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© Johannes Bauer, Clinamen (Fäden, Netze, Stoffe) (2013), 47,7 x 36 cm, Acryl, Tusche auf Papier

Fäden, Netze, Stoffe

Lineares in der Neuen Musik

Seitdem Newtons „absolute, wahre und mathematische Zeit“(1) physikalisch von den Eigenzei­ten der Relativitätstheorie durchsiebt ist; seitdem empirisch nahezu jede Alltagser­fahrung in diverse Reiz- und Wahrnehmungsrhythmen zersplittert; seitdem schließlich auch ästhetisch die Geschlossenheit des Komponierten durch variable Formen gesprengt werden kann: seitdem geraten Linearität und Lineares zunehmend in Konkurs. Seit Einsteins Relati­vierungsschock und seit den Wahrscheinlichkeits- und Zufallstendenzen des Quantenkosmos erinnert der Begriff des Linearen zu sehr an Regelwerke des Geraden, an die Direktheit kür­zester Verbindungen, an Geodäten und Euklidische Geometrie, an deduktive Filiationen und zielgerichtete Kausalität. Zumindest was die Dimension der Zeit betrifft, mit der es Kompo­nieren doch vornehmlich zu tun hat. Und nur noch mit Rührung lassen sich in Anbetracht der Fülle neuer musikalischer Zeitmodelle so manche Verbotstafeln zur besten aller möglichen komponierten Zeitstrukturen lesen: „Nichts Musikalisches [...] hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes be­stimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorhergehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander.“(2)

          Längst schon zerfasert das seit Jahrhunderten normgebende Fünf-Linien-System abendländischer Musik. Etwa in Cages Entgrenzung der Notation zu einer Schrift zweiter Ordnung, mit einem ersten Höhepunkt in der Solostimme des Concert for Piano and Or­chestra und ihren Drehfiguren horizontaler und vertikaler Beliebigkeit. In solchen Umbrü­chen hochbetagter Schrift- und Zeichenarmaturen werden die Graphismen zum Logbuch eines Experiments, das sich gegen die Sinnraster herkömmlicher Lineaturen richtet. Vor al­lem gegen die Sukzessionslogik des Ersten und Folgenden, des Früheren und Späteren, in der Nietzsche die Regulative einer zeitfixierten Moral erkennt. Selbst wenn wir zwischen einer Umkehrung der Zeit und einer Umkehrung in der Zeit unterscheiden müssen: Delinea­risierungen solchen Ausmaßes bleiben der Musik und dem ästhetischen Bewusstsein wahr­nehmungssemiotisch alles andere als äußerlich.

 

 

Linie gestisch

 

Melodische Linien ziehen, Spannungsbögen straffen: beides verweist auf Gestisches. Linien verzweigen sich zu Lineamenten, in deren Konfiguration sich dem Lateinischen das mimi­sche Spiel der Gesichtszüge und ihrer linearen Verwandtschaftsstränge offenbart. „Linea­mentorum qualitas matri ac filio similis”. Wenig verwunderlich also, dass gerade das indivi­duelle Profil der melodischen Linie mit ihrem Filigran aus Mikrokonturen ein subjektiviertes Ich repräsentieren konnte, das als Subjekt musikgeschichtlich früh mit dem Begriff des Themas verwechselbar wurde. Die markante Physiognomie melodischer Linien steht für Identifizierbarkeit und Sicherheit im Akt des Hörens und dessen Selbstvermittlung im musi­kalischen Diskurs. Deshalb wohl sind sich Melodie und Ritornell so überaus nahe: im Ri­torno als Rückkehr und Heimkehr im Wiedererkennen.

          Melodische Linien gehören zum Repertoire einer Musik der Repräsentation. Dass etwa Wolfgang Rihms Violinkonzert Gesungene Zeit eine Art kontemplativer Gestimmtheit zwischen Versenkungsemphase und Transzendenzverlangen zelebrieren kann, gründet - ab­gesehen von der traditionellen Emotions- und Gestensprache - in der Monoakustik einer Mu­sik, die „immer Gesang“ ist.(3) Der an eine singulare Linie gebundene Bogenverlauf der Kompo­sition sucht den Faden, nicht das Gewebe. Es ist die melodische Silhouette der Ein­zellinie, auf der Rihm auch begrifflich insistiert. So „spricht die Violine ihre Nervenlinie in den Klangraum“. „Die Linie selbst“ jedoch: „ist sie ein Ganzes? Alles ist nur Teil, Segment, Bruchstelle“(4). Was aber könnte in Rihms Konzert die solistische Identität, die durch nichts zu irritieren ist, und mit ihr die Konsistenz des Ichs besser gewährleisten als die Spur der li­nea singularis?

