Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten
Goethes musikalisches Denken
Abweichend von Untersuchungen, die sich mit der Bedeutung der Musik in Goethes Leben, in seiner Kunstanschauung und Dichtung oder mit der Ästhetik der Vertonungen seiner Werke beschäftigen, analysiert der Essay »Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten« Goethes Oeuvre selbst nach musikalischen Kriterien: über Korrespondenzen zu Mozarts und Beethovens kompositorischem Denken und dessen Erkenntnis- und Deutungscharakter. Ausgehend von Goethes Ambivalenz gegenüber Beethoven wird die Bewunderung des Dichters für Mozart unter dem Aspekt einer Wahlverwandtschaft vorgestellt. Thematisiert wird vor allem die Basis dieser Wahlverwandtschaft: das Spiel mit zentrifugalen Formkräften, die Artistik des Unerhörten und die Inszenierung des erfüllten Augenblicks. Thematisiert wird aber auch die Wechselwirkung dieser Dramaturgie des Regelwidrigen und der Übertretung des Gewohnten aufgrund eines Widerstands gegen die ökonomisch beschleunigte Durchdringung der Sprache mit jener Kommunikationsnorm des Nützlichen, des Kalküls und der Entsinnlichung, die den poetischen Ausdruck zunehmend ins Bizarre und Verrückte abdrängt. Neben einer Präzisierung der gattungsspezifischen Besonderheiten des poetischen und des musikalischen Diskurses wird Goethes Dichtung - in Übereinstimmung mit Mozarts Musik - als eine der Verschwendung und der Überschreitung des Moral- und Rationalitätskorsetts ihrer Zeit charakterisiert: als eine Dichtung somit, die gerade dadurch jene »dämonische« Aura annimmt, die Goethe zufolge die Verstörung bürgerlicher Erfahrung und Vernunft auszeichnet. Auch wenn diese Produktivkraft des schöpferischen Eros, der Maske und der Verwandlung dem Arbeitsprinzip und dem Ethos der sogenannten mittleren Stilperiode Beethovens entschieden kontrastiert, ergeben sich gleichwohl enge Beziehungen zwischen Goethes und Beethovens letzten Werken: sofern deren Tektonik und Rhetorik nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution, nach der Entzauberung transhistorischer Ideale und inmitten der frühindustriellen »Unrast« des »Reichtums und der Schnelligkeit- (Goethe) auf ihre Beschwörungen und Brüche hin durchlässig werden. Der zweite Teil des Essays untersucht insbesondere die Risse, die das Alterswerk Goethes als Spuren vom Zerfall geschlossener Weltmodelle zu Beethovens späten Streichquartetten in Beziehung setzen. Erörtert wird, warum und auf welche Weise sich die Zurüstungen und Stilisierungen beider Spätwerke - ihr enzyklopädischer und didaktischer Anspruch, ihre Stilistik des Lakonischen und Elliptischen, ihr Hang zur Sentenz und zum Manierismus - zu einer Ästhetik des Exzentrischen schärfen: in Opposition zur tödlichen Mitte der Konvention, gezeichnet vom Trauma und von der Prosa der Welt.
Für Elvira Seiwert
Um die Musik Goethes soll es im Folgenden gehen, um die Musik in Goethes Sprache. Mit gelegentlichen Seitenblicken auf Mozart und den späten Beethoven. Ohne die Unterschiede zwischen Poesie und Musik zu verwischen, werden meine Ausführungen also weder die Bedeutung der Musik in Goethes Leben, seiner Dichtung und Kunstanschauung thematisieren noch ihren Rang in Vertonungen seiner Werke.
Beginnen wir mit einer Erfahrung Theodor W. Adornos. Goethes Sprache, so sein Essay Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie,
überflutet derart das Sichtbare, daß sie, trotz der gerühmten visuellen Genauigkeit, in Musik hinüberspielt. (...) Wer als Kind bei einer klassizistischen Aufführung der Iphigenie, mit Hedwig Bleibtreu, zugegen war, wird sich daran erinnern, wie unsichtbar gleichsam das Ganze eilends vorüberzog, wie weit ab von aller gegenständlichen Sinnlichkeit, so daß der Sinn darüber entglitt.(1)
Entgleiten von Sinn, gegen den Begriffsballast der Sprache: ist das das Musikalische bei Goethe? Liegt es in der geweiteten Grammatik und den gewagten Wortkonstellationen des Spätwerks? Oder eher in den Experimenten der Sturm-und-Drang-Zeit? In den Gedichten der Jahre 1772-75 mit ihren Regelwidrigkeiten des Satzbaus; im pindarischen Sprachtaumel von Wandrers Sturmlied, das doch so präzis kalkuliert ist? Zumal Goethe selbst von den Gedichten in freien Rhythmen als von »Halbunsinn« spricht und damit auf die entgrenzte Bedeutung einer musikalisch entregelten Sprache zielt?(2) Liegt das Musikalische womöglich in den Gräzismen der Iphigenie, in dem, was Adorno ihren Hang zur »natürlichen«, »gewaltlosen« Rede, zur »désinvolture« nennt, in der sich der »Krampf des Wortes« löst?(3) Oder korrespondieren all diese Facetten untergründig miteinander?
