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© Johannes Bauer , Stereotypie der Vielfalt, Computergrafik  

Deutschlandfunk (2011)

Gefühlsabstinenz und Dissonanzpflicht

Wie viel Routine verträgt die Neue Musik?

Von Beginn an kennt Neue Musik den Vorwurf, Gefühlsabstinenz und Dissonanzpflicht würden die kompositorische Praxis im Bann eines isolierten und publikumsfernen Selbstversuchs halten. Selbst heute noch sei die Musik der Gegenwart trotz ihres mannigfaltigen Formenkreises einem Konsonanztabu verpflichtet, das disharmonischen Kompositionsroutinen Vorschub leiste. Lässt sich indes die Bedeutung einer Musik im Zeitalter der Antiquiertheit der Seele überhaupt vom Grad der dissonanten Attacke oder vom Maß des Eingängigen her beurteilen? Weist also der kompositorische Freiraum zwischen dem brüchigen Ausdruck der Ich-Rhetorik und den unerbittlichen Materialexperimenten der Avantgarde nicht zu viele Klang- und Strukturfacetten auf, um exakt entscheiden zu können, was an Neuer Musik eingespielte Gewohnheit, was ästhetische Notwendigkeit wäre?

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​Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra

 

Ein Konzert; ein Violinkonzert; komponiert 1987. Neue Musik also! Oder doch nicht? Diese melodisch simplen Takte aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra: Berühren sie, irritieren sie, verärgern sie? Womöglich sollte man mit Kompositionen solcher Fasson kurzen Prozess machen und sie umstandslos zum Kitsch erklären, zu einer Art Wellness-Sound, regressiv in jeder Note. Gemessen an Neuer Musik, die ihren Namen verdient, wäre man mit einer solchen Wertung immerhin auf der sicheren Seite.

Oder macht es sich eine solche Kritik zu leicht? Wäre nicht auch ein Urteil möglich, das Glass’ Violinkonzert ernster nimmt? Ein Urteil mithin, das in diesem ach so belanglos komponierten Stück eine Musik des „Als-ob“ mithört? Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleichsam eine in Anführungszeichen? Eine Musik somit, die selbstverliebt in sich kreist und mit der kulinarischen Aufbereitung alltäglicher Sequenzen und Kadenzen etwas vom einsamkeitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart zelebriert, wenn nicht gar diagnostiziert? Immerhin zehrt Glass’ Violinkonzert raffiniert vom Kult der emotionalen Gestimmtheit, um diesen Kult und seine melodischen Relikte sofort wieder durch tonal abgegriffene Versatzstücke zu unterlaufen. Musik versagt zugleich, was sie verspricht: Mit dem Resultat einer cool gestylten Softmusic, fast ohne Eigenschaften. Beschreibt diese tönende Hohlraumversiegelung einer diffusen Innerlichkeit nicht einen Grundzustand heutigen Lebensgefühls? Hat demnach eine gewisse Dosis unterkühlter Sentimentalität auch noch in der sogenannten Ernsten Musik unserer Zeit eine Zukunft? Oder ist Philip Glass’ Violinkonzert lediglich ein Dokument der Beschreibung und weniger ein Kunstwerk, sofern sich Kunstwerke - den Prinzipien der Avantgarde gemäß - am fortgeschrittensten Stand der ästhetischen Produktivkräfte zu orientieren haben?

Als Kunstwerk hätte sich gegenwärtiges Komponieren demnach anders anzuhören. Etwa so:

 

Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester

 

So kennt man sie, die Neue Musik, gefühls- und melodieabstinent bis zum Äußersten. Während das Violinkonzert von Philip Glass die melodisch fundierte Ich-Rhetorik als Sprache, als die Sprache voraussetzt, unternimmt Helmut Lachenmanns Ausklang für „Klavier mit Orchester“ eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Die historische Dimension dieses Sprachgrunds auszuloten, sein Werden und Vergehen, und zwar über die Andeutung und den Entzug musikalischer Sinneffekte, darum geht es in Lachenmanns Komposition. Lachenmann interessiert nicht das lyrisch-dramatische Wechselspiel des Konzertanten, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Zielt Glass aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Hat folglich Neue Musik auf der Höhe ihrer Zeit etwas mit dem Unberechenbaren und Unerbittlichen zu tun, fern von allen nostalgischen Ichlegenden und abseits jeder Gefühlsdramaturgie? Handelt es sich demnach bei den 1985 und 1987 entstandenen Kompositionen Lachenmanns und Glass´ um zwei Kulturen von Musik? Um eine wahre und eine falsche? Oder geht es hier schlicht um zwei Wahlmöglichkeiten in einem Katalog vielfältiger Angebote?

