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Südwestrundfunk 1999

"Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet"

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Goethe und Mozart

Aspekte einer Wahlverwandtschaft

Goethes musikalische Sprache. Worin könnte sie liegen? Hören wir Goethe selbst zu, der anlässlich einer Charakterisierung des Griechischen und Lateinischen un­terderhand sein eigenes Sprachverständnis formuliert.

Welch eine andre wissenschaftliche Ansicht würde die Welt gewonnen haben, wenn die griechische Sprache lebendig geblieben wäre und sich anstatt der lateinischen verbreitet hätte. (...) Das Griechische ist durchaus naiver, zu einem natürlichen, heitern, geistreichen, ästhetischen Vortrag glücklicher Naturansichten viel geschickter. Die Art, durch Verba, beson­ders durch Infinitiven und Partizipien zu sprechen, macht jeden Aus­druck läßlich; es wird eigentlich durch das Wort nichts bestimmt, bepfählt und festgesetzt, es ist nur eine Andeutung, um den Gegenstand in der Einbil­dungskraft hervorzurufen. Die lateinische Sprache dagegen wird durch den Gebrauch der Substantiven entscheidend und befehlshaberisch. Der Be­griff ist im Wort fertig aufgestellt, im Worte erstarrt, mit welchem nun als einem wirklichen Wesen verfahren wird.

 

Hier liegt Goethes Poetik programmatisch vor uns: ihre Ablehnung des ‘Befehls­haberischen’ und ‘Erstarrten’ der Sprache. Namentlich das Wort vom „bepfählen“ zielt gegen eine Sprachgewalt, die die Pflöcke des Bezeichnens und Kennzeich­nens imaginationsblind in das Buch der Welt rammt. Goethe dagegen will die Sprache verflüssigen. Er misstraut der Besetzungs-, der Besatzungskraft des Satzes den Dingen und der Welt gegenüber. Und er misstraut der verkürzten Entschei­dungswillkür des Urteils als einem gegenpoetischen Schwergewicht.

       Gebündelt finden sich solche Motive schon im Werther. Eine ‘herabgeor­gelte’ Satzperiodik und die „gewöhnliche Terminologie“ der Wortschablonen werden ebenso missbilligt wie jene sittliche Selbstgefälligkeit, die die Kausalketten gottgleich überschauen will, um sie im Urteil über Gut und Böse stillzustellen.

Daß ihr Menschen (...) gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! (...) Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein.

Grundiert wird die Wertschätzung der Gefühle und Passionen und ihr entregelter sprachlicher Ausdruck von einer Grammatik der Psyche, die eher stockt und ab­bricht, als ihre Leidenschaft in falscher Verbindlichkeit einzudämmen. „Ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrücken“. So richtet sich die große Passion gegen die tödliche Konvention der Sprache und ihre Moral- und Sinnvereisungen.

Mozart, Symphonie Nr. 25 g-Moll, KV 183, 1. Satz, T. 81-128.

Das Starre, Verkrustete eindeutiger Zuordnungen im Satzgefüge aufzubre­chen, daran liegt Goethe. Seine Pfingstzeit der Sprache ist eine Antwort auf das Klischee; ein Aufbrechen von Sprachgefängnis und Wortgittern gemäß der De­vise: „Und umzuschaffen das Geschaffne, / Damit sichs nicht zum Starren waffne“. Er will die Sprachelemente aus ihrem Gleichgewicht bringen - hin zu ei­ner eher musikalischen Logik assoziativen Gleitens, ohne sich im Ordnungslosen zu verlieren. Der Beginn eines Gedichts aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Ta­geszeiten zeigt diese gleitende Logik in Vollendung.

Weiß wie Lilien, reine Kerzen,          
Sternen gleich, bescheidner Beugung,           
Leuchtet aus dem Mittelherzen         
Rot gesäumt die Glut der Neigung.

