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 Haydn in London

 

  oder

 Der lose liberale Gang der Musik

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1.Teil

Südwestrundfunk 2004

Haydn in der britischen Metropole: das bedeutet zunächst die ebenso wachen wie gewitzten Beobachtungen eines Musikers in der «unendlich großen Stadt London»; das bedeutet zudem den Kult um einen Komponisten, der den Triumph beim Publikum der «Kenner und Liebhaber» durchaus zu genießen weiß; vor allem aber bedeuten Haydns Englandreisen die symphonische Summe einer Musik, von der Goethe meinte, sie sei «vielleicht zu überbieten, aber nicht zu übertreffen». Was Haydns Londoner Symphonien an Hintergründigkeit im Umgang mit der musikalischen Zeit formulieren, welchen Esprit, welche Reflexion sie im Erzeugen und Austarieren komponierter Symmetriebrüche erkennen lassen - vom geistreichen Spiel bis zum Ernstfall: immer sind es Charakteristika, die die Idee des Republikanischen einlösen und Mündigkeit auch im Auditorium, im Akt des Hörens voraussetzen.

Sechs Sendungen werden Haydn in England begleiten: vom sensationellen Erfolg der ersten Saison 1791 (I: Magier und Souverän) bis zu jenem berühmten Konzert im Mai 1795 mit der Uraufführung der letzten Symphonie des Komponisten (VI: Dr. Haydn’s Night). Sechs Sendungen einer Reihe, die selbst zu einer Reise auf der Spur von Haydns symphonischem Spätwerk wird: seiner körperhaften Gestik (II: Musik von unten), seiner sinnlichen Spiritualität (III: Affekte - Effekte), seiner labyrinthischen Verwicklung (IV: Dämon Zeit), seiner prozesshaften Dramaturgie (V: Weltlauf mit Fanfare).

1. Magier und Souverän

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Bspl. 1: Mozart, Le nozze di Figaro, Ouvertüre / Takt 139–Schluss [2´15]

  (Staatskapelle Dresden / Sir Colin Davis)

 

«Nun – da siz ich in meiner Einöde – verlassen – wie ein armer waiß – fast ohne menschlicher Gesellschaft – traurig – voll der Errinerung vergangener Edlen täge – ja leyder vergangen – und wer weis, wan diese angenehme täge wider komen werden? diese schöne gesellschaften? wo ein ganzer Kreiß Ein herz, Eine Seele ist – alle diese schöne Musicalische Abende – welche sich nur dencken, und nicht beschreiben lassen – wo sind alle diese begeisterungen? – weg sind Sie – und auf lange sins Sie weg. (...) so­gar die Traume verfolgten mich; dan, da ich am besten die opera le Nozze di Figaro zu hören traumte; wegte mich der Fatale Nordwind auf, und blies mir fast die schlafhauben von Kopf...».

Als Joseph Haydn am 9. Februar 1790 von Schloss Eszterháza aus Marianne von Genzinger sein Leid klagt, ahnte er nicht, wie schnell sich seine Situation ändern sollte. Noch im selben Monat starb die Fürstin Esterházy, im September 1790 dann der Fürst selbst, Nikolaus Esterházy, in dessen Diensten Haydn 28 Jahre lang gestanden hatte. Nach Auflösung des Orchesters durch Anton von Esterházy behielt Haydn zwar nominell seinen Posten als Kapellmeister mit einer lebenslangen Pension von jährlich 1000 und einem Gehalt von 400 Gulden. Allerdings ohne weitere Dienstverpflichtung, was Haydn veranlasste, zahlreicher Bindungen und Verbindungen wegen umgehend nach Wien zu übersiedeln. Dort wird schon wenig später, im November 1790, der in London als Kon­zertmeister tätige Impresario Johann Peter Salomon bei Haydn vorstellig, um den Kom­ponisten für eine Konzertreihe nach England zu verpflichten. «Ich bin Salomon aus London und komme Sie abzuholen. Morgen werden wir einen Ak­kord schließen.»

Dieser Akkord verpflichtete Haydn, eine Oper und sechs Symphonien für London zu komponieren und zu dirigieren. Da ihm zudem die kompletten Einnahmen eines Benefiz­konzerts garantiert wurden, belief sich Haydns in Aussicht gestellter Gewinn mit sämtli­chen Honoraren und Verlagsrechten auf rund 5000 Gulden. Es dürften die verlockenden Bedingungen dieses Vertrags gewesen sein, die Haydns rasche Zustimmung bewirkten.

Bereits am 15. Dezember I790 brachen Haydn und Salomon von Wien auf und setzten am 31. Dezember nach Dover über. «Berichte demnach, daß ich den ersten dieses als an neuen Jahres tag früch um halb 8 uhr nach angehörter H. Meß in das schif stiege, und nachmittag um 5 uhr dem höchsten sey gedanckt wohlbehalten und gesund zu Dower ankame, anfangs hatten wür 4 ganze stund fast gar keinen wind, und das schif gieng so langsam, daß wür in diesen 4 stunden nicht mehr als eine einzige Englische Meile machten, deren aber sind v. Calais bis Do­wer 24. unser schif Capitain in üblester laune sagte, daß, wan sich der wind nicht än­dere, wür die ganze nacht zur See bleiben müssen, zum glück aber hub sich der Wind gegen halb 12 uhr so günstig, daß wür bis 4 uhr 22 Meilen zurück legten [...] wehrend der ganzen überfahrt bliebe ich oben auf den schif um das ungeheure Thier das Meer satsam zu betrachten, solange es windstill war, förchtete ich mich nicht, zulezt aber, da der immer stärckere Wind ausbrach und ich die heranschlagende ungestimme hohe wellen sahe, überfiel mich eine kleine angst, und mit dieser eine kleine üblichkeit. doch überwündete ich alles, und kam ohne – S[ie] v[erzeihen] – zu brechen glücklich an das gestadt. die meisten wurden kranck, und sahen wie die geister aus».

Am 2. Januar 1791 trifft Haydn in London ein. Schon drei Tage vor seiner Ankunft inse­riert der Morning Chronicle: «Die Vorbereitungen für die nächste Musiksaison bürgen für einen überaus wohlklingen­den Winter. Außer den beiden rivalisierenden Opernhäusern ist eine Konzertserie unter der Leitung von Haydn zu erwarten [...] zu dem die Liebhaber instrumentaler Musik wie zu dem Gott der Wissenschaft aufblicken.»

 Im Gepäck hatte Haydn, da er der Eile des Aufbruchs wegen nicht gleich neue Werke für London komponieren konnte, die schon 1788/89 entstandenen, aber dort noch unbe­kannten Symphonien 90 und 92, von denen gerade die 92. Symphonie, die «Oxforder», in England außerordentliche Beliebtheit erreichen sollte.

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Bspl. 2: Haydn, Symphonie Nr. 92, 4. Satz / ganz [5´45]

  (Österreichisch-Ungarisches Haydn-Orchester / Adam Fischer)

 

Haydn in London, der Weltmetropole, die ihn überwältigt. Mit knapp einer Million Einwoh­ner die größte Stadt der Christenheit, Mittelpunkt eines kolonialen Handelsimperiums mit dem bedeutendsten Hafen der Welt; ein Schmelztiegel unter der Knute des Profits, mit Pracht- und Elendsvierteln, mit Monarchie und parlamentarischer Tradition, mit liberalem Bürgertum und frühem Industrieproletariat, politischen Skandalen und Maschinenstürme­rei. Ein Moloch des Vergnügens und des Verbrechens, voll mit Kunstschätzen, Stadtpa­lästen, riesigen Parks und mehreren hundert Kirchen. Die Straßen von Öllampen be­leuchtet und gesäumt von Bürgersteigen, um die Fußgänger vor dem rollenden Verkehr zu schützen.

