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George Crumb, Black Angels

Echos, Schatten

und ein Abend in Granada

Der Komponist George Crumb

WDR (2009)

Bspl. 1: Five pieces for piano, Nr. 1

 

Klänge stehen lassen, ihrem Verklingen nachhören, ihrem Ausschwingen, ihren Echos, ihren Schatten. Schon ein frühes Klavierstück aus dem Jahr 1962 macht klar: hier interessiert sich ein Komponist für das Endliche und Flüchtige der Töne, für die Tradition der Musik als einer Meditatio mortis. Durchzieht doch die Spur des Todes das Gesamtwerk des Komponisten George Crumb auch von den thematischen Sujets her: Zumal über die Texte Federico Garcia Lorcas oder als Widerhall des Vietnamkriegs in Crumbs Streichquartett Black Angels mit seinen Einschüben abendländischer Todesmusiken.

Crumbs Schatten- und Echosprache geht es um das Gedächtnis des Körpers, um das vom Primat des Rationalen und Rationellen als mythisch und mystisch Verdrängte. Womöglich erklärt dieser Abstieg in die Katakomben der Zivilisation auch Crumbs Affinität zu Lorcas Lyrik mit ihren existenziellen Brechungen des Lebens im Bann von Liebe, Natur und Tod, der bei Lorca nicht zufällig „Schwingen aus Moos“ trägt. „Los muertos llevan alas de musgo“.

 

Bspl. 2: Madrigals I, Nr. 3 (Los muertos llevan alas de musgo)

 

Sicher, das Existenzielle läuft Gefahr zu existenziell, zu mystisch und damit zum abstrakten Gegenprogramm einer hochtechnisierten Gesellschaft zu werden. Und wenn sich der Formulierung solch existenzieller Kräfte schließlich auch noch eine globale Weltmusik als Material anbietet - ihr gegenüber ist Crumb durchaus aufgeschlossen -, dann droht der Absturz in esoterische Scheintiefen umso drastischer. Allerdings benutzt Crumb sein Zitat- und Assoziationsrepertoire nicht als einen Materialvorrat, der für sich selbst sprechen soll: ein Zitat- und Assoziationsrepertoire übrigens, das von der Gregorianik über Schubert und Chopin bis zu Debussy und Ives reicht und dabei Mythologien verschiedener Kulturen ebenso einbezieht wie spirituelle Zahlensymbolik oder die Schriften des Nostradamus. Indem freilich Crumbs interkulturelle Vernetzungen vom Metier zeitgenössischen Komponierens her entwickelt und modelliert werden, bleiben sie den kommerziellen Crossover-Mixturen des Multikulti gegenüber resistent. Weit mehr verdichtet sich Crumbs Assoziationsfundus zu einem Ensemble tieferer Schnitte; tief genug jedenfalls, um in einer Operation am offenen Herzen der Zivilisation archaische Schichten freizulegen. Es ist dieses Bündnis von Material und Geschichte, das in einer Rückbesinnung auf Vergangenes die Diagnose des Gegenwärtigen schärfen soll.

Und doch ist Crumbs Musik zumeist keine, die sprachlos, die atemlos macht. Vermutlich weil das Inventar ihrer Zitate und Anspielungen, ihrer Verweise und Botschaften oft so dicht ist, dass sich die Musik mit hohen formalen und expressiven Wiedererkennungswerten auflädt, mit Konvention also. Gelegentlich entgleiten einige von Crumbs Kompositionen gar in Richtung einer musikalischen Séance, vor allem im Klavierzyklus Makrokosmos. So manchen Stücken dieses Zyklus hört man an, dass Tierkreis und Sternenmagie in einer Welt des entzauberten Diesseits und der Frist des Nur-einmal-Lebens wohl nur noch um den Preis einer privatmystischen Entrückung zu haben sind, garniert mit einem Übermaß an bloßen Effekten und allzu vielen "Urklängen" - mögen diese zuweilen auch durchaus augenzwinkernd und ironisch gemeint sein.