   

Nicht nur ein erstes Hören und Lesen sucht hier vergebens nach einem an gängige Satzmuster gebundenen Sinn in Mustersätzen. Zumal die Tatsache, dass es sich hier um ein Bild „frühzeitiger Narzissen“ handelt, erst aus dem zweiten Teil des Gedichts ersichtlich wird. Zwar lassen sich das Prädikat „leuchtet“ und das Sub­jekt „Glut der Neigung“ ausmachen. Die Klärung eines Objekts jedoch stößt auf Schwierigkeiten. Die Reihung „Weiß wie Lilien, reine Kerzen, / Sternen gleich, bescheidner Beugung,“ ist als schwebendes Attribut mit dem Folgenden äußerst leicht verbunden. Außerdem irritiert eine weitere Eigentümlichkeit von Goethes Spätstil: seine Vorliebe für unkonventionelle Genitivbildungen: „Sternen gleich, bescheidner Beugung“, heißt es. Und schließlich folgt noch die außergewöhnliche Wortverdichtung „Mittelherzen“. All dies verwandelt sich in einen mehrschichti­gen Bildfluss, dessen gleitende Logik insofern etwas mit Musik zu tun hat, als Mu­sik sich von der Funktionslogik löst, ohne unwahr zu werden.

       Man kann in diesem Zusammenhang von einer Auflösung der „bepfählen­den“ Sprache im Fließen der Reflexions- und Affektbahnen sprechen. Vergleich­bar Mozarts Zeitverlauf, in dem melodische Gestalten ‘auseinander hervor und in­einander untergehen’ - „doch ohne thematische Kontraste, die dem Fortgang Halt gäben, Einhalt geböten“. So wie im ersten Satz des Klavierkonzerts KV 595 unter Zurücknahme des solistischen Ausstellungscharakters der reihende Fluss der Themen und Motive in Gang gehalten wird, ohne dass er durch Widerstände ge­staut oder durch Kollisionen dramatisiert würde. Basierend auf Mozarts Verfahren der Phrasenüberlappung, einer schwebenden Metrik, die oft erst rückwirkend Zä­suren erkennen lässt.

Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur, KV 595, 1. Satz, T. 242-Ende.

 

Mit dem fließenden Duktus hängt zusammen, dass der erfüllte Augenblick bei Goethe und Mozart nicht erarbeitet wird, sondern plötzlich in kurzen ausdrucks­dichten Motivgestalten erscheint. Sie haben etwas von einer Fata Morgana an sich: als Erscheinung einer verzauberten Ordnung. In Goethes West-östlichem Divan wäre dafür das Gedicht Liebliches zu nennen. Ein Gedicht, das inmitten der thüringi­schen Landschaft - in der Erstfassung steht noch der Name Erfurt - eine mor­genländische Vision aufscheinen lässt.

Was doch Buntes dort verbindet       
Mir den Himmel mit der Höhe?        
Morgennebelung verblindet   
Mir des Blickes scharfe Sehe.

Sind es Zelte des Vesires,     
Die er lieben Frauen baute?  
Sind es Teppiche des Festes, 
Weil er sich der Liebsten traute?       

Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt
Wüßt' ich Schönres nicht zu schauen;          
Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras          
Auf des Nordens trübe Gauen?

An dieser Stelle gerät die Vision zur Fülle der Gegenwart mit dem Aussetzen des Urteils in einer Frage des Erstaunens. Die Sprache weckt nicht nur Unbekanntes im Bekannten, sie öffnet über das neue Wort auch neue Bahnen der Imagination. Bereits in der ersten Strophe:

Was doch Buntes dort verbindet       
Mir den Himmel mit der Höhe?        
Morgennebelung verblindet   
Mir des Blickes scharfe Sehe

 

steigern drei artifizielle Wortmodulationen - „Morgennebelung“, „verblindet“, „Sehe“ -, was schon die Eingangszeilen mit ihrem heiter angetönten und schwe­benden Bild empfinden lassen: mehr die Luftigkeit einer Impression denn eine be­schreibungsgenaue Aussagenlogik.