Neue Musik also. Von Beginn an kennt sie den Vorwurf, Gefühlsabstinenz und Dissonanzpflicht würden ihre Kompositionen unter dem Bann eines publikumsfernen Selbstversuchs halten. Selbst heute noch sei die Musik der Gegenwart trotz ihres mannigfaltigen Formenkreises einem Konsonanztabu verpflichtet, das disharmonischen Routinen und damit einer resonanz- und seelenlosen Kunst Vorschub leiste. Gäbe es demnach gefälligere Optionen, solche, die das gegenwärtige Komponieren gleichsam betriebsblind ausschlägt? Oder weist das kompositorische Areal zwischen den Extremen einer brüchigen Ich-Rhetorik und den rigorosen Materialexperimenten der Avantgarde bereits zu viele Spielarten auf, um entscheiden zu können, was an Neuer Musik eingespielte Gewohnheit und was ästhetische Notwendigkeit wäre?

 

Bspl. 3: Thomas Adès, Asyla

 

Thomas Adès, Asyla. Geht es in dieser Komposition womöglich um ein therapeutisches Konzept der Enttraumatisierung? So, als gälte es einer unmenschlich gewordenen Musik wieder menschliche, melodiegestützte Proportionen einzuziehen? Und mit diesen Proportionen das Erlebnis einer musikalischen Zeit, die dem Hören zuarbeitet, indem sie auf Bekanntes und Sicheres anspielt? Adès weiß, dass Sinngarantien des Erzählens und Wiedererkennens stressmindernde Faktoren erster Güte in einer gestressten Welt sind. Und doch - oder gerade deshalb - kultiviert Adès den Verschnitt überlieferter Espressivo-Praktiken mit musikgeschichtlichen Beständen. Ohne Gespür für die Spannung zwischen Tradition und Innovation organisiert der Ausdruckswille des Komponisten ein vergreistes Triebleben der Klänge über postmodernen Stiltrümmern. Kein Wunder, dass die Bindungs- und Rückbindungsverfahren dieses neopathetischen Sammelsuriums einer Musik gleichen, in der sich Mahlers und Puccinis späte Träume vom großen Passionato mit Schönbergs schockgrundierten Ekstasen kreuzen: auf anheimelnde Weise freilich, ohne Risiken und Nebenwirkungen.

Gleichwohl ist das Gefälle zwischen einer solchen Alibi-Moderne und so mancher als authentisch klassifizierten Neuen Musik mitunter nicht allzu groß. Klingt nicht eine Vielzahl jüngst komponierter Werke nach dem Trott von Altbewährtem? Warum sollte die Sprache der Neuen Musik nicht wie jede Sprache Klischees produzieren? Insbesondere der expressiv-gestische Tonfall mit seinen eruptiven Ausbrüchen, um den es in dieser Sendung vorrangig gehen soll, ist inzwischen zu einem Idiom verkrustet, das die Codes der Neuen Musik eher verwaltet als sie aufzubrechen. Schocks in Permanenz jedoch nutzen sich ab. Sie werden zu Milieu- und Erkennungssignalen einer Musik, in der ein Zuviel an Rhetorik jede Offenheit erstickt. In dieser Musik geschieht alles, aber nichts ereignet sich. Zumeist scheint es, als fürchte sie nichts so sehr als Leere und Stille. Will man etwas von der Routine zeitgenössischen Komponierens erfahren, ist in erster Linie an den Mainstream dieses gestischen Expressionismus zu denken.