Hören wir, um einen Eindruck von der Londoner Atmosphäre am Ende des 18. Jahrhun­derts zu bekommen, dem Schriftsteller und Physiker Georg Christoph Lichtenberg zu, der die englische Metropole 16 Jahre vor Haydns Ankunft schildert. «Stellen Sie sich eine Straße vor [...]. Auf beiden Seiten hohe Häuser mit Fenstern von Spiegelglas. Die untern Etagen bestehen aus Boutiquen und scheinen ganz von Glas zu sein; viele Tausende von Lichtern erleuchten da Silberläden, Kupferstichläden, Bücher­läden, Uhren, Glas, Zinn, Gemälde, Frauenzimmer-Putz und Unputz, Gold, Edelgesteine, Stahl-Arbeit, Kaffeezimmer und Lottery Offices ohne Ende. [...] Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrach­ten; denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und ruft by Your leave wenn Sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Straße rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöse, und das Sumsen und Geräusch von Tausenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tam­bourinen englischer Savoyarden und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freiem Himmel Kaltes und Warmes feil haben. [...] Auf einmal ruft einer, dem man sein Schnupftuch genommen: stop thief, und alles rennt und drückt und drängt sich, viele, nicht um den Dieb zu haschen, sondern selbst vielleicht eine Uhr oder einen Geld­beutel zu erwischen. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich ange­kleidetes Mädchen bei der Hand: come, My Lord, come along, let us drink a glass to­gether, or I’ll go with You if You please; dann passiert ein Unglück 4o Schritte vor Ihnen; God bless me, rufen einige, poor creature ein anderer; da stockt's und alle Taschen müssen gewahrt werden, alles scheint Anteil an dem Unglück des Elenden zu nehmen, auf einmal lachen alle wieder, weil einer sich aus Versehen in die Gosse gelegt hat; look there, damn me, sagt ein Dritter und dann geht der Zug weiter. Zwischendurch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrei von Hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme oder ein Haus einfiele oder ein Patriot zum Fenster herausguckte. [...] Hier ist man [...] froh, wenn man mit heiler Haut in einem Nebengäßgen den Sturm auswarten kann. Wo es breiter wird, da läuft alles, niemand sieht aus, als wenn er spazieren ginge oder ob­servierte, sondern alles scheint zu einem Sterbenden gerufen. Das ist Cheapside und Fleetstreet an einem Dezemberabend.»

Und wie kommt Haydn im Januar 1791 mit diesem Tumult zurecht? «Ich gebrauchte 2 Tag um mich zu erhollen. nun aber bin ich wider ganz frisch und Mun­ter, und betrachte die unendich grosse stadt london, welche wegen Ihren verschiedenen schönheiten und wunder dingen ganz in Erstaunung versezt, ich machte alsogleich die Nothwendigsten Visiten, als den Neapolitanischen und unsern gesandten, ich erhilte in 2 Tagen von beeden die gegen Visit, und speisete vor 4 Tagen bey dem Ersteren zu Mit­tag, aber NB um 6 uhr abends, das ist So Mode hier. meine anckunft verursachte gros­ses aufsehen durch die ganze stadt durch 3 Tag wurd ich in allen zeitungen herumgetra­gen: jederman ist begierig mich zu kennen. ich muste schon 6 mahl ausspeisen, und könte wenn ich wolte taglich eingeladen seyn, allein ich mus erstens auf meine Gesund­heit, und 2tens auf meine arbeith sehen. ich nehme ausser denen Milords bis nachmittag um 2 uhr keine visite an. um 4 uhr speis ich zu Hauß mit Mon. Salomon. ich habe ein niedliches bequemes aber auch theueres logement [...] alles ist erschröcklich theuer. gestern wurde ich zu ein. grossen liebhaber Concert geladen [...] ich wurde unter den arm des Entepraneurs unter allgemein. Hände Klatschen durch die Mitte des Saals bis vorne an das orchest. geführt, allda angeäffet. und mit einer menge Englischer Compli­menten bewundert, man versicherte mich, daß diese Ehre seit 50 Jahren nicht seye voll­zohen worden [...] alles dieses [...] war für mich sehr schmeichelhafft, doch wünschte ich mir auf eine zeit nach wienn fliehen zu könen um mehrere ruhe zur arbeith zu haben, dan der lärm auf denen gassen von dem allgemeinen verschiedenen Verkaufs Volck ist unausstehlich».

Längst war Haydn in England berühmt. Seine Werke waren im britischen Musikleben be­kannt – im Gegensatz zu denjenigen Mozarts – und hoch geschätzt. Zwischen Haydn und diversen Londoner Verlegern bestanden Verträge. Zudem war Salomons Einladung keineswegs die erste, wenn auch die erste, die Erfolg hatte. All das erklärt, mit welcher Spannung Haydn in London erwartet wurde, und weshalb Charles Burney, der führende englische Musikschriftsteller, Haydn in seinen Begrüßungsversen als «Great Sovereign of the tuneful art» feiern konnte. Und was hatte London einem Komponisten auf musikalischem Gebiet nicht alles zu bie­ten! Ein vom Hof, von Adel und Bürgertum getragenes kulturelles Leben, eine florie­rende, öffentliche Konzertpraxis, den Wettstreit zahlreicher Abonnementsreihen auf kommerzieller Subskriptionsbasis, professionelle Orchester mit erstklassigen Musikern und eine rege Presse mit ausführlicher Berichterstattung.

Am 11. März 1791 findet endlich das lang erwartete erste Salomon-Konzert Haydns in den Hanover Square Rooms statt. Auf dem Programm, entgegen der üblichen Zählung, die Symphonie Nr. 96 D-Dur als erste der Londoner Symphonien.

 

Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / ganz [9´35]

  (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Bereits dieses erste Konzert sicherte Haydn den Beifall des Publikums und die Anerken­nung durch die Kritik: «Letzte Nacht fand das erste Konzert unter Haydns Leitung statt; womöglich gab es nie­mals ein größeres musikalisches Vergnügen. [Haydns] neue Große Ouvertüre [die Sym­phonie Nr. 96] wurde von jedem kundigem Ohr als eine äußerst exzellente Komposition anerkannt». «Das Publikum war so begeistert, dass auf einhelligen Wunsch der zweite Satz wiederholt wurde; der dritte wurde ebenfalls stürmisch ein zweites Mal verlangt, wobei lediglich die Bescheidenheit des Komponisten allzu bestimmt eine nochmalige Wiedergabe verhinderte.»

Was war es, dass das englische Publikum so sehr für Haydns Musik einnahm? War es das Changieren zwischen dem republikanischen Gestus und einer letzten idiomatischen Erinnerung an das Ancien Régime und seine Musik? War es also eine Rhetorik, die sich im Sturm der neuen Zeit nochmals vor der Tradition verneigt – selbst noch im Struktur­modell der Wiederholung des Durchführungs-, Reprisen- und Codateils im Kopfsatz? Eine Wiederholung, die Haydn in der 96. Symphonie zum letzten Mal komponiert, als sei er sich der rezeptiven Fassungskraft des Londoner Publikums noch nicht ganz sicher. Mag sein, dass genau diese Rhetorik der Mischung den Nerv des Londoner Publikums traf; eine Rhetorik, wie sie bereits die langsame Einleitung bestimmt, mit ihrer Legierung von feierlicher Eröffnung und schmerzlicher Chromatik und ihrer Eintrübung von D-Dur nach d-Moll.

 

Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 1–17 [1´20]

  (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Zudem präsentiert Haydn in dieser Symphonie ein Kompendium seines Ausdrucks- und Konstruktionsrepertoires. So, wenn im ersten Satz nach einer längeren Durchführungs­partie der Einsatz des Hauptthemas – abgesetzt durch eine fast dreitaktige General­pause – den Reprisenbeginn zu signalisieren scheint, den Haydn wenig später als Scheinreprise aufdeckt: als ein Zu-früh also, da die reguläre Reprise nach erneuter Durchführungsarbeit erst 22 Takte später einsetzt.