           Goethes Zaubervokabeln entsprechen dem Entwurf einer Sprache, die die Worte auf neue Bedeutungshöfe und Klangfarben hin ausleuchtet. Gegen das Wiederkäuen von Wortkennmarken. Zaubervokabeln wie die der Komposita „Pappelzitterzweige“, „Glanzgewimmel“ oder „Mittelherz“. So umwirbt Goethes Sprache das Wort, das im erfüllten Augenblick „tausend Verbindungen schlägt“. Vor allem in solchen Verdichtungen, vor deren Bedeutungsfülle die Deutung schier verzweifelt. Von einer Dichte wie in Goethes Wortspiel: „bogenhaft in Weile“. Dieses Wortspiel begegnet uns im Bild jener heftig wirkenden Pfeile von Liebe und Leidenschaft, die „Gehetzt in Eile, bogenhaft in Weile / In Tausend­fält'gem Wollen sich vermischen“. Jede Philosophie dürfte Goethe um die Tiefen­schichtung dieser Figur beneiden, deren Zauber doch in keinem Philosophem aufgeht. In ihr blitzt der Bogen Amors ebenso auf wie die trügerische Ruhe, die im Irrgarten der Leidenschaft immer schon unmerklich in bedrohlich Bewegung übergegangen ist. Eine Stelle von beispiellosem Ausdruck, die an solche Passagen Mozarts erinnert, in denen ein unerhörter Moment die Zeit staut und mit der Zeitenfolge auch den erklärenden Begriff hinter sich lässt. Etwa im E-Dur-“Ter­zettino“ aus Così fan tutte, einem ebenfalls hintersinnigen Tableau der Leidenschaft. Hier entrückt ein trugschlusshafter Schwebeklang auf „desir“ das Verlangen in eine Wunschlandschaft, die das Wort auf eine unendliche Reise schickt, ohne doch vorsprachlich zu sein. Indem der mehrmals wiederholte präzise Traumklang die Tonalität aufs Bodenlose hin öffnet, verrätselt er Sehnsucht und Begehren zu ei­ner in Natur gespiegelten Meteorologie der Seele: verspannt zwischen Erfüllung und Versagung.

Mozart, Così fan tutte, 1. Akt, Nr. 10 (Terzettino).

Goethes subtile Wort- und Satzirritationen erinnern an Mozarts Kunst der minimalen Differenz mit maximaler kompositorischer Wirkung. An Mozarts fein­nuancierte Asymmetrien der Periodik und deren Balance oder daran, wie mit einer einzigen harmonischen Rückung, mit einer einzigen Tonkonstellation unerhörte Ausdruckswechsel ausgelöst werden können. Zum Beispiel im zweiten Satz des C‑Dur-Klavierkonzerts KV 467. Einem Satz, dessen scheinbare Leichtigkeit auf einer ungewöhnlichen metrischen, harmonischen und formalen Struktur beruht. Schon die chromatisch eingefärbte Kantilene der gedämpften Streicher über durchgängi­ger Triolen-Bebung und einem Pizzicato-Puls der Violoncelli und Kontrabässe öffnet ihr kantables Strömen auf einen hochdissonanten Grund hin. So scharf je­denfalls, dass Leopold Mozart diese Klänge im Ohr gehabt haben mag, als er sich die ausgefallenen Harmonien dieses Konzerts mit Kopistenfehlern zu erklären suchte. Dazu kommt eine irreguläre, überwiegend ungeradtaktige Periodik und eine Form, die ihren Bauplan verschleiert. Mag das Andante auch schemenhaft auf das Modell des Sonatenhauptsatzes hin durchlässig werden, weit mehr wird es durch das Ineinanderfließen von Improvisation und Konstruktion charakterisiert. Dass das Irreguläre stets präsent ist und doch in einem ausgewogenen Sich-Heben und -Senken gehalten wird, lässt an die ständigen Abweichungen in Goethes aus­tarierter Sprache denken. Und noch, dass eine rhythmisiert fallende Tonleiter den Ausdruck des erfüllten Augenblicks annimmt wie in Takt 17, hängt mit dem vo­rangehenden Dissonanzbereich zusammen und damit, dass die Dissonanzen gleichsam nur aufblitzen. Es handelt sich hier um eine der großen Stellen Mozarts: eine Geste der Gelassenheit durch Spiritualisierung einer Formel. An diesem Satz kann man studieren, wie eine dissonant und dur-moll-verschattete Binnenstruktur den Eindruck äußerster Klarheit gewinnt. Einer Klarheit, die sich am ehesten mit dem Begriff des Heiteren umschreiben lässt: einem aufgehellten, wenngleich me­lancholisch grundierten Bewusstsein, von dem es in Goethes Wanderjahren heißt: „Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön“(Wanderjahre I, S. 76).

