top of page
DSCF3591.JPG

Peter  Gülke

​

»Triumph  der  neuen  Tonkunst«

Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld

​

(Bärenreiter/Metzler 1998)

„Wenn irgend etwas dem Verfasser beim Schreiben immer neu bestätigt wurde, dann dessen asymptotischer Charakter, hier angeschlossen der Zwang, zunächst erfolgversprechende Erklärungsmodelle später zurückzunehmen auf die Funktion heuristischer Hilfskonstruktionen.“

 

Gülkes methodische Rechenschaft im Vorwort seines Buchs ist kennzeichnend für einen Autor, dem sich die Analyse der drei letzten Mozart-Symphonien weder auf philologische Selbstgenügsamkeit beschränkt noch in der Deutungsschwärmerei der Abstraktion verliert. Gülke nähert sich seinem Gegenstand stattdessen in einer fein abgestimmten Bewegung zwischen Material und Gedanke. Weder macht er sich das Argument zu Eigen, Musik vom Rang Mozarts erübrige „alles spekulative Drumherum“, noch nimmt er das Körperhafte in Mozarts „musique maternelle“ zu leicht, um es einer philosophischen oder musikalischen Idee zu opfern. Selbst das Aufspüren möglicher Motiv-Kassiber in Mozarts Werk muss sich bei Gülke nicht ständig vor dem Gerichtshof übergreifender Kompositionsgesetze rechtfertigen. Darin ist seine Untersuchung das Gegenteil von Johann Nepomuk Davids Versuch, die Jupiter-Symphonie in das Schema eines zehntönigen Cantus firmus zu pressen.

        Gülke weiß, wie schnell subsumierende Raster bei Mozart in die Irre führen; ja dass erst jenseits solcher Raster Mozarts Aktualität zum Vorschein kommt: sein antisystematischer Zug. Ihn arbeitet Gülke am Offenen, Ungedeckten, Irregulären der späten symphonischen Werke heraus. Nachdrücklich an den Ausbrüchen der langsamen Sätze der Es-Dur- und g-Moll-Symphonie oder am dritten Thema des ersten Satzes der C-Dur-Symphonie. Ein Thema, das den hehren Tonfall in die Niederungen des Buffonesken gleiten lässt, ohne dass das Buffoneske für Mozart auch nur annähernd etwas mit Niederung oder Ranggefälle zu tun hätte. Überhaupt liegt ein Schwerpunkt des Buchs darin, bewusst zu machen, was nach Mozart bis in die jüngste Moderne hinein verloren gegangen war: die Sensibilität für die Gewalt der Vermittlung und des Systems. Indem Gülke das durch keine Oberbegriffe zu Glättende in Mozarts Musik umkreist, macht er unter der Hand klar, dass es vor allem der Eros in Mozarts Musik ist, der uns überfordert, weil er weder nach hohen und niederen Ressorts trennt noch ausschließt, was dem ethischen Vernunftideal und dem Monopol vermeintlicher Ich-Stärke zuwiderläuft.

        Natürlich wusste man schon vor Gülkes Buch von Mozarts Verzauberung des Formelhaften, seinen Grenzsituationen komplexer Affektschichtung, seiner spirituell aufgehellten Welthaltigkeit oder von der traumwandlerischen Sicherheit seines Komponierens. Gülke aber materialisiert solche thesenhaften Leitgedanken in der Struktur der Werke und bringt sie dadurch erst zum Sprechen. Und mit ihnen die Unterscheidung der tonsprachlichen Ebenen, die Spannung des „Galanten“ und „Gelehrten“, die innermusikalische Reflexion des „impliziten Autors“ oder Mozarts „donjuaneskes Verhältnis zu den musikalischen Objekten“. Müßig zu erwähnen, dass das Kapitel „Zeit- und Lebensbezüge“ Kurzschlüsse zwischen Leben und Werk vermeidet. Wenn Gülke auf Mozarts Vater-Trauma zu sprechen kommt, entfaltet er den Konflikt anhand einer detailliert recherchierten Motiv-Rhetorik, um den „Dialog zwischen Vater und Sohn“ werkanalytisch in der Musik zu enttarnen.

         Anlässlich Mozarts schon von zahlreichen Zeitgenossen missverstandener „Stillosigkeit“ der Mischungen geht es Gülke um das Flüssige in Mozarts Kompositionen: um die Vielfalt ihrer Charaktere. Dem wird Gülke auf überzeugende Weise gerecht. Und damit der Modernität des 18. Jahrhunderts, das den Verstand noch in seiner fließenden und bewegten Rasanz der Eindrücke und Vorstellungen begreifen konnte. Gülke zeigt anlässlich der späten Symphonien, wie sehr der Äther von Mozarts Klangwelt in einer Logik des Subkutanen liegt; in einer dichten Konstruktion zwar, die gleichwohl nie strategisch ausgestellt wird, weil ihr die affektiv-gestischen Einzelmomente der Klangrede gleichrangig und in Freiheit korrespondieren. Zusammenhang aber stiften die Momente, indem sie sich wechselseitig beleben, ohne durch eine vorgeordnete Idee von oben herab dirigiert zu werden. Das ist Mozarts „Vertrauen in die Struktur“, von der Gülke spricht, eine Struktur, die von unten her ansetzt - im Bund mit den so genannten niederen Erkenntnisvermögen und ihrer Sensibilität für die Logik der Passion und des Unbewussten. Form ohne die Gewalt der Formung zu realisieren: dieses Paradox hat Mozart wie kein anderer gelöst. Ihm ist der maternale Grund des Materials präsent geblieben, den Gülke insbesondere für den Beginn der g-Moll-Symphonie ausleuchtet. Anlass genug, dass in Gülkes Arbeit Autoren wie Hamann, Herder oder Rousseau eine zentrale Rolle spielen.