 

Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 117–161 [1´00]

(Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Was Haydns Londoner Symphonien an Hintergründigkeit im Umgang mit der musikali­schen Zeit formulieren, welchen Esprit sie im Erzeugen und Austarieren komponierter Symmetriebrüche realisieren – vom geistreichen Spiel bis zum Ernstfall: immer sind es Charakteristika, die mit der Mündigkeit des Hörens als einer Forderung tätigen Mitden­kens und dadurch mit der Mündigkeit der Person rechnen. Spielt Haydn mit den Erwar­tungen der Hörer, ist dieses Spiel stets mehr als nur ein Spiel. Musikalische Gedanken­arbeit wäre dafür wohl der adäquate Ausdruck. So zieht Haydn die Summe des Zeitalters der Aufklärung auch in der Musik. Haydn setzt seine Hörer einem Labyrinth verwickelter kompositorischer Arbeit aus, in dem es Orientierung und Autonomie zu beweisen gilt, weil Divertissement und Unterhaltung den Belangen der Zeit gegenüber zurückgebliebe­nes Bewusstsein bedeuten. Wie ernst und fordernd diese Belange sind, lässt der Schluss des ersten Satzes der Symphonie Nr. 96 hörbar werden: ein Schluss mit drama­tischer Fanfarenrhetorik und kathastrophisch eingefärbtem d-Moll-Ausbruch.

 

Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 165–Schluss [0´55]

  (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Als Haydn die D-Dur-Symphonie 1791 in London komponiert, sind die Auswirkungen der Französischen Revolution längst auch in der britischen Metropole an der steigenden Zahl der Flüchtlinge zu spüren. Die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Revolu­tion und Revolutionsgegnern gewinnen an Heftigkeit, am prominentesten in der Kontro­verse zwischen Thomas Paine und Edmund Burke. Die Verunsicherung in der Regierung und weiten Kreisen der Bevölkerung nimmt zu, republikanische Klubs werden gegründet. Ein Bild der Situation liefern die Memoiren der Charlotte Papendiek, einer englischen Hofdame und Gattin des Musiklehrers der königlichen Familie: «Der alarmierende Zustand des Zeitgeschehens veranlasste die königliche Familie in der Stadt zu bleiben, da die Französische Revolution an Boden gewann, und revolutionäre Ideen sich auch hier ausbreiteten. Fast in jeder Stadt und in jedem Landkreis wurden Gesellschaften gegründet, die gegen die Autorität der Regierung eingestellt waren, und die aus Leuten der verschiedensten sozialen Klassen bestanden. In London nannten sich einige dieser Vereinigungen ‹The Debating Societies›, ‹The Corresponding Socie­ties›, ‹Night of the People› etc. [...] Die Stadtpolizei wurde in Bereitschaft gehalten [...] und die Artilleriekorps waren in Alarmbereitschaft. Auch alle anderen größeren Städte folgten dem Londoner Beispiel.»

Bekannt ist, dass Haydn während der Londoner Zeit selbst Kontakt zu einigen «men of letters» unterhielt, etwa zu Thomas Holcroft, dem Verfasser mehrerer sozialutopischer und revolutionsfreundlicher Romane und Dramen und eines Huldigungsgedichts an Haydn, oder zu John Wolcot, der den Text zu Haydns Chorwerk The Storm schrieb und unter dem Pseudonym Peter Pindar zahlreiche gesellschaftskritische Politsatiren dru­cken ließ.

 

Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 84–Schluss [2´40]

  (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Wie Haydns D-Dur-Symphonie (Nr.96) im zweiten Jahr der Französischen Revolution zwischen der Erinnerung an das Ancien Régime und republikanischer Verve changiert, verdeutlicht ein Detail gegen Ende des zweiten Satzes, das wie ein Kommentar zu den Zeitumständen wirkt: Geradezu bedrohlich wird hier eine Trillerfigur der Holzbläser, or­namentales Zitat der galanten Rhetorik des Ancien Régime, vom harmoniefremden Vor­halt der Celli und Kontrabässe grundiert und verabschiedet.

 

Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 96, 2. Satz / Takt 83–Schluss [0´30]

  (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

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Diese Stelle steht am Ende eines Variationssatzes mit konzertierenden Holzbläsern und Hörnern und einem kontrapunktischen g-Moll-Mittelteil, der die Dimension des Erhabe­nen, die die zeitgenössische Kritik an Haydn hervorhebt, mit fast barockem Pathos ins Spiel bringt. Mit seiner konzertanten Faktur wird dieses G-Dur-Andante zu einer Verbeu­gung Haydns vor dem Orchester als einer Republik im Kleinen, in der jede Stimme solis­tischen Wert hat. Und dies nicht nur in der konzertartigen Quasi-Kadenz der beiden So­loviolinen am Ende des Satzes.

 

Bspl. 9: Haydn, Symphonie Nr. 96, 2. Satz / ganz [5´30]

  (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Der hohe symphonische Ton des Menuetts zeigt eine weitere Facette der Mischung und des republikanischen Idioms nicht nur in seinen zahlreichen Signalfanfaren, sondern auch in seiner Öffnung für die Couleur locale der populären Sphäre im Trio mit Solo-Oboe und Ländlerton.

 

Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 96, 3. Satz / ganz [4´55]

    (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Im Finale der Symphonie Nr. 96 schließlich Elan mit Fanfare. Ein «Vivace assai», das ebenfalls Mischungen und Kontraste auskomponiert: etwa im kontretanzhaften Rondo­thema, dem eine hochdramatische d-Moll-Episode mit Durchführungscharakter wie ein musikalischer Sturmvogel der neuen Zeit folgt. Vor allem aber ist es das Wechselspiel vom Entschwinden und Wiedererscheinen des Themas, das das Finale zum symphoni­schen Laboratorium schärft, um darin eine Epochengrenze auszuloten.

 

Bspl. 11: Haydn, Symphonie Nr. 96, 4. Satz / ganz [3´35]

    (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

 

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​2. Musik von unten

 

 

 

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Bspl. 1: Symphonie Nr. 95 c-Moll, 4. Satz / Takt 32–Schluss [2´40]

              (Hanover Band / Roy Goodman)

 

Fugierte Technik in Vollendung. So als wollte Haydn mit dem Finale der Symphonie Nr. 95 das Londoner Publikum davon überzeugen, mit welcher Meisterschaft auch ihm – wie Mozart in der Jupitersymphonie – die «gelehrten» kontrapunktischen Künste zur Verfü­gung stünden. Und doch geht es um mehr: der Furor, der den Satz mit Signalfanfaren durchquert und in der Reprise einen Durchbruch von c-Moll nach C-Dur auskomponiert, spricht die neue Sprache des «Durch Nacht zum Licht» mit republikanischem Elan. Mit einer drängenden Geste, die schon im konzisen Kopfsatz der Symphonie, der einzigen der Londoner Reihe in einer Molltonart, die Scheidung der ästhetischen von der empiri­schen Zeit blitzartig, ohne die Vermittlung einer langsamen Einleitung in Szene setzt.

 

Bspl. 2: Symphonie Nr. 95 c-Moll, 1. Satz / Takt 1–28 [0´50]

  (Österreichisch-Ungarisches Haydn-Orchester / Adam Fischer)

 

Haydn wusste seine Wertschätzung bei «Kennern und Liebhabern» durchaus zu genie­ßen. Eine Wertschätzung, die keineswegs auf den Konzertsaal beschränkt blieb. Haydn in London – das war ein öffentliches Ereignis, durchaus schon mit Zügen moderner Pub­licity. Hof, Adel und Bürgertum nahmen an der Anwesenheit des Komponisten regen Anteil und rivalisierten mit Gunstbezeugungen. Gesellschaftliche Verpflichtungen – Ein­ladungen zum Dinner, zu Banketten, auf Bälle, Feste und in Konzerte – gaben ein volles Programm vor. Zugleich hatte Haydn bei all diesen Ablenkungen in einer ebenso aufre­genden wie ungewohnten Umgebung auf die Einhaltung seines Vertrags und die Liefe­rung neuer Kompositionen zu achten. Um die nötige Zeit zur Arbeit zu finden, musste Haydn also den Kult um seine Person ökonomisch organisieren.

