von einem "Chamäleon, das mit jedem Augenblick seine Farbe verändert"[1], indes der junge Goethe in persona auf Caroline Herder beinahe selbst "wie ein Chamäleon" wirkt. Und schließlich Diderot, der "im Verlauf eines Tages hundert verschiedene Gesichter" haben konnte, "je nachdem womit ich mich befasste. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert".
War es Spinoza, der die Unverfügbarkeit des Zufalls auf einen "Mangel unserer Erkenntnis"[2], auf die Überforderung eines beschränkten Verstandes zurückgeführt hat, dem die sich kreuzenden Kausalketten unmöglich als Ganzes fassbar sind, so kreisen die Schriften des von Goethe hochgeschätzten Diderot um den Zusammenhang aller irdischen, bis in kleinste, unbedeutendste Regungen hineinreichenden Wirkkräfte und um das Vergessen ebendieser verwickelten Kräfte in einer als Zufall kaschierten Unwissenheit. Diderot ist es auch, der die philosophischen Entwürfe von "Individuum" und "Subjekt" in die "Summe einer Reihe von Tendenzen" auflöst, eingebettet in den regulativen Kosmos der Natur, einer Natur der moralischen Indifferenz, in der sich Gut und Böse unentwirrbar vermischen und moralische Urteile fragwürdig werden. Wer sind wir denn, so Diderot, wir, die "wir immer wir selbst und doch nicht eine Minute lang dieselben sind"? ("Tout s'est fait en nous parce que nous sommes nous, toujours nous, et pas une minute les mêmes.")
Überdies erinnert das Aussetzen der Tragödiendramaturgie im zweiten Teil des Faust an den Einspruch gegen ein tragisches Ende in Mozarts Dramma giocoso Don Giovanni. Don Giovanni - ein Dramma giocoso also und - trotz der Wiener Fassung von 1788 und ihrer eventuellen Streichung der Scena ultima - keine Opera seria. In Mozarts Werkverzeichnis findet sich gar das Wort "Opera buffa". Auf die Höllenfahrt des Verführers folgt das Schluss-Sextett nach dem Motto, "das Leben geht weiter". Shakespeare vergleichbar fügt sich Mozarts großes Welttheater keinem fixierten Gattungsbegriff und keiner Renditewirkung des Ethos. Mozart und Goethe dürfte die tragische Fasson des Entweder-Oder als pure Abstraktion vom komplexen Tableau der Welt- und Lebensbühnen erschienen sein. (Deshalb verwundert die Verwunderung Wolfgang Hildesheimers über Goethes Präferenz für Mozart als dem einzig denkbaren Komponisten des Faust.)
Das Tragische ist ethisch fundiert, auch wenn es die Moral von Gut und Böse übersteigt und die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit sogar moralisch indifferent formulieren kann. Während Beethoven, zumal symphonisch, auf dem ethischen Tremendum der Läuterung insistiert, setzen Mozart und Goethe auf das ästhetische Tremendum des "Schauders", der laut Goethes Faust der "Menschheit bestes Teil" ist. Mozarts Musik kennt keine Erinnerung als rückwirkende Verklärung der Vergangenheit, wohl aber Präsenz, Verwandlung, Entschwinden und Wiederkehr. Dies hängt - wie bei Goethe - mit der Bedeutung des Jetzt in seiner Musik zusammen, die von keiner Sehnsucht nach einem verlorenen Ideal weiß, von keiner Vertröstung auf Künftiges und von keiner Verklärung des Vergangenen auf Kosten des Gegenwärtigen. Das tragische Zero wie etwa im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie und deren Ideenpostulat in Richtung Finale ist Mozart fremd. Eher schon ist Mozarts Musik - von keinem Ideal des Sollens belastet - eine Art affektives und intellektuelles „Nullsummenspiel", das Lichtenberg für ein überaus "wichtiges Spiel" hielt, weil es ein Spiel ist, bei dem man weder gewinnen noch verlieren kann.
[1] Lichtenberg, Schriften und Briefe III, München 1968, S. 577. Auch Goethe spricht von den Farben als einem "Urchamäleon" ständig wechselnder Metamorphosen.
[2] Baruch de Spinoza, Ethik, Hamburg 1976, S. 35.
[3] Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1971, S. 145f.
Mozart und Goethe korrespondieren darin, dass sie unentwegt artistische Risiken eingehen, ohne abzustürzen. Die gewagten Wortnuancierungen im West-östlichen Divan und in Goethes Spätstil insgesamt sind der traumwandlerischer Sicherheit in Mozarts harmonischen Wagnissen zu vergleichen. Um für solche Wagnisse ein Ohr zu bekommen, genügt es an die kompositorischen Missgeschicke des Trivialen, Komischen und Lächerlichen zu erinnern, die Mozart im Musikalischen Spaß (KV 522) demonstriert. [Auf die Verwandtschaft zwischen Musik und Dichtung verweist übrigens auch Alfred Einstein: Mozart "übernahm eine fertige Sprache und sagte mit ihr, sie neu kombinierend, ihre Worte umdeutend, alt-neue und bekannt-unbekannte Dinge. So wie ein großer Dichter sich auch mit den fünfundzwanzig Lettern des Alphabets begnügt und keine neuen Wörter erfindet und dennoch das Ungeahnte sagt". (Einstein, Mozart, Frankfurt/Main 2005, S. 181) Wobei gerade im Fall Goethes von Bedeutung ist, wie sehr dessen Dichtung von Wortschöpfungen in untrennbarer Wechselwirkung mit der Imagination des "Ungeahnten" lebt. (Dazu: Johannes Bauer, „Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten“. Goethes musikalisches Denken, in: Andreas Ballstaedt, Ulrike Kienzle, Adolf Nowak (Hg.), Musik in Goethes Werk. Goethes Werk in der Musik, Schliengen 2003, S. 89-113)]
Ist Schillers Sprache wie diejenige Beethovens über weite Strecken investigativ, dann diejenige Goethes und Mozarts konfigurativ. Während bei Beethoven und Schiller oft genug das Argusohr der Überwachung und der Machinalisierung der Motive und Themen im Namen der ethischen Idee dominiert, setzen Mozart und Goethe auf den Gestus des Lassens. Das ist ihre Einsicht in das Verhängnis der Form und deren Moral und Unmoral. Wenn auch Form das "Glas" ist, "wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln", so hat doch "jede Form" auch "etwas Unwahres" (Goethe, Schriften zur Kunst).
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