        Selbstverständlich muss sich Gülke dem Hof der Deutungen um die symbolgeladene Zahl 3 stellen, die für Mozarts Trias von 1788 zu einer Art Glaubensbekenntnis der Auslegung geworden ist. Mit der Ideengeschichte der Aufklärung bestens vertraut, versteht auch Gülke die drei Symphonien als „freimaurerischen Dreischritt“, wenngleich mit „aller gebotenen Vorsicht“:

„die Es-Dur-Sinfonie als überwiegend ‚anonyme’, überkommene Institution, die g-Moll-Sinfonie das auf sich gestellte, sich selbst suchende Subjekt, die Jupiter-Sinfonie in der Licht-Tonart C-Dur als lnitiation“. Wobei „die Freimaurer-Symbolik als spezieller (...) Regelkreis (erscheint)“, „insofern der Dreischritt der Sinfonien zu Bezugnahmen auch auf die philosophische Triade These-Antithese-Synthese oder die Dreiheit Bewußtsein-Selbstbewußtsein-Vernunft im Verständnis Hegels einlädt“.

 

Auch wenn, wie Gülke schreibt, die Jupiter-Symphonie, speziell deren Finale, unverkennbar summenhafte Züge aufweist: ob Mozart, was zielorientierte Entwicklungen anbelangt, nicht doch eher Kant nahe steht als Hegels geistverbrieften Stufungen und Steigerungen, namentlich der kampfgegründeten Entwicklung des Selbstbewusstseins aus der Phänomenologie des Geistes? Kants „Als ob“-Regulativen also und seiner Skepsis gegenüber selbstgewissen Zweck- und Vollendungssicherheiten. Der hinterfragende Tonfall gegen Ende des Jupiter-Finales jedenfalls ist unüberhörbar. Außerdem machen Gülkes Analysen selbst immer wieder klar, dass Mozarts von absolutistischer Bevormundung freie, selbstbewusste Individualität noch nicht auf die Behauptungstaktik einer geistfixierten Subjektmacht setzen muss; sein antitragischer Weltentwurf noch nicht auf den Fluchtpunkt des Ideals oder auf die Rendite sittlicher Läuterung. Mozarts Musik kennt keine sehnsüchtige Erinnerung an Vergangenes auf Kosten des Gegenwärtigen und keine Vertröstung auf Zukünftiges. Wohl aber die Ungeduld der Phantasie und das geschichtlich zündende Feuer des Augenblicks am Vorabend der Französischen Revolution, wie Gülke dies bis in den Schaffensprozess hinein nachweist. Als „Historie ohne Historizität“ charakterisiert seine Studie deshalb zu Recht das Jupiter-Finale, in dem Vergangenes weder zum Überwundenen noch neu zu Belebenden wird.

        An manchen Stellen dieses geistreichen, weil antidogmatischen Mozart-Buchs wünscht man sich die Diskussion mit dem Autor allein schon aus purer intellektueller Neugier. Etwa um zu erfahren, wie Gülke einen anderen Aspekt an Mozarts symphonischer Trias reflektieren würde, den Widerhall des Ständestaats nämlich. Zumal vor dem sozialkritischen Hintergrund des Figaro und der drei ständischen Tanzidiome im Don Giovanni. Eine Reflexion vielleicht unter Engführung zweier Argumentationsstränge des Autors, als da wären: das Pöbel- und das Freimaurermotiv. Nicht nur dass Kant, Schiller oder Fichte das Wort vom „Pöbelhaften“ allzu schnell von den Lippen geht, sobald sie auf den geistprovozierenden Widerstand des Sinnlichen zu sprechen kommen, und worauf Gülke hinweist. Mozarts philosophische Zeitgenossen verbinden darüberhinaus den plebejischen Triebgrund des Sinnlichen auch noch oft genug mit der „Triebcanaille“ der „unteren Klassen“. Rumort aber deren Stoßkraft nicht in zahlreichen Takten von Mozarts spätem symphonischen Zyklus? Als eine Facette seiner leidenschaftlichen Physiognomie? Damit würde sich die finale Gewichtung des Zyklus mit dem Jetzt eines parataktischen, gleichgeordneten, geschichtlich brisanten Tableaus aufladen, in sich bewegt und politische Beweglichkeit signalisierend, ja zu ihr drängend. Wobei jene gleich offene wie geheime Viertonfigur, die Mozarts letzte Symphonien durchzieht, zum Subtext einer humanitären Formel wird, in der sich freimaurerische Philanthropie und aufklärerisches Menschheitspathos kreuzen.

        Bleibt abschließend nur zu sagen, dass Gülkes Buch zum Besten gehört, was es derzeit über Mozart zu lesen gibt. Und was wäre von einem Mozart-Buch Besseres zu erwarten, als durch seine Lektüre Mozart „kompetenter und genauer bewundern“ zu können als zuvor?

​

Johannes Bauer

​

​

bottom of page