Doch damit nicht genug. Nachdem es den Professional Concerts, dem Gegenunterneh­men zur Konzertreihe Salomons und Haydns, misslungen war, Haydn mit beträchtlich höherem Honorar selbst zu verpflichten, setzten sie eine Kampagne gegen den Kompo­nisten in Gang – mit allen Möglichkeiten, die der Markt einschließlich Pressewesen und Sensationsreklame hergab. Höhepunkt dieser Kampagne war die Einladung von Haydns ehemaligem Schüler Ignaz Pleyel im Dezember 1791 nach London, vor allem in Erwar­tung eines profitträchtigen Komponistenwettstreits. Allerdings ging diese Rechnung nicht auf, da Pleyel und Haydn einander in bestem Einvernehmen begegneten: «Pleyel zeugte sich bey seiner ankunft gegen mich so bescheiden, daß Er neuerdings meine liebe gewann, wür sind sehr oft zu sam, und das macht Ihm Ehre, und Er weis seinen vatter zu schätzen. wür werden unsern Ruhm gleich theillen und jeder vergnügt nach hause gehen».

Dennoch: Haydns Arbeitsbelastung in diesem Klima aus Konkurrenz- und Erwartungs­druck war enorm. Nach Auskunft Georg August Griesingers, Haydns frühen Biographen, benötigte der Komponist in London für die Komposition einer Symphonie etwa einen Mo­nat: Zeugnis einer schöpferischen Souveränität, die staunen macht. Wie groß die An­spannung allerdings war, belegen Haydns Briefe an Marianne von Genzinger während der ersten Monate des Jahres 1792: «Wenn Euer gnaden seheten, wie ich hier in London Seccirt werde in allen denen privat Musicken beyzuwohnen, wobey ich sehr viel zeit verliehre, und die menge deren ar­beithen so man mir aufbürdet, würden Sie gnädige Frau mit mir und über mich das gröste Mittleyd haben, ich schriebe zeit lebens nie in Einen Jahr so viel als im gegenwär­tig verflossenen, bin aber auch fast ganz Erschöpft [...] ich arbeithe gegenwärtig für Sa­lomons Concert, und bin bemüssigt mir all erdenckliche mühe zu geben, weil unsere gegner die Professional versamlung meinen schüller Pleyell von Strassburg haben an­hero komen lassen, um Ihre Concerten zu Dirigiren. es wird also einen blutig Harmoni­schen Krieg absezen zwischen dem Meister und schüller, man finge gleich an in allen zeitungen davon zu sprechen, allein, mir scheint, es wird bald Allianz werden, weil mein credit zu fest gebaut ist.» / «Kein Tag, ja gar keinen Tag bin ich ohne arbeith, und ich werde meinem lieben gott dancken, wenn ich wie eher desto lieber werde london verlas­sen könen. meine arbeithen erschweren sich durch die ankunft meines schüllers Pleyl [...] Er kam mit einer menge neuer Composition, welche Er schon lang vorhero verfertigte anhero an, Er versprache demnach alle abende ein neues Stück zu geben, da ich dan diss sahe, und leicht einsehen konte, daß der ganze haufen wider mich ist, liesse ich es auch Publiciren, daß ich ebenfals 12 neue verschiedene stücke geben werde, um also worth zu halten, und um den armen Salomon zu unterstüzen mus ich das Sacrifice seyn und stets arbeithen, ich fühle es aber auch in der that, meine Augen leyden an meisten, und hab viele schlaflose nächte: mit der hilfe gottes werd ich alles überwinden, die H. Professionisten suchten mir eine brille auf die Nase zu setzen, weil ich nicht zu Ihren Concert überginge, allein, das Publicum ist gerecht; ich erhielte voriges Jahr grossen beyfall, gegenwärtig aber noch mehr». / «Ohngeachtet [also] der grossen Opposition und Musicfeinde, so wider mich sind, und sich besonders samt meinem schüller Pleyl diesen winter alle mühe gaben mich herabzusetzen, erhielte ich (gott lob) die oberhand: ich mus aber beckenen, daß ich wegen so vieler arbeith ganz ermüdet und erschöpft bin, und sehe mit heissen wunsch meiner Ruhe entgegen, welche sich dan gar bald meiner erbarmen wird.»

In solcher Atmosphäre fand am 17. Februar 1792 das erste Salomon-Konzert der zwei­ten Saison mit der Uraufführung von Haydns Symphonie Nr. 93 in D-Dur statt.

 

Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 93, 1. Satz / ganz [8´20]

  (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen)

 

Wie Haydn in diesem Satz melodische und tänzerische Charaktere mit der kontrapunkti­schen Strenge der Durchführung kreuzt, «Galantes und Gelehrtes» also in wechselsei­tige Spannung bringt und zugleich den Unterscheidungseifer solcher Kategorien aufhebt, wurde vom Publikum begeistert aufgenommen und von der Presse unter Berufung auf das «Urteil der Kenner» als Qualitätssiegel einer «außerordentlichen» Komposition ho­noriert. «Jeder Satz wies eine derartige Vereinigung hervorragender Qualitäten auf», kommentierte die Times, «dass sämtliche Spieler wie Zuhörer zu enthusiastischer Leidenschaft hingerissen wur­den. Ideenneuheit, einnehmende Überraschungen und kapriziöser Humor verbanden sich mit Haydns erhabener und gewohnter Größe und beeinflussten Seele und Gemüt aller Anwesenden».

Der zweite Satz der Symphonie Nr. 93, ein «Largo cantabile» in G-Dur, musste wieder­holt werden, ein Satz, der sich nach dem intimen Beginn im Concertino des Streich­quartetts schon bald zum kollektiven Pathos feierlichen Schreitens weitet. Zäsiert durch jeweils neu kontrastierende Tutti-Episoden entfaltet das Thema seinen sprechenden Charakter in einer rhapsodischen Brechung durch Barockidiom, Mollschleier und Trio­lenpuls. Einmal mehr demonstriert Haydn in diesem Satz, wie die spirituell aufgehellte Welthaltigkeit seiner Musik ihrem körperhaften Impuls verbunden bleibt, hier der Subli­mierung lied- und marschhafter Charaktere. Und wenn sich am Schluss das Thema in die Abspaltung seines Auftaktmotivs auflöst, wird dies nicht zur tragischen Maske, son­dern zu einer Nuance des schöpferischen Eros der Verwandlung.

 

Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 93, 2. Satz / Takt 1-77 [4´50]

  (Cleveland Orchestra / George Szell)

 

Sprengt allerdings gegen Ende ein stimmungswidriges Fortissimo-C der Fagotte jäh und schockhaft den poetischen Charakter des Satzes, erweist sich Haydn erneut als Meister der Surprising-Effekte. Vorbereitet durch ein Spannung erzeugendes Stocken durch­schlägt die Musik die lyrisch-heroische Aura des Satzes mit der Unberechenbarkeit eines derben musikalischen Witzes. Ein Ausdruck der Ironie und – vom klassischen Ideal her gehört – das frühe Moment einer Ästhetik des Hässlichen, einer Musik von unten, die sich wenig um die Tabuisierung der niederen Sphäre schert und dem sublimierten Ton des Satzes mit der Triebcanaille drastischer Körperlichkeit in die Parade fährt.