          Eine lineare Musik solcher Fasson mag zwar von der Geschichte des heroischen Subjekts her und mit rückwärts gewandtem Ohr gegen die zunehmende Entsubjektivierung Widerstand anmelden: Die Belange des Status quo, dessen multiple Zeit- und Funktions­fluktuationen geradezu nach einer kompositorischen Formation und Transformation verlan­gen, bleiben ihr fremd. Anstatt mit der Einsicht in die notwendige Zerfallsgeschichte des Subjekts über das Subjekt-Monopol hinauszudenken, gilt einer Musik der einsamen Linie und ihrem neoexpressionistischen Formenkreis jede emotionsresistent transsubjektive Über­schreitung als antihumanistischer Verrat im Zeichen einer unmenschlich gewordenen Kunst. Und doch interessieren die radikale Neue Musik gerade solche transsubjektiven Erkundun­gen, die das diskret Lineare in die Polyakustik rhizomatischer Gewebe auflösen.

 

 

Linie vernetzt

 

Auch rhizomatische Kompositionen basieren auf Linearem - allein schon aufgrund der Ge­richtetheit der Zeit -, auf Linearem allerdings im Plural, das seine wie zu Fäden und Ge­spinsten verstofflichten mikrolinearen Klangfasern antilinear verzweigt und verästelt. Ohne jede mittelpunktszentrierte Ordnung verwandelt das Rhizom Strukturgefälle in transversal vernetzte Texturen: dezentriert, variabel, polymorph. Indem das Rhizom „einen beliebigen Punkt mit einem anderen“ verbindet und „jede seiner Linien [...] nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien“ verweist(5), bleibt es an universellen Verknüpfungen interessiert. Unbe­kümmert um Brüche und Widersprüche unterwandert es Territorien und bricht sie auf, indem sein wildwüchsiges Spross- und Wurzelwerk die Details wuchern lässt. Für Pierre Boulez jedenfalls wurde die Methode der „prolifération“ zu einer Leitinstanz der kompositorischen Arbeit.(6)

          Rhizome, delinearisierte Lineamente. Auch Isabel Mundrys Quartett no one entfaltet Zeit aus den Eigenzeiten der jeweils mit separater Taktierung notierten Streicherstimmen. Ihre asynchronen Einzellinien synchronisieren sich im hochbeweglichen Netz einer Musik der heterogenen Verläufe zu einer mehrdimensionalen Zeitlichkeit im Spannungsraum von Zufall und Ereignis. Polyphonie wird in Mundrys Rhizom à quatre als eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Polychronie unterschiedlicher Zeitwahrnehmungen. Ein lineares Geflecht mit „Linien der Artikulation“, mit „Schichten und Territorialitäten“; aber ebenso mit „Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung“ einschließlich ihrer ver­schiedenen „Fließgeschwindigkeiten“ von „Verzögerung“, „Überstürzung“ und „Abbruch“.(7) Die Komponistin selbst gebraucht für das Tableau von no one das Bild von vier Reisenden, die auf dem Weg vom Centre Pompidou zum Eiffelturm zwar alle die Seine überqueren, alle durch St. Germain müssen, dazu aber verschiedene Routen und Tempi wählen, sich gele­gentlich treffen, einige Schritte gemeinsam gehen, um sich dann wieder zu trennen. Nicht nur dass hier die Linie über den Begriff der Route bedeutsam wird: indem Mundry zudem auf zentralafrikanische Webmuster als eine der Inspirationsquellen ihres Quartetts verweist, erweitert sich die Etymologie der Linie zu deren ursprünglich stofflicher Basis, von der linea zum linum, vom Leinenfaden zum Gewebe.

          Gewebe - auch dies ein häufiger Topos in der Exegetik Neuer Musik. Cage greift ihn anlässlich seiner Komposition Sixty-eight mit der Metapher des „audible cloth“ auf. Ohnehin flechten die Klangfadenlinien seiner späten Zahlenstücke die Musik zum „hörbaren Stoff“; organisiert über flexible oder fixe „time brackets“ und einem „brushing in and out“ der Töne in die Zeit und aus der Zeit. Es ist dieses absichtslose Fließen aus Verknüpfungen und Auf­lösungen, das die „Number pieces“ zwischen verschiedenen Dichte- und Transparenzgraden wuchern lässt. Eine akausal energetische Musik ohne jede lineare Zielrichtung, an der das Hörbewusstsein kausaler Sinnbezüge abgleitet. Stattdessen: Zeitlabyrinthe, offen, ausschnitthaft. Ein fraktales Dereglement der Linie zu „linearen Vielheiten mit n Dimensio­nen“(8), abseits einer jeden hierarchisch vorgängigen Einheit.