Natürlich provozieren solche Überlegungen den Einwand, ob denn nicht jede Dichtung musikalische Elemente aufweise. Allein schon aufgrund ihrer Entlastung von der Argumentationslogik. Hier hilft nur Differenzierung weiter. Und sie bedeutet in unserem Fall, Goethes Werk im Zeitkontext zu lesen. Im Unterschied zu Schiller etwa. Deshalb zunächst zwei Äußerungen Goethes über den Weimarer Dichterfreund. Äußerungen, die um den Zusammenhang von »Arbeit«, »Anstrengung«, »Gewalt« und »Idee« kreisen wie die folgende: »Schiller hat in seiner Natur etwas Gewaltsames«; »er handelte oft zu sehr nach einer vorgefassten Idee ohne hinlängliche Achtung vor dem Gegenstande, der zu behandeln war«(4). Andernorts ist die Rede davon, daß Schiller »mit unsäglicher Anstrengung arbeite«, da »seine Begriffe von dem Ideal, nach dem er hinauf arbeitete, (...) zuweilen etwas überspannt und abenteuerlich« waren.(5)
Falls hinter solchen Quellen aus zweiter Hand eine parteiische Goethe-Verehrung stehen sollte: Aussagen wie die zitierten können von Goethes Schriften her gestützt werden. So favorisieren die Maximen und Reflexionen den empirischen Ansatz von unten, der als der eigentlich poetische vom Besonderen ausgehe, im Kontrast zu Schillers Ansatz von oben, vom Allgemeinen, von der Idee her. Und was die Arbeit anbelangt: nicht daß Goethe nicht gearbeitet hätte; nur war sein Arbeiten spielerisch grundiert. »Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben kommt und solange die Lust daran währt«, äußert er 1807 Riemer gegenüber.(7) Und ist nicht schon Goethes Produktionsweise des Diktierens eine Zwitterform aus Spiel und Arbeit?
Hier zeigen sich erste Parallelen zu Mozart, dessen vielfach dokumentierte burladorhafte Nervosität sich beim Komponieren zur beweglichen Freiheit des Geistes wandelt. Vergleichbar derjenigen Goethes, der die Wahlverwandtschaften diktiert, also einen Roman spricht, dessen Detailkosmos atemberaubend ist. Bekannt ist der Bericht, Goethe habe während einer Wagenfahrt zwischen Jena und Weimar vor der schriftlichen Fixierung der Wahlverwandtschaften ganze Partien daraus erzählt, »als ob er von einem Buche abgelesen habe«(8). Bekannt auch Schillers Bewunderung der raschen und leichten Entstehung von Hermann und Dorothea oder – im Fall Mozarts – die Geschichte von der Niederschrift der Don Giovanni-Ouvertüre wenige Stunden vor der Uraufführung. Daß die Agilität solcher Produktion ins Innere der Werke weist, liegt auf der Hand.
Wie sehr die Manie der Arbeit mit Beginn der industriellen Revolution sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen wie des privaten Lebens zu durchdringen beginnt und »immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite (bekommt)«(9), hat Goethe illusionslos erkannt. Ich verweise nur auf das Pandora-Festspiel oder den zweiten Teil des Faust. Wie sehr freilich das Arbeitsmodell selbst in die Sphären von Kunst und Philosophie eindringt, demonstrieren Goethes Zeitgenossen Beethoven und Hegel. Bei ihnen agiert der musikalische, der theoretische Geist als »Werkmeister«(10), um das Dogma von Thema und These aufzulösen, neu zu erarbeiten und damit zu legitimieren. Goethe selbst reagiert auf den wachsenden Arbeitsfuror, indem er dessen Dynamik aufnimmt, also etwa die Sprache gegen den Sog des Bezeichnens und Kennzeichnens verflüssigt. Hören wir Goethe selbst, wenn er anläßlich einer Charakterisierung des Griechischen und Lateinischen unterderhand sein eigenes Sprachverständnis formuliert.
Welch eine andre wissenschaftliche Ansicht würde die Welt gewonnen haben, wenn die griechische Sprache lebendig geblieben wäre und sich anstatt der lateinischen verbreitet hätte. (...) Das Griechische ist durchaus naiver, zu einem natürlichen, heitern, geistreichen, ästhetischen Vortrag glücklicher Naturansichten viel geschickter. Die Art, durch Verba, besonders durch Infinitiven und Partizipien zu sprechen, macht jeden Ausdruck läßlich; es wird eigentlich durch das Wort nichts bestimmt, bepfählt und festgesetzt, es ist nur eine Andeutung, um den Gegenstand in der Einbildungskraft hervorzurufen. Die lateinische Sprache dagegen wird durch den Gebrauch der Substantiven entscheidend und befehlshaberisch. Der Begriff ist im Wort fertig aufgestellt, im Worte erstarrt, mit welchem nun als einem wirklichen Wesen verfahren wird.(11)
Hier liegt Goethes Poetologie programmatisch vor uns: ihre Ablehnung des ‘Befehlshaberischen’ und ‘Erstarrten’ einer Sprache, die zur begrifflichen Totenmaske der Welt versteinert. Namentlich das Wort vom »bepfählen« zielt gegen eine Sprachgewalt, die die Pflöcke der Signifikanz imaginationsblind ins Buch der Welt rammt. Ein Einspruch Goethes gegen den Zungenschlag auch seiner eigenen Epoche, die sich zum Nützlichen hin abschleift und das poetische Ingenium in die Sphären der Phantasie abdrängt oder in die Not des Verstummens. »Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen, / Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?« So Hölderlins Elegie Heimkunft von 1801. Untergründig kreist die Kritik Goethes um die Identifikationssucht des Urteils. Zumal die zweiwertige Logik des Richtig und Falsch und ihre moralische Tiefenperspektive des Gut und Böse sind ihm in ihrer Rigorosität verdächtig. Goethes Sprache, die mitunter wie vom Schlaf der Semantik verzaubert scheint, mißtraut der Besetzungs-, der Besatzungskraft des Satzes gegenüber Dingen und Welt. Der Satz als Gesetztes, als Satzung und Gesetz der Sprache, gerinnt in seiner Richterfunktion zum gegenpoetischen Schwergewicht, zur Entscheidungswillkür eines Geredes, in dem »immerfort wiederholte Phrasen sich zuletzt zur Überzeugung verknöchern«(12).
Gebündelt finden sich solche Motive schon im Werther, der der Scheinalternative des Entweder-Oder die ‘mannigfaltige Schattierung’ von »Empfindungen und Handlungsweisen« entgegenhält.(13) Eine ‘herabgeorgelte’ Periodik(14) und die »gewöhnliche Terminologie« der Wortschablonen(15) werden ebenso mißbilligt wie jene sittliche Selbstgefälligkeit, die sich anmaßt, Kausalketten gottgleich zu überschauen und abzuurteilen.