 

Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 93, 2. Satz / Takt 73–Schluss [1´00]

  (Cleveland Orchestra / George Szell)

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Dass die zeitgenössische englische Presse eine Verwandtschaft zwischen Haydn und Shakespeare hergestellt hat, verwundert angesichts einer solchen Stelle weniger. Die Mischung vielfältiger Affekte, die für Haydns Musik bezeichnend ist, oder die Kontrastie­rung der Gattungen des Hohen und Niedrigen, die sich in der Fagott-Kaprice der D-Dur-Symphonie konzentriert, können durchaus an Shakespeares Kombinatorik unterschied­lichster Charaktere erinnern. An seine Überschreitung von Stilgrenzen im Universum hart gefügter und gerade dadurch das Welttheater in Gang haltender Widersprüche. Zugleich erinnert Haydns Sinnirritation an die seines Zeitgenossen, des Schriftstellers und Physi­kers Georg Christoph Lichtenberg; vor allem an dessen «Cross-readings», zu denen Lichtenberg auf seinen Englandreisen beim Lesen der mehrspaltigen britischen Tages­zeitungen angeregt wurde. «Man muss sich vorstellen, das Lesen geschehe in einem öffentlichen Blatte, worin so­wohl politische, als gelehrte Neuigkeiten, Avertissements von allerlei Art usw. anzutreffen sind: der Druck jeder Seite sei in zwei oder mehrere Kolumnen geteilt, und man lese die Seiten quer durch, aus einer Kolumne in die andere», schreibt Lichtenberg zu seiner «Nachahmung der englischen Cross-readings», um nach dieser Anleitung Beispiele folgender Art zu liefern: «Am 13. dieses schlug der Blitz in die hiesige Kreuzkirche – / Und setzte Tages darauf seine Reise weiter fort». - «Es wird eine Köchin gesucht, die mit Backwerk umzugehen weiß – / Zu zwei Personen eingerichtet, nebst etwas Kellerraum.»

Was Lichtenbergs «Cross-readings» als sprunghaften Übertrag von einer Spalte zur anderen realisieren, sind Risse im Sinntransfer der Sprache. Eine Übertragung mit Kurz­schlüssen, deren Blitze frappante Korrespondenzen zwischen unterschiedlichsten Welt­ressorts zünden. Eine Sinnstiftung zweiter Ordnung, die den konventionellen Sinn erster Ordnung in Frage stellt. Ähnlich bedeuten Haydns Rupturen erste Lecks und stim­mungswidrige Asymmetrien im gewohnten Sinnkreislauf des symphonischen Kosmos.

 

Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 93, 2. Satz / Takt 73–Schluss [1´00]

  (Cleveland Orchestra / George Szell)

 

Die Mischung unterschiedlicher Tonfälle und Ausdrucksbereiche findet sich auch im drit­ten Satz der D-Dur-Symphonie, der Nr. 96, mit seiner Kombination von symphonischer Durchführungsarbeit und deutschem Tanz – jenseits des höfischen Menuettcharakters. Vor allem der Trio-Teil verschränkt militärische Signale und Tanzbodenambiente zu einer Gegenwart des dritten Standes, die als ein Eindringen zeitgeschichtlicher Realität in die Musik die ästhetische Ordnung für Momente irritiert. Etwa wenn die Streicher im Ver­such, auf die Bläserfanfaren zu antworten, buchstäblich aus ihrer harmonischen Bahn geraten, unschlüssig, ja verstört schwankend zwischen den regel- und erwartungswidri­gen Tonarten h-Moll, G-Dur und F-Dur, bis der Diskurs endlich in die Grundtonart D-Dur und ins tanzhafte Idiom zurückfindet.

 

Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 93, 3. Satz / Takt 47–Schluss [2´45]

  (Cleveland Orchestra / George Szell)

 

Ein Aufgebot an Haydns dem Zeitalter der Aufklärung so eng verbundener Rhetorik schließlich auch im Finale. Wenn sich die Musik auf dem Weg zur Reprise und damit zu einer für die Stabilität der Struktur herausgehobenen Formsequenz auf Cis festläuft, stockt, gleichsam den Faden verliert, und erst durch einen massiven Tutti-Appell wieder zur Besinnung und auf den rechten Weg gebracht wird, dann mahnt hier der Imperativ des Orchesters kollektive Verantwortung an, Gattungsbelange also.

 

Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 93, 4. Satz / Takt 148–170 [0´20]

  (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen)

 

Und um Gattungsbelange geht es auch bei den Coda-Fanfaren, deren Ankündigung von einem Pianissimo-Paukenwirbel wie zum Zeichen ihrer zeitgeschichtlichen Brisanz grun­diert wird:

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Bspl. 9: Haydn, Symphonie Nr. 93, 4. Satz / Takt 268–304 [0´35]

  (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen)

 

B          Erinnern diese Signale nicht an den republikanischen Tonfall des «Viva la libertà» vom Ende des ersten Akts in Mozarts Don Giovanni?

 

Bspl. 10: Mozart, Don Giovanni, 1. Akt / Nr. 13: Finale / Takt 384–396 [0´25]

   (Andreas Schmidt, Amanda Halgrimson, Lynne Dawson, John Mark Ainsley, Gregory
   Yurisich, The London Classical Players / Sir Roger Norrington)

 

Die Emphase selbstbewussten Bürgertums im öffentlichen Raum des Konzertsaals: so könnte man das Finale von Haydns 93. Symphonie charakterisieren. Einen Satz mit ex­pansiver thematischer Arbeit, wie um eine selbstgenügsame Vereinzelung der Themen­subjekte von Beginn an zu unterbinden.

 

Bspl. 11: Haydn, Symphonie Nr. 93, 4. Satz / ganz [5´30]

    (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen)

 

Im Juni 1791 lernt Haydn Rebecca Schroeter kennen, die Witwe des «Master of the King's Musick» Johann Samuel Schroeter, der er Privatunterricht erteilt und zu der sich eine enge Freundschaft entwickeln wird. Einen Monat später erhält er den Grad eines Doktors der Musik der Universität Oxford, ein Anlass, bei dem die Symphonie Nr. 92 auf­geführt wird, die seither den Namen 0xford-Symphonie trägt.

Doch auch sonst ist Haydn ein viel beschäftigter Mann. Mit 58 Jahren immer noch ein waches Kind der Aufklärung und der Enzyklopädisten interessiert sich der Komponist mit ungebrochener Erkundungslust für die unterschiedlichsten Details des englischen Le­bens. Für die Musikszene Londons ebenso wie für das englische Gerichtswesen oder die Skandale der Highsociety. Architektur, Kochrezepte, die Situation der Lohnarbeiter oder das Innere der Bank of England: kaum etwas, das Haydns Wissbegier nicht zu fesseln vermag. Auffällig dabei Haydns Vorliebe für Statistik, als würde sich noch hier jener Zug der Ökonomie und Stringenz zeigen, der seine Musik so nachhaltig bestimmt, um den­noch stets vom Genie des Unberechenbaren unterlaufen zu werden. Dass in 30 Jahren 38.000 Häuser in London gebaut wurden, dass dort 1791 22.000 Menschen starben, dass die Stadt jährlich 800.000 Karren Kohle verbraucht, notiert sich Haydn ebenso er­staunt wie akribisch, um schließlich ins Detail zu gehen: «jeder karn [enthält] in sich 13 Säcke, jeder Sack hat 2 Metzen. die meisten koln komen von Newcastle: es komen öffters 200 schiffe damit beladen zugleich an, der karn kostet 21/2 Pfund». «Zur reinigung der strassen» unterhält die Stadt London «4000 karn, von welchen täglich 2000 arbeiten». «Die Stattsschulden von England» aber rechnet man «über 2 hundert Millionen; man rechnete neustens aus, daß wan man diese Summa in Silber mit einer Zufuhr abzahlen müst; die Wägen dicht aneinander von London bis Yorck als 200 Meyl sich erstrecken würden, ungeachtet man nicht mehr auf jeden Wa­gen als 6000 Pfund legen könte.»

Vom 23. Mai bis 1. Juni 1791 erlebt Haydn das Händel-Fest in Westminster Abbey und damit etliche der berühmten Massenaufführungen händelscher Werke, so des Orato­riums Israel in Egypt, mit mehr als 1000 Mitwirkenden.