Im Folgenden sollen deshalb drei Beispiele auf ihre expressive Routine hin gehört werden, drei zwischen 1992 und 2005 entstandene Kompositionen, die damit zugleich die Übersicht über einen Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren ermöglichen: nämlich Johannes Maria Stauds Komposition für großes Ensemble A map is not the territory, Johannes Kalitzkes Klavierkonzert Hände im Spiegel und Carsten Hennigs Orchesterstück Massen. Drei Beispiele auch, die aufgrund ihrer unterschiedlichen thematischen Anregungen einen Einblick in den Reibungsgrad zwischen dem expressiven Gestus und dem jeweiligen inhaltlichen Sujet erlauben: mag sich dieses Sujet nun - wie bei Staud - auf die semantische Differenz zwischen Notenschrift und Klanggestalt beziehen oder - wie bei Kalitzke - auf die historische Brechung geschichtlicher und musikgeschichtlicher Traditionen oder schließlich - wie im Fall Carsten Hennigs - auf die naturwissenschaftliche Anlehnung an Theorien der Chaosforschung.

Doch beginnen wir nun mit Johannes Maria Staud.

 

Bspl. 4: Johannes Maria Staud, A map is not the territory

 

Auch wenn der Titel des Orchesterstücks von Johannes Maria Staud A map is not the territory auf semantische Probleme anspielt, auf die Differenz zwischen der Schriftgestalt einer Partitur und deren klanglicher Realisation etwa: Unbehelligt von solchen thematischen Vorgaben wirkt Stauds Komposition aus dem Jahr 2001 wie eine Verspätung wider Willen. Und dies aufgrund ihrer unentwegt expressiv-reflexhaften Gestik, deren ausdruckspsychologische Tradition - ob gewollt oder nicht - eine Bühne dramatisch-traumatischer Assoziationen aufschlägt. Als würde eine von Schönberg her komponierte Musik auf ein greifbares Szenarium der Bedrohung reagieren, ohne zu spüren, dass sich die existenzielle Wucht dieser Bedrohung seit geraumer Zeit zu einer subtileren, anonymeren Schwere der Lebenswelt gewandelt hat. Während es in Schönbergs musikgewordenen Seismogrammen der Angst und der Katastrophe noch um den Zerfall des abendländischen Subjekts und dessen Humanitätsversprechen geht, wirken die expressiven Gesten heutiger Kompositionen meist wie eine perfekt demonstrierte Materialbeherrschung. Als hätte sich der existenzialistische Habitus nach dem Grauen zweier Weltkriege und einer beispiellosen Barbarei der Vernichtung inzwischen zu einer beliebig reproduzierbaren Konfektionsware des Ausdrucks verbraucht.

Es scheint, dass der Duktus einer zerklüfteten Gegenwartsmusik der Rupturen und Schnitte allmählich an Substanz und Gehalt verliert. Genauer: Der Duktus einer von Stößen durchbebten, unentwegt aufrüttelnden Musik und damit der Duktus einer Musik, die über die Ferne hinweg an das Entschlossenheitspathos und an die „Befindlichkeit“ der „Angst“ in Heideggers Sein und Zeit erinnert: an die Angst, die die „Verfallenheit“ des Daseins an die Konvention des „Man“ durchbricht. Wollte nicht auch Schönbergs künstlerisches Ethos aus dem Entsetzen der Angst heraus die Mauer der Gleichgültigkeit zum Einsturz bringen? Die Mauer jenes „Man“ also, dem „Jeder […] der Andere [ist] und Keiner er selbst“? Mittlerweile freilich steigern die angespannten Mittel gestischer Expressivität die Verbissenheit, um jeden Preis an der heroischen Phase der Neuen Musik festzuhalten. Und dies, obwohl heute per se weder Attacke noch Unerbittlichkeit, weder Dissonanz noch Komplexität den Bonus ästhetischer Qualität garantieren, das heißt die Fühlungnahme des Komponierten mit den Belangen der Zeit. Konsonanzen können zuweilen dissonanter klingen als die heftigsten Dissonanzen und Komplexität liegt nicht selten in einer Reduktion der Mittel.