Daß ihr Menschen (...) gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! (...) Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein.(16)
Grundiert wird die Wertschätzung der Gefühle und ihre Sprache der »Inversionen«(17) von einer Grammatik der Psyche, die eher abbricht, als ihre Leidenschaft in falscher Verbindlichkeit einzudämmen. »Ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrücken«(18).
Auf den Spuren von Goethes musikalischem Denken begegnet also sehr bald das Unbehagen am verdinglichten Wort und die Sensibilität gegen das Schnellgericht einer urteilend verurteilenden Sprache. Daß die Urteilsform des Satzes auf Geschlossenheit zielt, bedingt die Gefahr der »Erstarrung«. Daß die Konvention der Sprache das Urteil durch Wiederholung zum Vorurteil verkürzt, bedingt die Gefahr der Verhärtung. Goethe wußte, daß erst unter dem Pflaster der Vorurteile der Strand der »exakten sinnlichen Phantasie« liegt, »ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist«(19). Seine Pfingstzeit der Sprache ist eine Antwort auf das Klischee; sein schöpferischer Eros ein Aufbrechen der Wortgitter und des Sprachgefängnisses gemäß der Devise: »Und umzuschaffen das Geschaffne, / Damit sichs nicht zum Starren waffne«(20).
Zweifellos spielt die schon von Zeitgenossen an Goethe hervorgehobene Lust der Verwandlung nicht nur biographisch eine Rolle. Goethes Lebensmotive der Erneuerung und Verjüngung, seine Rede vom »Wiedergeborenwerden«(21), vom ‘Schalen abwerfen’(22), vom ‘Ablegen der Schlangenhaut’(23) oder von der »wiederholten Pubertät«(24) sind Gleichnisse auch seiner Dichtung. Goethes »Proteus-Natur, sich in alle Formen zu verwandeln, mit allen zu spielen, die entgegengesetztesten Ansichten aufzufassen und gelten zu lassen«(25), ist auch die seiner Sprache. Sie gewinnt etwas unentwegt Sich-Häutendes, Schlangenhaftes; ein schillerndes Gleiten, das oft genug ins Paradies einer grandiosen Weltillumination geleitet. Der »lose liberale Gang«, den Zelter Goethe gegenüber an »gewissen Symphonien von Haydn« rühmt(26), ist der von Goethes eigenem Schreiben: die Gedanken am langen Zügel laufen lassen, Umwege, Labyrinthe nicht scheuen.
Mit dem Verlassen eingefahrener Sinnbahnen entbindet Goethe den Überschuß des unendlich Interpretierbaren. Daß seine Sprache die Bedeutungsnorm überschreitet, läßt sie den Sinn weiten, musikalisieren, verrätseln. Virtuos durchgespielt im Märchen, das »zugleich bedeutend und deutungslos« sein will, »an nichts und an alles erinnert«(28). Besser kann nicht umschrieben werden, wie die Fülle der Sinnbezüge in jenes Entgleiten des Sinns umschlägt, von dem eingangs die Rede war: unfassbar der logisch abgehärteten Gewöhnung. Die Eindeutigkeit der Zuordnungen im gelockerten Satzgefüge aufzuheben, ist eine der Eigenheiten in Goethes Altersstil. Seine Vorliebe für Perioden ohne Konjunktionen oder Prädikate bringt die Satzelemente aus dem Takt des Regelhaften: hin zu einer eher musikhaften Grammatik assoziativer Korrespondenzen. Solche Deregulierungen verwandeln Sprache in den Wunsch, von Funktionalität freigesetzt zu sein, ohne sich im Ordnungslosen zu verlieren.
Der Beginn des zweiten Gedichts aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten zeigt diese gleitende Logik in Vollendung.
Weiß wie Lilien, reine Kerzen,
Sternen gleich, bescheidner Beugung,
Leuchtet aus dem Mittelherzen
Rot gesäumt die Glut der Neigung.
Nicht nur ein erstes Lesen sucht hier vergebens nach einem an gängige Satzmuster gebundenen Sinn in Mustersätzen, zumal der Sachverhalt, daß es sich in dieser Strophe um ein Bild »frühzeitiger Narzissen« handelt, erst aus dem zweiten Teil des Gedichts ersichtlich wird. Zwar lassen sich das Prädikat »leuchtet« und das Subjekt »Glut der Neigung« ausmachen, die Klärung eines Objekts jedoch stößt auf Schwierigkeiten. Die Reihung »Weiß wie Lilien, reine Kerzen, / Sternen gleich, bescheidner Beugung,« ist als schwebendes Attribut mit dem Folgenden äußerst leicht verbunden. Außerdem irritiert eine weitere Eigentümlichkeit in Goethes Spätstil: seine Vorliebe für adjektivische und adverbiale Genitivkonstruktionen: »Sternen gleich, bescheidner Beugung,« heißt es. Dazu kommt noch die außergewöhnliche Verdichtung »Mittelherzen«. All dies verwandelt sich in einen mehrschichtigen Bildfluß. In eine sprachliche Art der entoptischen Spiegelung, auf die Goethe so große Stücke hielt, weil in ihr die »Erscheinungen (...) von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden«(29). Mit Musik aber hat diese gleitende Logik insofern zu tun, als Musik sich von der Funktionslogik löst, ohne unwahr zu werden.(30)
Lassen Sie uns hier einen anderen Weg einschlagen. Bekanntlich spielt die Weberei für Goethe eine besondere Rolle. Nicht nur ihren akustischen Umständen nach, wie in der Geschichte mit Goethes Nachbarn, dem Leineweber Herter, den der geplagte Dichter mitsamt dem Lärm der Webstühle seit 1793 vergeblich loszuwerden suchte. Daß Goethe von der sinnbildlichen Ikonographie des Webens fasziniert war, belegt seine häufige Rede von »Zettel und Einschlag«. Das Ineinandergreifen von »Zettel«, also den längsverlaufenden Kettfäden des Webstuhls, und »Einschlag«, den vom Schiffchen quergezogenen Schußfäden, repräsentiert ihm das lebendige Gleichnis des Verwobenseins von Natur und Geschichte, von Dauer und Wechsel, von Gesetz und Erscheinung. Großartig formuliert im Antepirrhema aus Gott und Welt:
So schauet mit bescheidnem Blick
Der ewigen Weberin Meisterstück,
Wie ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein hinüber herüber schießen,
Die Fäden sich begegnend fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt!