 

Bspl. 12: Händel, Israel in Egypt, Exodus / Chorus "He gave them hailstones" / ganz [2´20]

    (Monteverdi Choir and Orchestra / Sir Eliot Gardiner)

 

Händels Oratorien bleiben als monumentale Völkerdramen über ihre alttestamentari­schen Stoffe dem Sendungsbewusstsein des englischen Puritanismus verpflichtet: dem Sendungsbewusstsein der aufsteigenden Weltmacht England in der Rolle eines «neuen Israel» und auserwählten Volkes. Vom nationalen Pathos der frührepublikanischen Tra­dition des 17. Jahrhunderts inspiriert, weder feudalhierarchisch noch konfessionell ge­bunden, drängt Händels Musik mit ihrer um biblische Protagonisten zentrierten Thematik in die kosmopolitische Dimension sittlich-humanitärer Ideale. Eine populäre Kunst höchsten artistischen Niveaus, an der Haydn fasziniert haben dürfte, wie sich die feudal barocke Repräsentation mit dem rhetorischen Schwung frühbürgerlich liberaler Emphase zu durchsetzen beginnt.

Diesen Zug jedenfalls hat Haydn Anfang 1792 in der Symphonie Nr. 98 auskomponiert, wenn auch nun vom republikanischen Blickwinkel der Französischen Revolution her. In einer Symphonie also, deren Eröffnungssatz mit seiner gravitätischen Einleitung barocke Affektrhetorik zitiert und im pathetischen Duktus eines Streicherrezitativs von b-Moll über Ges-Dur und Des-Dur zur Dominante F-Dur führt.

 

Bspl. 13: Haydn, Symphonie Nr. 98, 1. Satz / Takt 1–15 [1´00]

    (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

Die Introduktion wird zu Beginn des Allegro-Teils in Dur wieder aufgenommen – nun be­schleunigt und mit einem spielerischen Doppelschlagmotiv die vormalige Strenge der Einleitung ins Graziöse auflösend: als sollte die Tradition dem neuen Ton der Musik gleichsam verführerisch anverwandelt werden. Und dies selbst noch in der Durchfüh­rung, die über weite Strecken in einer stellenweise an Händel erinnernden kontrapunkti­schen Arbeit verläuft; dynamisiert von Fanfarenimpulsen und einer motorischen Energie, die eine strategische Karte gegenläufiger Wege und exzentrischer Bahnen in Musik um­setzt. Eine Strategie freilich, die sich schließlich in einer tänzerischen Themenapotheose aufhebt.

 

Bspl. 14: Haydn, Symphonie Nr. 98, 1. Satz / ganz [8´10]

    (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt)

 

 

 

 

 

3. Affekte – Effekte

 

 

 

 

«Ich war über [Mozarts] Todt eine geraume Zeit ganz ausser mir und konnte es nicht glauben, daß die Vorsicht so schnell einen unersetzlichen Mann in die andere Welt for­dern sollte [...] Sie werden, bester Freund, die Güte haben, mir das Verzeichniß der noch nicht hier bekannten Stücke [Mozarts] mit zu schicken, ich werde mir alle erdenkliche Mühe geben, solche der Wittwe zum Besten zu befördern; ich hatte der Armen vor 3 Wochen selbst geschrieben, mit dem Inhalt, daß wenn ihr Herzens-Sohn die gehörigen Jahre haben wird, ich denselben unentgeltlich die Composition mit allen meinen Kräften lehren will, um die Stelle des Vaters einigermassen zu ersetzen.»

Als Haydn diese Zeilen im Januar 1792 an Johann Michael Puchberg, Mozarts Vertrau­ten der letzten Lebensjahre, schreibt, arbeitet er vermutlich gerade am langsamen Satz der Symphonie Nr. 98, der sich mit einer Huldigungsgeste vor dem Andante der Jupiter­symphonie verneigt und unter dem Eindruck von Mozarts Tod jede kontrastreiche Affekt­vielfalt zurückweist. Im Gegenteil: im symphonischen Spätwerk Haydns ist dieses F-Dur-Adagio einer der seltenen Sätze, die sich retrospektiv am Medium des barocken Zentral­effekts zu orientieren scheinen, hier an dem von Trauer und Schmerz.

 

Bspl. 1: Haydn, Symphonie Nr. 98, 2. Satz / ganz [6´10]

  (Cleveland Orchestra / George Szell)

 

Und doch: was nach den dunkel getönten Eingangssätzen der «lose, liberale Gang» der Symphonie Nr. 98 an Stimmungskontrasten zulässt, zeigt das Finale, das sich als Pasticcio und Capriccio mit dem Extrem der Affekte auskennt. Und mit dem Spiel der Formen, Motive und Hörerwartungen. Auch hier thematisiert die Musik eine Auseinan­dersetzung mit der Tradition, nun allerdings eine mit ihren anachronistischen Aspekten. Etwa wenn Haydn dem Sonatensatz mit ironischem Tonfall ausgedehnte solistisch kon­zertante Momente implantiert und dabei manche «agreeable caprice» liefert: Sei es durch einen Bruch in der Dynamik und in der Tonartenregie der Musik, die mit der «fal­schen» Tonart As-Dur ein Podest für zwei ausgedehnte Violinsolos Johann Peter Salo­mons, Haydns Impresarios, aufschlägt. Sei es, indem Haydn, der die Symphonie vom Cembalo oder Fortepiano aus leitete, sich selbst ein galant verzopftes Solo in die Hände schreibt. Dazu kommt noch Haydns berühmter Effekt im Spiel mit der Zeit, mit dem Hän­genbleiben der Musik auf stereotypen Motivrepetitionen, die das kompositorische Ge­triebe offen legen.

Dass der gemächlichere Ton der Soloepisoden von Violine und Fortepiano ein anderes Zeitgefühl ins Spiel bringt, ein Zeitgefühl, das in der Coda ausdrücklich mit «più mode­rato» markiert wird, hindert die Musik nicht daran, diese Ritardandi immer wieder dem kollektiven Presto-Furor zu integrieren. Haydn formuliert damit einen musikalischen Ex­kurs zur Beschleunigung der Zeit und des Zeitgefühls in einer Epoche, in der die frühe Industrialisierung und Proletarisierung in England, der «Werkstatt Europas», erste Spu­ren zeigt. Notiert nicht auch Haydn in sein Tagebuch: «Der Handwercksbursch arbeitet insgemein das ganze Jahr von früh 6 über bis 6 uhr abends, und hat durch diese zeit hindurch nicht mehr als anderthalb stunden zu seiner Disposition frey. Er hat die woche 1 guinee. muß sich aber selbst verkösten. Viele wer­den stückweis bezahlt. es wird Ihm aber jede Viertl stund seines ausbleibens abgerech­net. nur die schmiedsgesellen müssen des Tages um eine stund länger arbeithen.»

 

Bspl. 2: Haydn, Symphonie Nr. 98, 4. Satz / Takt 148–Schluss [4´05]

  (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen)

 

Der Uraufführungserfolg der B-Dur-Symphonie (Nr. 98) am 2. März 1792 war grandios – die Ecksätze mussten wiederholt werden. Was war das für ein Publikum, das auf die Anforderungen dieser anspruchsvollen zeitgenössischen Musik mit solchem Enthusiasmus reagieren konnte? Und das wohl auch Haydns Anspielung auf die Tempo- und Zeit­diskrepanzen als eine Grenze zweier Epochen verstand. Und damit die Anspielung auf einen Beschleunigungsschub, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen begann – bis hinein in die Geschwindigkeitsrendite militärischer Strategien, mit deren Taktik Napoleons Eilmärsche seine Gegner schon bald das Fürchten lehren werden.

Erschütterungen, Transformationen im Körper der Gesellschaft. Erschütterungen, Deto­nationen aber auch im Konzertsaal.