Mozart, Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur, KV 467, 2. Satz.

Goethes neue, gewagte Wort- und Satzvarianten widersetzen sich dem Schema­tismus der Sprache. Und welch bizarre Varianten gibt es da nicht zu ent­decken. Varianten wie „Unglücksbotschaft häßlicht ihn“; „eigensinnig zackt sich Ast an Ast“; „das Schaf bewollt sich dran“; „gehörnte Herde braunt“; „auf und nieder­tröstend“; „hinfeuchten“. Varianten, die oft genug in Serien ohne Binde­wörter oder Prädikate eingelassen sind. Serien wie denen am Ende des Zweiten Faust - „Waldung, sie schwankt heran, / Felsen, sie lasten dran, / Wurzeln, sie klammern an“, oder denen der begeisterten Sprache des Pater ecstaticus: „Ewiger Wonne­brand, / Glühendes Liebeband, / Siedender Schmerz der Brust, / Schäu­mende Gotteslust“; schließlich solchen von nur noch assoziativer Bindung: „Worte, die wahren, / Äther im Klaren, / Ewigen Scharen / Überall Tag!“. Wie Mozart öffnet Goethe die Sprache auf das Abgründige ihrer Konvention hin. Oder was soll man von Sätzen wie den folgenden halten? „Entsetzlich stürzt Er­wachenden sich Jam­mer zu!“; „Wen treff ich schon, wen treff ich noch den Wa­chenden?“; „Glühte deine Seel Gefahren Pindar!“

           Sicher geht es in Goethes Kunst der Abweichung um Nuancen und Va­leurs, um Chromatisierung. Ähnlich Mozarts Vorliebe für die Chromatik als einem Ausdruck des Farbenspiels der Seele, ihrer Aufhellungen und Eintrübungen, ihrer Gezeiten. Aber es geht um mehr. Es geht um die Definitionsmacht der Sprache, die Goethes lose Wort- und Satzreihen unterlaufen. Vor allem dann, wenn sie die Urteilsfunktion durch fehlende Prädikate außer Kraft setzen. Dadurch nimmt Goethes Sprache etwas Fremdes, Mignonhaftes an, in dessen zwitterhaften Mehr­deutigkeiten eines ihrer musikhaften Momente liegt.

           Zweifellos spielt die schon von Zeitgenossen an Goethe hervorgehobene Lust der Verwandlung nicht nur biographisch eine Rolle. Goethes Lebensmotive der Erneuerung und Verjüngung, seine Rede vom „Wiedergeboren Werden“, vom ‘Schalen abwerfen’, vom ‘Ablegen der Schlangenhaut’ oder von der „wiederholten Pubertät“ sind gleichnishafte Charakterisierungen auch seiner Sprache. Sie gewinnt etwas unentwegt sich Häutendes, Schlangenhaftes. Goethes Schreiben - das heißt: die Gedanken am langen Zügel laufen lassen, Umwege, Labyrinthe nicht scheuen. Es ist eine Sprache, die wie in Faust II der raschen Revue der Charaktere angemes­sen ist.

       Gerade in Goethes und Mozarts Konfigurationen findet sich das Bewusst­sein für das Flüssige von Ich und Charakter in Vollendung. Das Bewusstsein für einen Verstand, der sich in eine Folge von Eindrücken und Vorstellungen auflöst, die, dem Philosophen Hume zufolge, „einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind“. Was etwa in der Exposition von Mozarts letztem Klavierkonzert an Charaktere-Momenten durchmessen wird, lässt in seiner Vielfalt jeden Versuch einer klaren Affektscheidung scheitern. Die aphoristische Spannbreite reicht nicht nur vom erhabenen bis zum buffonesken Ton. Sie durchläuft zudem eine Summe komplexer Mischungen. So wie Diderot, den Goethe überaus schätzte, von den „hundert verschiedenen Gesichtern (...) im Verlauf eines Tages“ sprach. Die menschliche Seele - ein Chamäleon im Spiel der Stimmungen.