Das hat sie nicht zusammengebettelt,
Sie hats von Ewigkeit angezettelt;
Damit der ewige Meistermann
Getrost den Einschlag werfen kann.(31)
Mag Goethe im dritten Buch der Wanderjahre das Spinnen und Weben auch bis ins Einzelne behandeln: mir geht es weniger um Details des Weberhandwerks als um den Vergleich zwischen Gewebe und Text, den schon der lateinische »textus«-Begriff zieht: in seiner Doppelbedeutung als »Geflecht« und als »Zusammenhang der Rede«. Es geht darum, Sprache für einen Augenblick textil zu begreifen: als Text, als eine filigrane Textur, in der sich die Erfahrung von Welt in mannigfaltigsten Mustern bricht. Goethe selbst spricht ja von seinen Schriften als von »unzähligen Webereien und Strickereien«.(32) Erste Gemeinsamkeiten sind offenkundig. Wie das Weben so ist die Sprache darauf verwiesen, daß die Fäden sich nicht verwirren, daß sich im Gewirr der Worte der gedankliche Faden nicht verliert und auflöst. Wie die Kett- und Schußfäden sich gegenseitig verriegeln, so mobilisiert die Sprache die Bindungskräfte des Satzgefüges. Und wie die Sperrung oder die Freigabe der einzelnen Kettfäden in Kombination mit dem Schuß das Abweben des Musters bedingt, so arbeitet die Sprache durch Sperrung oder Freigabe einzelner grammatischer Bahnen dem Muster von Sinn und Fabel zu.(33) Deshalb möchte ich für Goethes Sprache, insbesondere von den Wortschöpfungen des Spätwerks her, den Satz, wie »ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«, folgendermaßen variieren: wie ‘ein Wort tausend Verbindungen schlägt’. Ein eindringliches Gleichnis dafür, wie Goethe das Wort als erfüllten Augenblick umwirbt. Oft in semantischen Prismen, vor deren Bedeutungsglanz die Deutung schier verzweifelt. Von einer Dichte wie in Goethes Wortspiel: »bogenhaft in Weile«. Es begegnet uns im Bild jener heftig wirkenden Pfeile von Liebe und Leidenschaft, die »Gehetzt in Eile, bogenhaft in Weile / In Tausendfält'gem Wollen sich vermischen«.(34) Jede Philosophie dürfte Goethe um die Tiefenschichtung dieser Figur beneiden, deren Zauber doch in keinem Philosophem aufgeht. In ihr blitzt der Bogen Amors ebenso auf wie die trügerische Ruhe, die im Irrgarten der Passionen immer schon unmerklich in die bedrohlich offene Eigendynamik von Gefühl und Verlangen übergegangen ist. Eine Stelle von beispiellosem Ausdruck, die an solche Passagen Mozarts erinnert, in denen sich Zeit in einem unerhörten Moment staut und mit der Zeitenfolge auch den interpretierenden Begriff aussetzt. Etwa im E-Dur-»Terzettino« aus Così fan tutte, einem gleichfalls hintersinnigen Gefühlstableau. Hier entrückt ein wechseldominantisch verminderter Trugschluß-Akkord auf »desir« in eine trügerische Wunschlandschaft: ein sphinxhafter Akkord, der das Wort auf eine unendliche Reise schickt. Wiederholt öffnet der präzise Traumklang die Tonalität aufs Bodenlose hin, um Sehnsucht und Begehren zu einer im Element von Wind und Wellen gespiegelten Meteorologie der Seele zu verrätseln: im Wissen um das Fragile jeder Erfüllung.
Der Auflösung »bepfählender« Sinnzurichtung und dem Strom der Reflexions- und Affektbahnen nach wäre vom Medialen bei Goethe und Mozart zu sprechen. Insbesondere was Mozarts Zeitstrukturen anbelangt, die melodische Gestalten »auseinander hervorgehen, ineinander untergehen [lassen] – doch ohne thematische Kontraste, die dem Fortgang Halt gäben, Einhalt geböten«(35). So wie im ersten Satz des Klavierkonzerts KV 595 unter Zurücknahme des solistischen Ausstellungscharakters der Fluß der Themen und Motive in Gang gehalten wird, ohne durch Widerstände gestaut oder durch Kollisionen dramatisiert zu werden. Basierend auf einem Verfahren der Phrasenüberlappung, das Zäsuren oft erst rückwirkend erkennen läßt. Ein gravierender Unterschied zu den taktischen Coups in Haydns und Beethovens Zeitgestaltung. Mit dem fließenden Duktus hängt indes zusammen, daß der erfüllte Augenblick bei Mozart nicht erarbeitet wirkt, sondern plötzlich in kurzen, ausdrucksdichten Motivgestalten erscheint, deren Gegenwart nicht auf den Fluchtpunkt der Idee hin gespannt bleibt wie in so vielen Sätzen Beethovens; deren Gegenwart aber auch nicht in sich abgedichtet ist wie in der zerklüfteten Klangrede Carl Philipp Emanuel Bachs, die das Anhalten des Atems in auratischen Momenten nicht kennt. Frei vom Schatten der Idee haben die Epiphanien Goethes und Mozarts etwas von einer Fata Morgana an sich: Erscheinungen einer verzauberten Ordnung.