 

Bspl. 3: Makrokosmos I, 1 (Cancer / Primeval Sounds / Genesis I)

 

In einer Welt mit zu viel Sinn, zu viel Sprache, zu viel Musik rüstet auch Crumb das Sinninventar weiter auf. Vielleicht ist seine Musik deshalb auf höchstem Niveau, wenn sie abrüstet, wenn sie sich öffnet, ohne diese Öffnung sofort wieder mit einem überschweren Ballast an Bedeutung zu befrachten. So entfaltet sich etwa die Aura des fünften Stücks aus Crumbs Ancient voices of children gerade aufgrund einer äußersten Zurücknahme der Mittel. Erst diese Zurücknahme, erst diese Fülle des Ausgesparten in einer Musik der leisen Töne mit ihrem stenographischen Duktus von Melos, Harmonie und Instrumentation ermöglicht die abgründige Spannung des Komponierten: die Spannung zwischen einer vom Sopran gesungenen Gedichtzeile Federico Garcia Lorcas und einer instrumental zitierten Arie Gottfried Heinrich Stölzels aus dem Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach. „Todas las tardes en Granada, todas las tardes se muere un niño“, „Jeden Abend in Granada, jeden Abend stirbt ein Kind“. Indem Crumb Lorcas Todesgesang der Arie Stölzels konfrontiert - einer Arie vom tröstlichen Sterben in Freude und Gelassenheit -, erzeugt die Hohlform dieses beklemmenden Wiegenlieds aus den Ancient voices of children einen erschütternden Riss der Zeit und der Zeiten; nicht zuletzt, weil Crumb das Barockzitat als textlose Melodie auf einem verstimmten Kinderklavier anklingen und nach Art des Vanitas- und Todessymbols einer Spieldose leerlaufen lässt. Dieser Zeit- und Zeitenriss ist einer zwischen dem Jenseits-Trost eines seligen Todes und der Diesseits-Verzweiflung eines sinnlos frühen Kindersterbens, in dem Leben als bloßes „Aufhören“ in ein absurdes Fragment des Daseins zerbricht.

 

Bspl. 4: Ancient voices of children, Nr. 5 (Todas las tardes en Granada)

 

Natürlich ist Crumb trotz der auffälligen Präsenz des Todes in seiner Musik kein todessüchtiger Komponist. Die Spur des Todes ist für ihn vom Puls des Lebens nicht zu trennen, zumal Leben und Tod über einen naturhaft spirituellen Grund miteinander verwoben sind, über einen Grund, dessen Erfahrung Crumb den frühen Naturerlebnissen seiner Kindheit zuschreibt.

George Crumb, der 1929 in Charleston, West-Virginia, geboren wurde, im Oktober dieses Jahres also seinen 80. Geburtstag feiert, muss sich längst nicht mehr über mangelnde Resonanz beklagen. Crumb, der bei Boris Blacher in Berlin und bei Ross Lee Finney in Ann Arbor studiert und selbst über 30 Jahre als Professor an der University of Pennsylvania unterrichtet hat, zählt mittlerweile zu den meistaufgeführten amerikanischen Komponisten der Gegenwart, geehrt mit zahlreichen Auszeichnungen bis hin zu Pulitzer-Preis und Grammy Award. Freilich bleibt bei einem solchen Erfolg speziell im Bereich der Neuen Musik die Überlegung nicht aus, ob dieser Beifall nicht auch etwas mit einer voreiligen ästhetischen Kompromissbereitschaft zu tun haben könnte.

Gewiss, für eine radikal hermetische Avantgarde hat sich Crumb nie interessiert. Schon die Einflüsse Debussys, Bartóks und Weberns auf Crumbs frühe Arbeiten verwandelt der Komponist unabhängig von jeder Schuldoktrin in ein eigenes Verfahren experimenteller Klangerkundung und motivischer Strukturbildung. Zudem versteht sich Crumbs Musik stets als eine Fahrt ins Offene, die für das abendländische Repertoire ebenso empfänglich bleibt wie für das Repertoire außereuropäischer Kulturen. Hat Crumb nicht selbst von seinem Wunsch gesprochen, Zitat: „alle Musikformen der Welt möchten zusammenkommen, um eine einzige Musik zu bilden“?

Versteht man unter Postmoderne die Verfügbarkeit von Welt nach Art eines frei zugänglichen Archivs an Kulturen, Traditionen, Ideen und deren Kombinationen, dann ist Crumb zweifellos ein Komponist der musikalischen Postmoderne; ein Komponist allerdings, der sich aufgrund seiner konstruktiven Gestaltungskraft unverkennbar vom postmodernen Einerlei abhebt. Die Frage ist nur, ob Crumb auch einer Postmoderne zuzurechnen wäre, die das vermeintlich Inhumane der Neuen Musik wieder in menschliche Proportionen überführen will, indem sie überkommene Stil-, Sprach- und Affektmuster aufnimmt, mischt und auf eine Weise verfremdet, die gängige Hörgewohnheiten eher konserviert als aufbricht. Die Antwort lautet ja und nein. Ja, was die Verfügung Crumbs über tradierte Bestände und deren kompositorische wie rezeptive Sicherungs- und Sicherheitsrenditen anbelangt; nein jedoch, was Crumbs strukturelle Einbindung dieses Fonds an historischen Ressourcen in seine Musik betrifft.