       Goethe und Mozart sind fasziniert von der Freiheit des Mannigfaltigen. Sie lassen im bunten Schwarm der Motive und Formen die Libertinage des Vielen zu, die die Identität liquide hält, zuweilen gar liquidiert. Deshalb ist Goethes Satz: „Dann mag der Zufall selbst als Geist der Einheit schalten“, für Mozart wie für Goethe selbst von größter Wichtigkeit.

 

Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur, KV 595, 1. Satz, T. 1-80.

Konstruktion gerät bei Mozart nicht zum strategischen Triumph. Und Goethe hält von dramatischer Straffungsarbeit, zumal der des Tragischen, so wenig, dass zeitgenössische Urteile immer wieder die Formlosigkeit seiner Stücke beklagen. Schließlich war Goethe selbst im Zweifel, ob er denn „eine wahre Tragödie schreiben könnte“.

           Worauf indes die Ökonomie des Tragischen abhebt, zeigt Schillers Kritik an Goethes Egmont. Schiller spricht dem Stück den Rang einer Tragödie ab, da es aus einer „bloßen Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen“ resultiere. Unüberhörbar ist hier der rügende Unterton gegen das reihende Prinzip. Ein Un­terton, der nicht selten auch bei Kritikern Mozarts und seiner verschwenderisch losen Folge an musikalischen Gedanken begegnet. Parataxe, die bei- und neben­ordnende Reihung gleichberechtigter Elemente, verträgt sich weder mit Arbeit noch mit Tragik. Sie verträgt sich nicht mit den Über- und Unterordnungsgebo­ten, mit der Wertung nach Haupt- und Nebensächlichkeiten, mit all den Strecken der Entwicklung und des Ergebnisses, der Spannung und Lösung, wie sie für die Hypotaxe charakteristisch sind. Weit eher schon vertragen sich parataktische Bei­ordnungen mit der Unabhängigkeit von Ziel- und Systemstrenge. So wie Goethes Faust II und die Wanderjahre dies nachdrücklich demonstrieren.

           Während die Modelle des Tragischen im Bann der Zahl Zwei stehen - Worte wie Entzweiung, Zwiespalt, Verzweiflung lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig - muss bei Goethe und Mozart der Widerspruch zwischen Frei­heit und Notwendigkeit vergessen werden. Goethes Poesie der Verschwendung zeigt sich am Kreislauf von Schuld und Sühne uninteressiert. Schon zu Beginn des Faust II lassen Natur und Vergessen den christlichen Reuebegriff schal werden. Goethe spricht seinen Helden frei, ohne ihn zu rechtfertigen. „Wer immer stre­bend sich bemüht,/ Den können wir erlösen.“ Schuld wird mit der ‘Erlösung’ in der Sphäre des „Ewig-Weiblichen“ jenseit von gut und böse ausgesetzt. Was das Faust-Drama vom Sujet her in Szene setzt, entspricht sprachlich aufs Engste Goethes musikalischem Denken: dem reihenden Aufbrechen des herrischen Form- und Satzregimes bis hin zur Sprengung der Gattungsgrenzen der Tragödie. Wobei das Rhapsodische der Verwandlungen über die Wort- und Satzgirlanden in jene bildhafte Großreihung des Dramas eingeht, die dem tragischen Zeitsturz zu­widerläuft. Und wenn Mozart im „Molto Allegro“ der späten G-Moll-Symphonie den dunklen Affekt in Szene setzt, handelt es sich dabei noch lange nicht um das Ethos Beethovens. Selbst wenn sich die Durchführung dieses Satzes auf den Hauptgedanken konzentriert, verweigert sie die tragische Arbeit im Bann von Zer­rissenheit und Entzweiung und deren Überwindung wie in Beethovens Neunter Symphonie. Keineswegs wird das Drama der Themen und Motive als im Dienst der sittlichen Idee stehend vorgeführt. Vorgeführt werden indes die modulatorischen Stürme der Passion, in denen sich das Thema physiognomisch bricht, aufzehrt und regeneriert: im rastlosen Kontinuum der Affektbahnen, ihrem Lodern und Verlöschen. So beleuchtet die Musik einen Ausschnitt aus der „Experimentalphy­sik der Seele“; eine Musik, der jegliches postulatorische Über-sich-Hinausweisen Unbewusstenfremd ist.