In Goethes West-östlichem Divan steht dafür das Gedicht Liebliches. Ein Gedicht, das inmitten der thüringischen Landschaft – in der Erstfassung steht noch der Name Erfurt – eine morgenländische Vision aufscheinen läßt.
Was doch Buntes dort verbindet
Mir den Himmel mit der Höhe?
Morgennebelung verblindet
Mir des Blickes scharfe Sehe.
Sind es Zelte des Vesires,
Die er lieben Frauen baute?
Sind es Teppiche des Festes,
Weil er sich der Liebsten traute?
Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt
Wüßt' ich Schönres nicht zu schauen;
Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras
Auf des Nordens trübe Gauen?
An dieser Stelle gerät die Vision zur epoché: zur ekstatischen Gegenwart in einer Frage des Erstaunens, die das richtende Urteil aufhebt. Nichts anderes bedeutet ja epoché in der Tradition der skeptischen Philosophie. Die Sprache weckt nicht nur Unbekanntes im Bekannten, sie öffnet über das neue Wort auch neue Bahnen der Imagination. Bereits in der ersten Strophe steigern drei artifizielle Wortmodulationen – »Morgennebelung«, »verblindet«, »Sehe« –, was schon die beiden Eingangszeilen mit ihrem heiter angetönten Bild empfinden lassen: mehr die Luftigkeit einer Impression denn die Logik einer beschreibungsgenauen Bestandsaufnahme. Ein berückendes Spiel der Nuancen gegen die Macht verbaler Usancen, ein Spiel, das sich gegen Ende des Gedichts in der Wendung von den »bunten Mohnen« wiederholt,
Die sich nachbarlich erstrecken,
Und, dem Kriegesgott zum Hohne,
Felder streifweis freundlich decken.
Goethes Hang zum mot rare, zum gewagten Wort, das »tausend Verbindungen schlägt«, ist einer zum unverbrauchten. Und so wie Goethe die Begriffsschablonen hin zum unvergleichlichen Wort aufsprengt, so durchdringt Mozart das Floskelhafte der Kadenzen, die sich im Finale des zweiten Figaro-Akts zu Knotenpunkten der Emotions- und Gedankenspuren verdichten. In einer Musik, die dem Verlangen ihrer Impulse folgt und sich die harmonische wie metrische Konstruktion höchst beweglich hält. Eine Musik, ähnlich der Sprache Goethes: gleitend, schillernd, zustoßend. Gestisch, ohne im Körperhaften aufzugehen, spirituell, ohne sich im Idealen zu verlieren.
Anders als Faust, die rastlose Wunschmaschine, die den Augenblick vernichtet – »ich habe nur begehrt und nur vollbracht / Und abermals gewünscht«(36) –, kennt Goethes Sprache wie die Musik Mozarts die Suspension im Flüchtigen. »Eine fremde Sprache ist hauptsächlich dann zu beneiden, wenn sie mit Einem Wort ausdrücken kann, was die andere umschreiben muß«(37). Mit einem Wort allerdings, das Welt per Definition nicht stillstellt, sondern durch Konfiguration entbindet. So tragen Goethes Zaubervokabeln den Entwurf eines neuen Sprechens, das den Parcours der Vermittlung und die Fallhöhe des Hohen und Niedrigen in Frage stellt, um die Worte auf ungeahnte Bedeutungshöfe hin auszuleuchten. Etwa in den Komposita »Pappelzitterzweige«, »Glanzgewimmel« oder »Mittelherz«. Goethes poetischer Kosmos meidet demonstrative hierarchische Staffelungen noch im Periodengeflecht von Haupt- und Nebensätzen. Im Glück des Ausdrucks zergeht jener »Schulverstand«, der »seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt«(38).
Lassen Sie uns hier den Vergleich zwischen Gewebe und Sprache wieder aufnehmen. Mit einem Blick auf Friedrich Theodor Vischers Faust II-Parodie, die sich am Mechanischen, am Künstlichen in Goethes später Kunst stößt; sozusagen an ihrer industriellen Reproduzierbarkeit. Ausgeworfen vom Selbstläufertum einer Sprachmaschine, deren Getriebe es bloßzulegen gilt. Was hat nun Vischers Persiflage mit Goethes Webmetaphorik und seinem musikalischen Denken zu tun?
Zu Goethes Zeit war der 1805 von Joseph-Marie Jacquard konstruierte Webstuhl webtechnisch die revolutionärste Erfindung. Mithin der von einem zentralen Punkt aus gesteuerte Webautomat, der seine Einzelmechanismen effizient kombiniert. Bei ihm dirigiert ein System von Lochkarten das Spiel der Schäftestellungen und das Ausheben der Kettfäden, mit dem Resultat einer äußersten Vielfalt und Feinheit an Mustern und Geweben. Wie nun bei der geistvollen Jacquard-Maschine hinter dem Organismus der Dessins die Logistik des Gestanzten steht, so könnte ja hinter der Sprachtextur des späten Faust-Dramas gleichfalls ein Automatismus des Kalküls stehen. Und wie der Jacquard-Webstuhl die massenhafte Herstellung bislang aufwendig produzierter, kostbarer Stoffe ermöglichte, so könnte ja auch Goethes Sprachmotor eine Art fabrikmäßiger Poesie-Ware ausstoßen.
Es wäre aberwitzig, die Sprachmagie des Zweiten Faust auf einen Mechanismus zu reduzieren und gegen die Wundersprache der Klassischen Walpurgisnacht taub zu werden. Dennoch. Hat Vischer nicht doch die Gefahr einer Dichtung aufgedeckt, die sich der prosaischen Welt kompromißlos stellt, demzufolge aber den poetischen Anspruch kompromißlos steigern muß, ohne daß die Sprache dies durchweg aushielte? Eine Gefährdung, gerade weil Goethe die Sprache musikalisiert, das heißt die Naht zwischen dem Wort und seiner konventionellen Konnotation auftrennt, das entbundene Gewebe jedoch mit einem schematischen Rapport der Sprache, ihrem prosaischen Tagesrest, verknüpft? So daß dem Gesang von Goethes Rosen streuenden Engeln:
Rosen, ihr blendenden,
Balsam versendenden!