 

 

Linie linienlos

 

Gibt es somit heute überhaupt die Möglichkeit, Lineares als Linie ohne nostalgische Rück­bindungen an die Subjektrepräsentanz zu komponieren? Es sind vor allem etliche Werke Morton Feldmans, die auf nahezu rätselhafte Weise hörbar machen, wie Neue Musik, die nicht mehr unerbittlich in Waffen steht, sich dem Rhizom entziehen kann, ohne dem Identi­fikationssog des Melodischen zu erliegen. Indem ihre zeitgedehnten, nicht mehr durchhörba­ren Modulationen von Mikrovarianten das einst auf wenige Takte konzentrierte Subjekt­emblem der Melodie zur transsubjektiven Qualität des Melos weiten, versiegelt sich Feld­mans Musik gegen die Innerlichkeitsform des Gedächtnisses. Mnemonische Ordnungs- und Ortungsfilter, die sich traditionell an der Prägnanz rhythmisch-melodischer Episoden orien­tiert hatten, lösen sich auf. Dabei bindet sich die postheroische Gelassenheit des Langsamen und Leisen in Feldmans „großem Maßstab“ weder an eine hinter dem Komponierten lie­gende Idealgestalt noch an eine im Komponierten präsente Realgestalt des Melos, weder an ein platonisches Ur-Melos noch an eine hybrid unendliche Melodie im Sinne Wagners. Eher schon ist es die Zeit, die „die Linie und den Zusammenhang her[stellt]. Die Zeit selbst wird zum lyrischen Ton. Es ist, als ob sie eine Melodie singen würde, die gar nicht da ist.“(9) An­statt das Komponierte auf das Sinngebungs- und Einheitsverlangen der kognitiven Regie hin zu hören, ja zu verhören, emanzipiert Feldman die Linie vom Stringenzgebot des Linearen und nähert die ästhetische Wahrnehmung einem ungedeckten Geschehenlassen an. Eine Szenerie des Unwägbaren, die den Erwartungshorizont der Musik unablässig irisieren lässt.

          Wie Cy Twomblys Malerei lässt auch Morton Feldmans Spätwerk eine Atmosphäre des Mediterranen spüren, eine Art Heiterkeit des Maritimen. In leichten Wellen nur, die ebenso unmerklich wie spurlos verschwinden, kräuselt die Bahn der Töne die Klangfläche. Nach dem Umfahren des Kaps Bojador der Neuen Musik mit all seinen Sirenen des Schre­ckens entdeckt Feldmans Passage von der Schwere zur Schwebe einen helleren Kontinent des Komponierens. Ohne im seichten Gewässer des Trivialen und Belanglosen zu stranden, öffnet sich ein Freiraum des Aufatmens abseits der Unwetter so mancher Katastrophenmu­sik. Musik wird hier nicht auf Linie gebracht. Indem sich ihr Melos synthetisch verweigert und - imaginär eine Linie ohne Linie - syndetisch ins Offene läuft, wandelt sich der Transit der Klänge zu einer bilderlosen Fahrt ins Unbekannte. Sah nicht schon der römische Blick im stofflichen Grund der Linie, im linum, den Umriss des Segels und in ihm den Aufbruch zu neuen Ufern?

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Anmerkungen

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 1 Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, übersetzt von Jacob Philip Wolfers, Berlin 1872, S. 25.

 2 Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle, in: Adorno, GS 16, S. 518.

 3 Wolfgang Rihm im Booklet zur Einspielung des Violinkonzerts mit Anne-Sophie Mutter, James Levine und dem 

    Chicago Symphony Orchestra, Deutsche Grammophon 1992.

 4 Ebd.

 5 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 34.

 6 Pierre Boulez, Wille und Zufall, Stuttgart/Zürich 1977, S. 15 und passim.

 7 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, S. 6.

 8 Ebd., S. 34.

 9 Brief Morton Feldmans vom 4. 11. 1976 an Samuel Beckett, in: Programmheft Arnold Schönberg, Die glückliche

    Hand / Morton Feldman, Neither, De Nederlandse Opera, Amsterdam 1991, S. 27.

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