Mozart, Symphonie Nr. 40 g-Moll, KV 550, 1. Satz, T. 100-ca. 183.

Goethe hält der Naturgeschichte der Seele die Treue. Dazu gehört, dass er, wie Mozarts Opern, die Decksteine der Zivilisation anhebt, um deren Unterbau frei­zulegen. Schon früh hatte er

in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins (...); aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere über­tüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt (...).

Bei diesem Gang in die Unterwelt der Zivilisation wird die Sprache, gerade auch die musikalische, zur Seelenführerin ins Unbewusste. Eine Sprache, die sich dem Stoff anschmiegt, nicht über ihn verfügt. Was die Tiefenschärfe an Mozarts Musik ausmacht, ist die Leib gewordene condition humaine. Der psychologische Unterstrom seiner Opern, ihre blitzartigen Energiekurven, die die Charaktere im Wirbel der Passionen entgrenzen und wechselseitig durchlässig halten, sind das Gegenteil einer Ökonomie des Standhaltens und jeglicher Affektschematik. Es sind die dynamisierten Leidenschaften, die die Weltpräsenz in Figaros Hochzeit ver­handelt. Entgegen ihrer mechanischen Statik, die auch Goethe so unerbittlich kri­tisiert.

         Goethes Forderung nach Verflüssigung des affektiven Tableaus löst Mo­zarts körperhafte Sprache der Psyche ein, ihr Puls- und Herzschlag. Sie ist es, die dem Ensemble der musikalischen Rede und ihrem Reflexionsgrund erst Leben verleiht. Musik und Poesie folgen der Odyssee des Unbewussten, um noch dem letzten Rest an Formel Sprache zu verleihen. Wie Goethe die Wortkennmarken hin zum unvergleichlichen Wort durchdringt, so Mozart den Schematismus der Kadenzen, die sich im Finale des zweiten Figaro-Akts zu Knotenpunkten der Emotions- und Gedankenspuren verdichten. Zugleich lässt der Gang der Musik sämtliche Formschemata hinter sich, ohne zu zerfallen. Eine Musik, die dem Ver­langen ihrer Impulse folgt und sich die harmonische wie metrische Konstruktion äußerst beweglich hält; eine Musik, ähnlich der Sprache Goethes: schlangenhaft, gleitend, schillernd, zustoßend. Gestisch, ohne im Körperhaften aufzugehen, spi­rituell durchdrungen, ohne sich im Idealen zu verlieren.

 

Mozart, Le Nozze di Figaro, 2. Akt, Finale („Esci ormai …“ bis Szene 9, T. 6).

Das Spiel der Vielfalt ist etwas anderes als die Idee der Totalität. Goethe wie Mo­zart geht es nicht um das Dilemma Läuterung oder Untergang, sondern um Über­gang und Verwandlung. Insgeheim aber läuft die Gewaltlosigkeit reihender Konfi­guration jenem Fluchtpunkt zu, den Goethes ungeheures Bild der dem ‘bewegli­chen Staub eingezeichneten’ Dichterworte umschreibt. Vergleichbar Mozarts Geste, das Finale des C-Dur-Klavierkonzerts KV 415 ohne triumphalen Schluss im Pianissimo verebben zu lassen. Einen rhapsodisch-freien Satz, dessen zentrifugale Fliehkräfte wider alles Erwarten in zwei c-Moll-Zäsuren aufbrechen. Worte, Takte, an denen sich erfahren lässt, wie Mozarts und Goethes Kunst des „losen liberalen Gangs“ das gängige Moral- und Rationalitätskorsett sprengt.Unberechenbar wie die exzentrische Bahn Euphorions. Worte, Takte aber auch, an denen sich erfah­ren lässt, was seither einer auf Stärke ausgerichteten Souveränität verloren ging, die sich ihre Überlegenheit durch seelenlose Beherrschung der Seelenzustände beweisen muss.

Nicht mehr auf Seidenblatt   
Schreib ich symmetrische Reime;      
Nicht mehr faß ich sie           
In goldne Ranken;     
Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet           
Überweht sie der Wind, aber die Kraft besteht,       
Bis zum Mittelpunkt der Erde          
Dem Boden angebannt.

 

Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale, ab T. 128.

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