Flatternde, schwebende,
Heimlich belebende
Zweigleinbeflügelte,
Knospenentsiegelte,
Eilet zu blühn! (39) –
sein eigenes verzerrtes Echo in den »guten Geistern« des Dritten Faust antworten kann – mit maschineller Geläufigkeit und unter perfekter Anverwandlung eines Sprachalgorithmus des Goetheschen Zweiten:
Selig derjenige,
Der die Helenige,
Mehr krinolinische
Als heroinische,
Nicht sehr natürliche,
Wächsern figürliche,
Klassisch beschwatzende,
Mannsgeist befratzende,
Dann die euphorische,
Hüpfend emporische,
Auf und ab purzliche,
Springende, sturzliche,
Naseweis knabische,
Gummiarabische,
Sturmdrangpoetische,
Wilde, phrenetische,
Lordische, britische,
Launische, wittische,
Zweifelzerbissene,
Weltschmerzzerissene,
Willen kastrierende,
Dasein negierende,
Prüfung bestanden!(40)
Ist Goethe also das in Musik hinüberspielende Sprachexperiment Faust II mißglückt? Hat sein artistisches Sensorium die selbstauferlegte Prüfung doch nicht bestanden oder lediglich mit dem spöttischen Zertifikat seines sarkastischen Imitators von 1862, auch wenn die Euphorion-Szene im Gedenken Byrons eine visionäre Allegorie der Poesie der Moderne entwirft, durchquert von Wagnis und Sturz? Oder steckt hinter den Schwungrädern von Goethes Reimmanufaktur selbst schon ein Stück Ironie? Eine bewußte Desillusionierung wie an so vielen Stellen des Faust II, vorzugsweise im Part des Mephisto?
Muß sich Kunst der »Prosa der Welt«(41) stellen, dann liegt Goethes Gratwanderung darin, sich auf die Dissonanz des Realen einzulassen, ohne mit deren Poetisierung abzustürzen. Vischer hat mit dem Risiko, mit dem ein bestimmter Sprachduktus in Goethes Faust II, einer von vielen übrigens, sich manieristisch auflädt, die Widerstandskraft der Sprachvielfalt des Dramas übersehen; das, wodurch ihre Inkommensurabilität an Ausdruck gewinnt. Daß die poetische Sprache abstürzt, wenn sie sich vom Weltgetriebe fernzuhalten sucht, ist das eine. Daß sie abstürzen kann, auch wenn sie sich dem Prosaischen stellt, im Sturz aber wieder in Poesie umzuschlagen vermag, das andere. Und noch etwas hat Vischer übersehen: daß die Bewältigung mechanischer Momente zum ästhetischen Kanon des beginnenden 19. Jahrhunderts gehört. Vischer hätte demnach auch bei Beethoven fündig werden können. Etwa wenn im zweiten Satz der Neunten Symphonie der orgiastische Rhythmus zerfällt und im Stillstand endet: ähnlich der Wirkung auslaufender, abbrechender und erneut anhebender Rotationen. Eine Plötzlichkeitserfahrung der frühen Moderne und eine Entbürdung von formender Regie. Daß sich der Rang eines Komponisten danach bemißt, inwieweit er den tonsprachlichen Fundus von Stereotypie zu entbinden weiß, vergißt Beethoven im Umkreis dieser Rupturen bewußt. Er inflationiert den Quintenzirkel mit Absicht. Komponierte Zeit verrinnt in die empirisch leere. Unbekümmert um das Vermittlungssoll kompositorischer Logik nähert sich Musik der Schablone an: eine Antwort auf die frühindustrielle Erschütterung der Tradition, die nicht mehr guten Gewissens im Kontinuum des Kunstwerks kaschiert werden kann.
Zurück zu Goethes Affront gegen die etablierte Sprachdisziplin. Dieser Affront widersetzt sich dem Umlauf nichtssagender verbaler Kennmarken, als gälte es, billige Münzen umzuschmelzen. »Verba valent sicut nummi«(42). Von Goethes verschwenderischer Sprache her entwerten sich die kleinen Münzen des Geredes zu solchen einer abgegriffenen Begrifflichkeit. Geradezu exzentrisch sind demgegenüber Goethes Neuprägungen, zumal die seines Altersstils; Prägungen wie: »Unglücksbotschaft häßlicht ihn«; »eigensinnig zackt sich Ast an Ast«; »das Schaf bewollt sich dran«; »gehörnte Herde braunt«; »auf und niedertröstend«; »hinfeuchten«(43). Und wie die Wort- und Konstruktionsvielfalt so erzeugt auch der Überfluß an Versformen und Rhythmen ein »Gewoge der Klänge«(44). Verbunden oft mit asyndetischen Serien wie denen am Ende des Zweiten Faust – »Waldung, sie schwankt heran, / Felsen, sie lasten dran, / Wurzeln, sie klammern an« oder denen des Pater ecstaticus: »Ewiger Wonnebrand, / Glühendes Liebeband, / Siedender Schmerz der Brust, / Schäumende Gotteslust«, schließlich solchen von nur noch assoziativer Bindung: »Worte, die wahren, / Äther im Klaren, / Ewigen Scharen / Überall Tag!«. Selbst noch Goethes sparsame Interpunktion richtet sich eher nach musikalischen als nach grammatischen Gesichtspunkten.(45) Im Sinn einer Scheu, den Satzfluß unnötig zu stauen oder durch Sinnsignale zu zerstückeln: wie die häufige Transitivierung intransitiver Verben ein weiteres Mittel der Mehrdeutigkeit.