So ist es etwa für das 1970 unter dem Eindruck des Vietnamkriegs geschriebene Streichquartett Black Angels nahezu irrelevant, in den attackenhaft einbrechenden, plötzlich auftauchenden und wieder verschwindenden Klangschwärmen seines Beginns den Lärm amerikanischer Hubschrauberstaffeln mitzuhören. Gerade mit dem Überschreiten programmmusikalischer Intentionen erreicht die Komposition, in der sich der Ton zur Detonation schärft, die panische Beklemmung und den unheimlichen Ausdruck einer aggressiven, nicht zu ortenden Gefahr jenseits jeder Bebilderung. Die fiebrige Nervosität des Komponierten legt die Saiten der Streichinstrumente wie Nervenstränge bloß, und dies in einer Musik, die zum verminten Gelände wird und harmonische Gänge wie unter Lebensgefahr ausschließt.

 

Bspl. 5: Black Angels

 

Diese stress- und gewaltgespannten Saiten seines Streichquartetts nun spannt Crumb im Bewusstsein einer alle Macht und Gewalt grundierenden kreatürlichen Hinfälligkeit und Vergänglichkeit geradezu schockhaft ab, indem er dem Angespannten, dem technisch wie semantisch Auf- und Hochgerüsteten seiner Komposition Schuberts Quartettsatz Der Tod und das Mädchen entgegensetzt. In diesem Augenblick wird die Frage nach postmoderner Verbindlichkeit bedeutungslos: Zu groß ist die Betroffenheit, mit der uns das fahl und vibratolos ausgedünnte, gambenartig verfremdete und seinerseits wie erstorben klingende Schubert-Zitat den Wahnsinn einer, so der Komponist, „verwirrten Zeit“ spüren lässt und in ihr unsere eigene Erschöpfung.

Warum aber hören wir dann nicht gleich Schubert und ersparen uns den Umweg über Crumb? Einfach aus dem Grund, weil erst das splitterhafte Nachbeben der Streicherattacken von Crumbs Quartettbeginn in Schuberts Musik Irritation, ja Bestürzung auslöst. Es ist der wechselseitige Kommentar zwischen dem in Kriegszeiten komponierten Streichquartett Black Angels und Schuberts Todesmusik, mit dem Crumb uns über eine Epochenspanne hinweg den Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Aufrüstung bewusst macht: Und mit diesem Zusammenhang die Einsicht, wie sehr die zum System gewordene Maximierung des Willens, wie sehr also das Heroentum des Bezwingens und Behauptens, des Bewältigens und Überwältigens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Welt erst schwer und gewaltsam und unheimlich und tödlich werden lässt.

 

Bspl. 6: Black Angels

 

 

Musikbeispiele

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Bspl. 1: George Crumb, Five pieces for piano, Nr. 1 [Tr. 1, 0,00 - ca. 2´15] 2´15

            [Bojan Gorišek]    [Audiophile Classics APC 101.301-3]

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Bspl. 2: George Crumb, Madrigals I, Nr. 3 (Los muertos llevan alas de musgo) [Tr. 19, 1´09 - 3´10] 2´01

            [Arnold / Rudich / Wesner-Hoehn / Tramontozzi / Colson]    [Bridge Records 9170]

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Bspl. 3: George Crumb, Makrokosmos I, 1 (Cancer / Primeval Sounds / Genesis I) [Tr. 1, 2´14 (aufbl.) - 4´50] 2´36

            [Bojan Gorišek]    [Audiophile Classics APC 101.301-1]

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Bspl. 4: George Crumb, Ancient voices of children, Nr. 5 (Todas las tardes en Granada) [Tr. 5, 0´00 - 2´45]  2´45

            [Arnold / Murray / Cooper / Starobin / Stuckenbruck / Bress / Grace / Kinzie / Foster / Hill / Colson]

            [Bridge Records 9170]

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Bspl. 5: George Crumb, Black Angels [Tr. 1, 0´00 - 1´23]  1´23

            [Kronos Quartet]    [Electra Nonesuch 7559-79242-2]

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Bspl. 6: George Crumb, Black Angels [Tr. 2, 0´00 - 1´06] 1´06

            [Kronos Quartet]    [Electra Nonesuch 7559-79242-2]

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