Aber hören wir weiter. Johannes Kalitzkes 1992/93 entstandene Komposition für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten mit dem Titel Hände im Spiegel setzt auf die selbstreflexive Erkundung der Gattung des Solo-Konzerts und damit auf die Erkundung einer musikalischen Gattung des 18. und 19. Jahrhunderts. Die daraus resultierende Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sucht Kalitzke hauptsächlich durch Vernetzungen, Kontrastierungen und Spiegelungen unterschiedlicher musikalischer Epochen bewusst zu machen. So sollen insbesondere diverse Stilfacetten der Alten, subjektlosen und der Neuen, subjektfernen Musik den Status des klassisch-romantischen Solokonzerts und die ihn tragende Idee des Virtuosen historisch brechen und als eine Station der Geschichte transparent werden lassen. Ohne allerdings im „Reichtum“ der Virtuosität, so Kalitzke, das „Gewicht gegen jene Austauschbarkeit des Individuellen“ zu verleugnen, die „uns heutzutage allerorten droht“.

„'Die entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt', sagt Berlioz zum Abschied. Es ist ein blutiges Jahr.“ Auch wenn diese von Kalitzke zitierte Strophe aus Hans Magnus Enzensbergers Gedicht auf Chopin und die Revolution von 1848 eine aufwühlende Musik nahelegt: Zu hinterfragen bleibt, wie Kalitzke die historische Brechung der Gattung „Solokonzert“ umsetzt. Komponiert er diese Brechung doch überwiegend nach dem Muster tragischer Zerrissenheit: als eine Musik der Bedrohung und des Sich-Behauptens in einer Zeit, in der uns, so der Komponist, „die Ziele entgleiten“.

 

Bspl. 5: Johannes Kalitzke, Hände im Spiegel

 

Kann nun der Zustand der Bedrohung, von dem Kalitzke spricht, heute überhaupt noch mit der Kollisionsdramatik des Solokonzerts und mit der expressiven Attitüde des Kampfes verhandelt werden? Bleibt die Sinnfolie in Kalitzkes Komposition, die Sinnfolie des leidenden, gefährdeten, seiner Ausdruckspotenz nach jedoch merkwürdig stabilen Subjekts nicht hinter einer Welt zurück, in der sich das fragile Ich im Zug seiner globalen Vernetzung zunehmend punktualisiert? Wobei sich diese Punktualisierung äußerst unheroisch vollzieht; weit entfernt jedenfalls vom Ideal eines solistisch souveränen Subjekts, das sich im Kräftemessen mit dem Weltlauf noch als dessen Mitte begreifen konnte. Oder anders formuliert: Verfällt Kalitzkes Klavierkonzert nicht allzu reaktiv dem Bann der Katastrophe? Auf Kosten einer antitragischen Hellhörigkeit gerade auch in Richtung neuer ästhetischer Strategien? Sind das konzertante Pathos der Konflikte, das Streit- und Dialog-Prinzip von Solo und Orchester und mit ihm das heroisch-solistische Subjekt nicht längst mit jener Klarheit und Personalisierbarkeit der Widersprüche untergegangen, worin sich Beethovens Fünftes Klavierkonzert und Hegels Phänomenologie des Geistes so nahe waren?

Kommen wir nach so vielen Fragen nun zu unserem nächsten Hörbeispiel. Dass gesamtgesellschaftliche Paradigmenwechsel auch die Musik nicht unberührt lassen, ist unbestritten: Paradigmenwechsel wie sie etwa aufgrund der Einsicht in flache Hierarchien oder in die Selbstorganisation von Systemen relevant werden. Man denke nur an die Erforschung des Phänomens der Schwärme als einer instinkthaften Intelligenz ohne Leitinstanz, an die Erkenntnis der dezentralen Organisation des Gehirns oder an die Entwicklung des azentrischen Internets. Dass solche Theorie- und Praxismodelle auch kompositorisch Wirkung zeigen, liegt auf der Hand. Beispielsweise in Carsten Hennigs Orchesterstück Massen aus dem Jahr 2005, das sich von den vielschichtigen Bewegungsmustern in Sandstürmen und Vogelschwärmen inspirieren ließ.