Goethes subtile Wort- und Satzirritationen erinnern an Mozarts Kunst der minimalen Differenz mit maximaler kompositorischer Wirkung. An Mozarts feinnuancierte periodische Asymmetrien, an seine harmonischen und melodischen Konstellationen, die mit einer einzigen Rückung, mit einer einzigen Tonvariante ungeheure Ausdruckswechsel auslösen oder konventionelle Topoi und Genres mit sinnlichem Glück beseelen können. Zum Beispiel im zweiten Satz des C-Dur-Klavierkonzerts KV 467. Einem Satz von tiefgründiger Leichtigkeit. Schon die chromatisch gefärbte Kantilene der gedämpften ersten Violinen über Triolen-Bebungen und einem Pizzicato-Puls des Streicherchors entfaltet ihr Melos über einem hochdissonanten Grund. So dissonant jedenfalls, daß Leopold Mozart diese Klänge im Ohr gehabt haben mag, als er sich die kühnen Harmonien des Konzerts mit Kopistenfehlern zu erklären suchte. All diese Valeurs zudem legiert mit einer vorwiegend ungeradtaktigen Periodik und einer oszillierenden Tektonik: mag das Andante auch schemenhaft auf den Typus des Sonatenhauptsatzes hin transparent werden, weit mehr wird es durch die Verstrebung von Improvisation und Konstruktion charakterisiert. Daß das Irreguläre stets gegenwärtig ist und doch in vollendeter Ausgewogenheit aufgeht, läßt an die ständigen Abweichungen in Goethes welthaltig austarierter Sprache denken. Noch der Umstand, daß eine rhythmisiert fallende Tonleiter zum erfüllten Augenblick werden kann wie in Takt 17, hängt von einem Kontext ab, der die Dissonanz präsent hält und zugleich verflüchtigt. Es handelt sich hier um eine der großen Stellen Mozarts: um eine zur Geste der Gelassenheit spiritualisierte Formel. An diesem Satz kann man studieren, wie eine dissonant und dur-moll-verschattete Binnenstruktur den Eindruck einer Klarheit gewinnt, die sich am ehesten mit dem Begriff des Heiteren umschreiben läßt: einem stoisch aufgehellten, melancholisch grundierten Bewußtsein, von dem die Wanderjahre sagen: »Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön«(46).
Hier trifft sich Mozarts Verwandlung der Klangrede von innen heraus mit Goethes wandelhafter Sprache. Wenn es bei Goethe anstelle von Liebeswerk »Liebewerk« heißt oder »Kriegesgott« anstelle von Kriegsgott oder wenn das Wort gespenstisch zu »spenstisch« verkürzt wird, sind selbst solche unscheinbaren Spielarten keine des Effekts, sondern Verschiebungen gegen den Schematismus der Sprache. Verschiebungen, die bis in die zahlreichen Oxymora hineinreichen, unbekümmert um das Ideal der Widerspruchsfreiheit. Spricht Goethe im zweiten Teil des Faust vom »Schauderfeste«(47), vom »Häßlich-Wunderbaren«(48), vom ‘Gefällig-Wilden’(49), macht er die Grenze gegen das verbotene Wort durchlässig. Das Unvereinbare vereinen bedeutet, sich der Vieldeutigkeit des Verdrängten zu nähern – gleich der Musik als »begriffsloser Synthesis«(50). In Goethes mitunter konsternierenden Wortkombinationen und Wortverdichtungen zeigt sich der schöpferische Eros monadisch, der sonst im Großen jenes syntaktische und kausale Poröswerden bindet, das die Sprache auf das Abgründige der Konvention hin öffnet. Oder was soll man von Sätzen wie den folgenden aus Goethes Pandora halten? »Entsetzlich stürzt Erwachenden sich Jammer zu«. »Wen treff ich schon, wen treff ich noch den Wachenden?« Oder von jener interpunktionslosen Sequenz aus Wandrers Sturmlied: »Glühte deine Seel Gefahren Pindar!«? Während die Sprachnorm Erfahrung nach immer den gleichen Regeln verarbeitet, entfaltet Goethe eine Bühne steter Verwandlung. Dabei lockert Poesie die Sinnschlaufen, die die fable convenue zwischen Wort und Welt knüpft, riskiert eher Webfehler, als daß sie sich nach Vorgabe wohlfeiler Muster in den Maschen einer Sprache verfinge, die das Unbekannte vom Bekannten her ausbleicht. Die Freiheit des poetischen Subjekts und ihre semantischen Spielarten instrumentieren eine Sprache neu, die angesichts ihrer Entzauberung erst in Distanz rücken muß, um wieder sprechen zu können.