 

Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 94, 2. Satz / Takt 1–16 [0´35]

  (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti)

 

Auf die Frage Georg August Griesingers, Haydns frühen Biographen, ob es denn «wahr wäre, dass er das Andante mit dem Paukenschlag komponiert habe, um die in sei­nem Konzert eingeschlafenen Engländer zu wecken», antwortete Haydn: »Nein, [...] sondern es war mir daran gelegen, das Publikum durch etwas Neues zu überraschen und auf eine brillante Art zu debütieren, um mir nicht den Rang von Pleyel, meinem Schüler, ablaufen zu lassen, der zur nämlichen Zeit bei einem Orchester in London angestellt war und dessen Konzerte acht Tage vor den meinigen eröffnet wurden. Das erste Allegro meiner [94.] Sinfonie wurde schon mit unzähligen Bravos aufgenommen, aber der Enthusiasmus erreichte bei dem Andante mit dem Paukenschlag den höchsten Grad. Ancora, Ancora! schallte es aus allen Kehlen, und Pleyel selbst machte mir über meinen Einfall sein Kompliment».

Klingt die Schlaf- und Weckgeschichte für Haydns Tuttischlag auch allzu anekdotisch, ganz aus der Luft gegriffen scheint sie nicht, liest man sie von den damaligen Rezep­tionsgewohnheiten her. Glauben wir Albert Christoph Dies, dann hat Haydn den Besuch eines Londoner Konzerts während seines ersten England-Aufenthalts folgendermaßen geschildert: «Der erste Akt wurde gewöhnlich von dem Geräusche der spätkommenden Zuhörer auf mancherlei Art gestört. Nicht wenige Personen kamen von gutbesetzten Tafeln (wo die Männer nach Landesgebrauch – wenn sich nach der Mahlzeit die Damen in ein anderes Zimmer begeben haben – bei geistigen Getränken sitzen bleiben), nahmen im Konzert­saale einen bequemen Platz und wurden daselbst von dem Zauber der Tonkunst so sehr überwältigt, dass sie ein fester Schlaf überfiel.» Und hatte nicht auch Charles Burney beklagt: «Die besten Opern und Konzerte werden von einem Stimmengewirr und murmelnder Un­terhaltung begleitet.»

 

Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 94, 2. Satz / Takt 1–16 [0´35]

  (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti)

 

Natürlich sprengt der Fortissimo-Tuttischlag auf leichter, auf «falscher» Taktzeit am Ende des wiederholten ersten Themenhalbsatzes den Kontext mit einer besonders nachdrück­lichen Variante aus Haydns Surprisen-Repertoire. Dass sich Haydn mit diesem Coup je­denfalls nicht verspekuliert hatte, belegt der Erfolg der G-Dur-Symphonie bei ihrer Ur­aufführung am 23. März 1792, insbesondere der Erfolg des Andantes und seines Tut­tischlags, den die Presse in kurios bildhafter Weise kommentiert: «Der zweite Satz war den glücklichsten Eingebungen des großen Meisters durchaus ebenbürtig. Der Überraschungseffekt ließe sich der Situation einer schönen Schäferin vergleichen, die, vom Gemurmel eines fernen Wasserfalls eingeschläfert, durch den un­erwarteten Knall einer Vogelflinte aufgeschreckt wird.»

Haydn verdichtet in diesem Coup de théâtre, was seine späten Symphonien insgesamt auszeichnet: die Verunsicherung berechnender Rezeptionsmuster und damit die Verun­sicherung prophetischen Hörens. Mit souveräner Geste setzt der Komponist Erwartungs­klischees außer Kraft. Als Zeichen eines selbstbewussten Komponierens und Hörens und einer Autonomie, die regelwidrige Spontaneität als Freiheit des Subjekts interpretiert. Und dass der Tuttischlag am Beginn eines Andantes steht, das mit vier Doppelvariatio­nen die Charaktere seines Themas nach Art einer «Experimentalphysik der Seele» ent­faltet, ist ein Indiz mehr, wie sehr nach der Zeit feudaler Subordination das offene Expe­riment von Welt und Geschichte die mündige Praxis des Einzelnen und der Gattung ver­langt – im «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit».

 

Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 94, 2. Satz / ganz [5´40]

  (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti)

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Was sich im unerwarteten Tuttischlag des Andantes komprimiert, erweitern die Ecksätze der G-Dur-Symphonie zu einer extensiven Kunst des Unberechenbaren. Erzeugt der erste Satz, ein 6/8-Vivace, mit seiner über weite Strecken durchgehaltenen Achtel- und Sechzehntelbewegung insgesamt eine Atemlosigkeit, die eher an ein Finale erinnert, dann signalisiert bereits die von Beginn an durch motivisch-thematische Arbeit dynami­sierte Vielgestaltigkeit des Hauptsatzes, welche Wendigkeit des Hörens dieser Satz ver­langt. Und nicht nur das: die Durchführungspartie des «Vivace assai» erfordert zudem ein fein geeichtes dramaturgisches Sensorium für die technische Raffinesse, mit der die Musik den Widerstand des Materials thematisiert und zu einem dramatischen Cumulus bündelt.

 

Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 94, 1. Satz / Takt 18(W)–158 [2´50]

  (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti)

 

Vor allem das Finale der G-Dur-Symphonie wirkt mit seiner Ästhetik des Inkalkulablen, als wäre keiner seiner Wege im Voraus festgelegt. Ohne jede Wiederholung in der Formstruktur wird die motorische Energie dieses «Allegro di molto» von einer Triebkraft in Gang gehalten, die die thematisch-motivischen Gestalten unentwegt verwandelt und in dieser Kunst des Maskierens und Andeutens ihr ironisches Leben findet. Ganz im Sinne Goethes, der das ironische Elixier gleichfalls auf stete Veränderung und auf jenen Wech­sel hin denkt, in dem «das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulö­sendes» produziert. Dabei bringt der rastlose Prozess in Haydns Finale den Augenblick weder zum Verschwinden noch kostet er ihn aus; vielmehr integriert er ihn mit der Elo­quenz des Plötzlichen in eine Musik, die nichts Statisches und Ständisches mehr dulden will.

 

Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 94, 4. Satz / ganz [3´40]

  (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti)

 

Dass Haydn, um es mit den Worten des Komponisten zu sagen, «gegen die Reize ande­rer Frauenzimmer weniger gleichgültig» war, berührt auch einen biographischen und ästhetischen Aspekt seiner Londoner Aufenthalte. Auch von London aus unterhält Haydn den Briefwechsel mit Luigia Polzelli, der Geliebten aus den Tagen von Estherhazy; den Briefwechsel mit Marianne von Genzinger, der vertrauten, mütterlichen Freundin aus Wien und – spärlicher – die ärgerlich bittere Korrespondenz mit Maria Anna, seiner Frau. Darüber hinaus bekunden die Londoner Notizbücher manche Passion des Komponisten für die Damen der englischen Gesellschaft, denen Haydn auf Einladungen oder Empfän­gen begegnet: mehr als einmal liest sich das Kompliment vom «schönsten Weib auf Er­den», hieß es nun Missis Shaw, Mrs. Hodges, Anne Hunter oder Elisabeth Billington.

Vor allem war da die enge Freundschaft und wohl auch Liebesbeziehung zu Rebecca Schroeter, der reichen und gebildeten und, wie Haydn vermerkt, «schönen und liebens­würdigen» Witwe des von Mozart geschätzten Klaviervirtuosen und Komponisten Johann Samuel Schroeter, des Bruders von Goethes Freundin Corona Schroeter. Haydn hat die empfindsam schwärmerischen Briefe, die Rebecca Schroeter ihm zwischen den Junimo­naten 1791 und 92 in englischer Sprache geschrieben hatte, fein säuberlich in sein zweites Londoner Notizbuch übertragen; Briefe etwa wie den vom 7. März 1792: «Mein Lieber! Ich war sehr betrübt, dass ich mich letzten Abend so plötzlich von Ihnen trennen musste. Unsere Unterhaltung war ausnehmend interessant, ich hatte Ihnen tau­send zärtliche Dinge zu sagen. Mein Herz war und ist voll von Empfindung für Sie, doch keine Sprache kann auch nur halb so viel Liebe und Zuneigung ausdrücken, wie ich für Sie fühle, Sie werden mir mit jedem Tag meines Lebens teurer. Es tut mir sehr Leid, dass ich gestern so matt und wenig unterhaltsam war. Wirklich, mein Liebster, es war nichts als ein Unwohlsein infolge einer Erkältung, das meine Einsilbigkeit verursacht hat. Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Anteilnahme. Ich bin so gerührt von Ihrer Güte und versichere Sie, mein Lieber, ich hätte Ihnen mein Herz aufs vertrauensvollste geöffnet, wäre irgendetwas Beunruhigendes vorgefallen. Oh wie ungeduldig wünsche ich, Sie zu sehen! Hoffentlich kommen Sie morgen zu mir. Ich würde glücklich sein, Sie sowohl morgens wie abends zu sehen. Gott segne Sie, mein Geliebter, meine Gedanken und besten Wünsche begleiten Sie beständig [...]. Mein Liebster! Ich kann nicht glücklich sein, bis ich Sie sehe! Sagen Sie mir, sobald Sie es wissen, wann Sie kommen.»