Freilich stellt sich auch beim Hören von Hennigs Orchesterwerk die Frage, ob das über Jahrzehnte hinweg präsente Übermaß des gestischen Expressionismus mittlerweile nicht jede Komposition dem Makel des allzu Bekannten und Auswechselbaren aussetzt: Eben weil der schal gewordene Sprachfundus des Schocks und der Attacke jedes Sujet austauschbar werden lässt, mag es nun naturwissenschaftlich, historisch oder biographisch gefärbt sein. Dazu kommt noch, dass die Übertragung von Prozessen des deterministischen Chaos auf den traditionellen Orchesterapparat zusätzlich jahrhundertealte Aufführungs- und Rezeptionsgewohnheiten zum Schwingen bringt. Mögen die gängigen Instrumente vom Kontrabass bis zur Piccoloflöte auch noch so sehr mit innovativen Spielweisen bedacht werden: ihr Material und ihre Geschichte geben ein Repertoire an Ausdruck vor, das nur bedingt zu überschreiten ist. Und dass überdies ein Großteil neuerer Kompositionen immer noch für den philharmonischen Konzertsaal geschrieben wird, verlängert wohl am deutlichsten den klassischen Typus des musikalischen Frontalunterrichts aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Und so gehen denn auch die hohen Dichten und Fluktuationen der Massen und Schwärme in Hennigs Komposition im emotionalen Eindruck einer Erlebnis- und Erregungsmusik der Erschütterung, der Anstrengung und des Standhaltens unter.

 

Bspl. 6: Carsten Hennig, Massen

 

Wie wäre nun aber das Veralten der expressionistischen Geste in der Musik der Gegenwart zu verstehen? Glauben wir manchen Katastrophentheoretikern, dann befinden wir uns derzeit im Übergang vom Ideal des Homo humanus zum Idol des technisch optimierten und technisierten Menschen in einem Zeitalter der Antiquiertheit der Seele und der Austreibung aus dem „Garten der Natur“. Beharrt womöglich deshalb der Mainstream Neuer Musik in einer Art bewusst-unbewusstem Gegenprogramm auf dem expressiven Subjekt-Modell und seiner Rhetorik des Standhaltens? Fraglich ist nur, ob eben auch im Fall der Neuen Musik katastrophentheoretisch gedacht werden muss. Vielleicht liegt einer der Gründe für das Überlebte und Ermüdende einer gestisch-eruptiven, attackengeschärften Musik eher darin, dass sie die Anspannungen und Belastungen einer Welt des Funktionalismus und der Erschöpfung in ihren eigenen komponierten Anspannungen und Belastungen nicht mehr verwandeln, sondern nur noch verdoppeln kann.

Es ist nicht allzu lange her, dass Neue Musik ihrer philosophischen Doktrin nach das Grauen der Welt zu tragen und ihm standzuhalten hatte. Einzig in dieser ethisch vorentschiedenen Bürde lag ihre Rechtfertigung. „Um des Menschlichen willen“ hatte sie - so Theodor W. Adorno - die „Unmenschlichkeit […] der Welt“ zu „überbieten“. Dass die Gleichsetzung von Dissonanz und Katastrophe freilich oft genug ein Übergriff des Begriffs war, musste im Sog der Traumatisierung nach 1945 zwangsläufig überhört werden. Überhört wurde damit aber auch eine massive Überlastung der Musik, und dies zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Wem käme wohl in den Sinn, die späten Sonaten Domenico Scarlattis abzuqualifizieren, weil in ihnen nichts vom Erdbeben von Lissabon zu vernehmen sei?

Gewiss, von den singulären Katastrophen des 20. Jahrhunderts konnte auch die Musik bei Strafe ihrer Harmlosigkeit nicht unberührt bleiben. Zudem musste sie in einer immer abstrakter, technischer und schneller werdenden Welt ihre eigene Reaktionsgeschwindigkeit und Widerstandsfähigkeit erhöhen, wollte sie nicht zur puren Zerstreuungs- und Nebenbei-Musik verkommen. Dennoch hat das Dogma vom Katastrophenethos zu viele falsche Fährten gelegt und dem Komponieren wie dem Hören Neuer Musik bis heute einen Bärendienst erwiesen. Und ist nicht auch noch der in dieser Sendung kritisierte altneue Expressionismus ein Nachfahre jener Weltanschauungsmusik, die in jedem ihrer Takte seismographisch reagieren zu müssen glaubt und dazu verführt, den Dissonanzgrad ihrer schockhaft dramatischen Impulse mit der Last und der Misere der Welt kurzzuschließen? Dass Helmut Lachenmann immer wieder von der „Heiterkeit“ seiner Musik spricht, mag zu denken geben.

Sicher, neue Sprachen lassen sich nicht per Dekret erfinden und etablieren. Vermutlich aber wäre fürs Erste schon einiges mit der Sensibilisierung für die Routine der hier und heute praktizierten Sprache gewonnen. Freilich ist an dieser Stelle der Einwand ernst zu nehmen, die Kritik am expressiven Idiom der Gegenwartsmusik und die daraus resultierenden Wertungen seien einzig dem subjektiven Urteil des Autors zuzuschreiben. Außerdem verkenne diese Kritik notwendigerweise zahlreiche Feinheiten und Unterschiede in der Vielfalt des Komponierten. Dennoch wäre zu bedenken, dass auch das Subjektive eine Spur an Objektivität und Wahrheitsgehalt in sich trägt. Und vielleicht wäre es diesem Wahrheitsgehalt nach nicht völlig absurd, einem Großteil der Neuen Musik mehr Entdramatisierung und Gelassenheit zu wünschen, mehr Schwebe, mehr Stille und damit weniger Ich-Rhetorik und Willensemphase.

Vielleicht könnten dadurch einige der Vorurteile über Neue Musik durch die Musik selbst revidiert werden. Und vielleicht ließen sich erst dann - abseits der Sirenen des Schreckens und abseits vom expressiven Gestus - zahlreiche hellere Kontinente des Komponierens entdecken, ohne im seichten Gewässer des Trivialen und Belanglosen zu stranden: Durch eine Musik, die ahnt, dass eine Ästhetik des Schreckens immer auch ein Stück weit mit der realen Gewalt paktiert, und durch eine Musik, die von der Illusion geheilt ist, Kunst könne mit den Gräueln der Wirklichkeit Schritt halten. Das Neue an dieser Neuen Musik wäre ein Sich-ereignen-Lassen und damit ein Umkreisen des Unverfügbaren, das sich nicht mehr umstandslos auf den Subjektstatus des Menschen und seine Nutzungstechniken zurückrechnen lässt. Denkbar, dass diese Musik mit ihrem Abschied vom anthropozentrischen Spiegel und ihrem Weg ins Offene derjenigen am nächsten kommt, die - so der Komponist Morton Feldman - den Tönen ihren Lauf lässt, indem sie ihnen zu- und nachhört; nicht um zu „komponieren“, sondern um „Klänge - frei von jeder kompositorischen Rhetorik - in die Zeit zu projizieren“ und Stücke zu schreiben, die „Dingen“ gleichen, die „sich aus sich heraus entwickeln“.

 

Bspl. 7: Morton Feldman, Piano and String Quartet

 

 

Musikbeispiele

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Bspl.   1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra [Tr. 2, 0´00 - 2´47][2´47]

              Gidon Kremer, Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi

              (Deutsche Grammophon 437 091-2)

 

Bspl.   2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00 - 2´13] [2´13]

              Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös,

              Massimiliano Damerini

              (col legno 31862)

 

Bspl.   3: Thomas Adès, Asyla [Tr. 2, 3´03 - 5´54][2´51]

              Simon Rattle, City of Birmingham Symphony Orchestra

              (EMI Classics 5 56818 2)

 

Bspl.   4: Johannes Maria Staud, A map is not the territory [Tr. 1, 0´00 - 3´58][3´58]

              Klangforum Wien, Sylvain Cambreling

              (KAIROS 0012392KAI)

 

Bspl.   5: Johannes Kalitzke, Hände im Spiegel [Tr. 2, 12´37(aufbl.) - 16´13][3´36]

              SWF-Sinfonieorchester; Leitung: Lothar Zagrosek

              (col legno  31875)

 

Bspl.   6: Carsten Hennig, Massen [Tr. 5, 1´16 - 4´52][3´36]

              Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Martyn Brabbins

              (WERGO 6565 2)

 

Bspl.   7: Morton Feldman, Piano and String Quartet [Tr. 1, 0´00 - 4´00][4´00]

              Aki Takahashi, Kronos Quartet

              (Nonesuch Records 7559793202)

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