Dass es bei Haydns amouröser Empfänglichkeit nicht um biographische Belanglosigkei­ten, um bloße Klatsch- und Tratschgeschichten geht, zeigen die Nuancen des ästheti­schen Eros in seiner Musik. Nuancen der Verflüssigung und der Verwandlung alles For­melhaften, die noch die ungemein differenzierte, ja zärtliche Sublimierung beleben, mit der in der Einleitung der 97. Symphonie die ebenso sinnliche wie spirituelle Parallelfüh­rung der ersten Violinen und Flöten eine galante Geste zum sprechenden Melos erweckt. Hat nicht auch Theodor W. Adorno anlässlich solcher Stellen geschrieben: «Wer ganz begriffe, warum Haydn im Piano die Geigen durch eine Flöte verdoppelt, dem könnte aufblitzen, warum die Menschheit vor Jahrtausenden aufgab, rohes Getreide zu essen, und Brot buk, oder warum sie ihre Geräte glättete und polierte».

 

Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 97, 1. Satz / Takt 1–13 [0´55]

  (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati)

 

Eine andere Spur des ästhetischen Eros, die nichts mit Einfühlung und Läuterung zu tun hat, wohl aber mit Übergang und Verwandlung und mit den Aufhellungen und Eintrübun­gen des Farbenspiels der Seele, zeigt sich im F-Dur-Adagio der Symphonie Nr. 97. Eine Spur ohne den Filter des Ideals in einem Variationen-Satz, der sein Thema zunächst mit Triolenfigurationen, dann in f-Moll variiert, schließlich einem für damalige Ohren uner­hörten Instrumentationseffekt aussetzt: den «sul ponticello» und «vicino al ponticello», also «am Steg» und «nah am Steg» schrill und zugleich fahl gespielten Violinen. An die­sen Variationen, die ein Thema durch verschiedene Stadien des Ausdrucks bis hin zur Auflösung in seufzermotivartige Splitter führen, zeigt sich Haydns von der Moderne des späten 18. Jahrhunderts geprägter Entwurf der Musik. Ein Gleiten der Affektbahnen, die das Themensubjekt zum Medium werden lassen, um an ihm den Zug der Zeit und des Stimmungswechsels zu demonstrieren. Allerdings ohne dem Monopol des sittlichen Cha­rakters unterworfen zu sein. Deshalb repräsentieren die großen Moll-Partien in Haydns späten Variationssätzen auch keinen tragischen und damit ethisch fundierten Grund, sondern lediglich eine Facette in der Fluktuation der Charaktere. So gleichen Haydns Va­riationssätze mit ihrer rhapsodischen Folge jenem Nullsummenspiel, von dem Georg Christoph Lichtenberg träumt; einem Spiel, bei dem man weder etwas gewinnen noch verlieren kann und das Lichtenberg mit dem Urteil kommentiert: «dieses schien mir ein wichtiges Spiel».

 

Bspl. 9: Symphonie Nr. 97, 2. Satz / ganz [6´50]

  (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati)

 

Fülle und Flüchtigkeit der Charaktere korrelieren bei Haydn einem Bewusstsein, das ge­gen die Unbeständigkeit der Affekte kein unerreichbares Ideal des Sollens und des Ethos postiert. Haydn steht damit dem Philosophen David Hume nahe, der den menschlichen Verstand als eine rasante Folge der Eindrücke und Vorstellungen begreift. Als ein «Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen», «die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind».

Ein Rapport rasch wechselnder Eindrücke also, wie ihn auch das Kaleidoskop der Auf­zeichnungen in Haydns Londoner Notizbüchern entfaltet: «Nehnadl, Scherrl und Messerl für Frau von Keeß»  /  «Mr Hunter ist der gröste und be­rühmteste Chyrurgus in London. Leicester Square.»  /  «wen Jemand 2 Pfund stihlt, wird Er aufgehangen, wen ich aber jemanden 2000 Pfund anvertraue, und dieser geht damit zum teufl, Jener wird freygesprochen.»  /  «den 14. Jenner 1792 brandte das Pantheon Theater um 2 uhr nach Mitternacht ab.»  /  «wen das weib Ihren Mann ermordt, so wird Sie lebendig verbrant, der Mann aber ingegentheil gehangen.»  /  «den 21. May war Giardinis concert in [Ranelagh Gardens] – Er spielte wie ein schwein.»  /  «den 5tn Ok­tobri war der Nebl so dick, dass man denselben hätte könen auf das brod streichen. ich muste um schreiben zu könen um 11 uhr licht anzünden.»  /  «Field a young boy, which plays the pianoforte Extremly well.»

Wie sehr das Rhapsodische und Gemischte auch das Finale der Symphonie Nr. 97 be­stimmt, erweist die Unmöglichkeit, den Satz nach Kriterien einer klaren Affektscheidung zu sondieren. Wie so oft bei Haydn schon von seiner Anlage her eine Kombination aus Rondo- und Sonatenform reicht die affektive Spannbreite des «Presto assai» vom erha­benen bis zum buffonesken Ton, noch dazu in einer Vielzahl von Legierungen. Schon diese Vielfalt verhindert, dass Haydns Kompositionen den Formprozess zur Sinnres­source des Ideals aufladen oder zur Einheit des ethischen Charakters, der stets Gefahr läuft, sich die Saturnalien der Musik austreiben zu lassen. Und wenn das Finale gegen Ende zweimal gestaut wird, wirkt dieses Innehalten nicht wie ein desillusionierender Riss, sondern eher wie ein sensibler akustischer Fingerzeig, dass das Enden von Musik den Übergang zur Welt des Realitätsprinzips bedeutet.

 

Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 97, 4. Satz / ganz [5´15]

    (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati)

 

Die Zeit des ersten Londoner Aufenthalts geht zu Ende. Im Juni 1792 unternimmt Haydn noch verschiedene Reisen, so zum Riesenteleskop des Astronomen Wilhelm Friedrich Herschel: «dieses ist 40 Fuß lang und 5 Fuß in Durchschnit, die Maschine ist sehr groß, aber so künstlich, daß ein einziger Mann die ganze Maschine mit leichter Mühe in Bewegung setzen kan.» Und Haydn reist zum Pferderennen nach Ascott: «der Reitter ist ganz leicht gekleidet von Seiden und Jeder von einer andern farbe, damit man Sie desto gewisser bestimmen kan, ohne Stifl, ein kleines cascet auf den kopf, alle mager wie die windhund, und ihre pferde, ein jeder wird abgewogen, und wird ihm ein gewisse schwere, welche den kräften des Pferds a proportione angemessen, zugetheilt, und ist der Reiter zu gering, muß Er sich dichter anziehen oder man hängt Ihm bley an. die Pferde sind von der allerfeinsten gattung, leicht, sehr dünne füß, [...] so bald Sie den Ton der glocke hören, laufen Sie augenblicklich mit der grösten Force ab.»

Ende Juni, Anfang Juli 1792 verlässt Haydn London. In weniger als zwei Jahren wird er erneut in der englischen Metropole eintreffen – mit noch größerem Erfolg dann: ein wah­rer «Souverän der Musik».

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