Daß jede noch so beiläufige Äußerung auf ihren von der Erscheinung untrennbaren Grund hin durchlässig wird, ohne daß dieser Grund als eine Art Urprinzip dingfest gemacht würde, erklärt den metaphysischen Duft von Goethes Sprache. Sie entschwebt weder in ätherische Regionen noch bebildert sie weltanschauliche Manifeste. Ihr Charakteristikum ist, daß sie ihren Gehalt wie Musik strukturell ausformt. Symbolische Gravitationsfelder wie die von »Wolke«, »Äther«, »Farbe« oder »Licht« setzen die Sprache selbst meteorologisch frei: in funkelnden Satzgebilden, die strahlenförmig aufbrechen, sich verdichten, verwandeln oder ‘flockig auflösen’(51). Goethes Delinearisierung, beispielhaft in den zahlreichen nur vage gebundenen Konditionalsätzen seiner Lyrik, entspricht einer Interpretation der Welt, für die die teleologische Deutung wenig Gewicht hat. Während teleologische Konzepte auf der Delegation an die Gattung, der Ökonomie des Aufschubs und der Entwertung der Gegenwart zum Investitionsfonds für eine ferne Zukunft gründen, gewinnen im antiteleologischen Präsens Phänomen und Augenblick an Bedeutung. Gegenwart wird nicht zum Mittel, Vergangenheit nicht zum Überwundenen. Goethe, dessen Verständnis des Mythos zwischen dem Uralten und Neuesten Funken schlägt, setzt daher weniger auf Diachronie als auf Synchronie. Wie Mozarts Zeitmodelle gehen auch diejenigen Goethes nicht auf ein dramatisiertes, Gestalten verschlingendes Vorwärts aus, sondern auf eine Einlösung des »omnia simul«, des »alles zugleich«, um einen Gedanken Giordano Brunos aufzugreifen, mit dem sich Goethe des öfteren beschäftigt hat. Noch die weitläufigen Perioden in Goethes Prosa wirken eher parataktisch ziseliert als hypotaktisch verkeilt, wie eine Passage aus der Italienischen Reise zeigen mag:
Auf eine besonders feierliche Weise sollte jedoch mein Abschied aus Rom vorbereitet werden; drei Nächte vorher stand der volle Mond am klarsten Himmel, und ein Zauber, der sich dadurch über die ungeheure Stadt verbreitet, so oft empfunden, ward nun aufs eindringlichste fühlbar. Die großen Lichtmassen, klar, wie von einem milden Tage beleuchtet, mit ihren Gegensätzen von tiefen Schatten, durch Reflexe manchmal erhellt, zur Ahnung des einzelnen, setzen uns in einen Zustand wie von einer andern einfachern größern Welt.(52)
Insgeheim läuft die Gewaltlosigkeit jeder Konfiguration auf jenen Fluchtpunkt zu, den Goethe im Bild der dem ‘Staub eingezeichneten’ Dichterworte umschreibt. Vergleichbar Mozarts Geste, das Finale des Klavierkonzerts KV 415 ohne triumphalen Schluß im Pianissimo mehr verlöschen als schließen zu lassen.
Nicht mehr auf Seidenblatt
Schreib ich symmetrische Reime;
Nicht mehr faß ich sie
In goldne Ranken;
Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet
Überweht sie der Wind, aber die Kraft besteht,
Bis zum Mittelpunkt der Erde
Dem Boden angebannt.(53)
Daß das Entgrenzen von Bedeutung Bedeutung schafft, nämlich eine gegen die praktikable Sinnagentur der Sprache, macht eine andere Nähe Goethes zur Musik aus. Deshalb läuft die exegetische Überbewertung des Gleichnishaften, über die Sprachirritation hinweg Sinnstiftenden seiner Dichtung Gefahr, ihre Musikalität zu überhören. Setzt man als Bindung ihrer gelösten Faktur symbolische Dichte ein, droht die Falle idealistischer Sprachauffassung. Goethes Spätstil ist keine Addition von Wortsymbolen als Auslöser unerschöpflicher Reflexionsstränge, um deren semantische Knoten herum das Sprachgewebe Falten wirft. Der empirischen Gravitation in Goethes Sprache zufolge müssen die Worte stets auch in der Intention ihres puren Jetzt und Hier wahrgenommen werden. Sonst unterschlägt man ihren Realismus, analog zur apollinischen Idealisierung Mozarts. Goethes Sprache ist nicht nur der »Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit«(54), durch den das Absolute hindurchschimmert; sie ist zweifellos auch derart präsent, daß sie noch die Fracht der Symbolik wie eine Haut abstreifen kann. So in einem der Dornburger Gedichte: einer einzigen ununterbrochenen Periode mit schwebender Konditionalbindung, hochsymbolisch geladen und doch autark in einem Sich-selber-Sprechen der Sprache.
Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten
Nebelschleiern sich enthüllen,
Und dem sehnlichsten Erwarten
Blumenkelche bunt sich füllen,
Wenn der Äther, Wolken tragend,
Mit dem klaren Tage streitet,
Und ein Ostwind, sie verjagend,
Blaue Sonnenbahn bereitet,
Dankst du dann, am Blick dich weidend,
Reiner Brust der Großen, Holden,
Wird die Sonne, rötlich scheidend,
Rings den Horizont vergolden.
Goethes Kunst der Abweichung geht es um Nuancen und Valeurs, um Chromatisierung. Ähnlich Mozarts Vorliebe für die Chromatik zum Ausdruck des Farbenspiels der Seele, ihrer Aufhellungen und Eintrübungen, ihrer Gezeiten. Und es geht ihr um den Widerstand gegen die skelettierende Definitionsmacht der Sprache, die Goethes Poesie oft genug dadurch unterläuft, daß sie sich der urteilssichernden Copula des Prädikats verweigert. Spätestens seit Nietzsche ist es kein Geheimnis mehr, wie sehr Sprache, Sinn und Moral über die Legalitätsforderungen des Satzkanons einander zuarbeiten. Satzstrukturen sind Sinn- und Moralstrukturen. Richtet sich Goethes Sprache gegen die Bedeutungsnorm, dann richtet sie sich damit gegen Moralvereisungen. »Bin die Verschwendung, bin die Poesie« ist der Grund einer Dichtung, in der Sprache zum sinnbeirrenden Proteus wird.(55) Chirons Ausruf im zweiten Teil des Faust: »Den Poeten bindet keine Zeit«(56), enthält die zweite Lesart: und keine Konvention. Es sind androgyne Züge, die Goethes Sprache annimmt, indem sie dem Triumph des »bepfählenden« Urteils widersteht: Züge des Fremden, Mignonhaften, in deren zwitterhaften Mehrdeutigkeiten ihre verführerische Musik liegt.
Goethes intendierte Unwägbarkeiten im Satzbau, dem Codex Iuris aller Rhetorik, rehabilitieren das Stoffliche durch Entstilisierung. Es sind Unwägbarkeiten gegen die Ordnung der Sprache im Vertrauen auf diese Ordnung. Wenn in die Sprache der Musik logische Rudimente, kausale etwa, verschattet eingehen und Goethes syntaktische Freiräume im Lösen kausaler Verkettungen ihrerseits die Sprache musikalisieren, bedeutet das eine Annäherung von Musik und Poesie gegen den Zugriff des Benennens. Man muß sich in Faust II nur die zahlreichen Wendungen gegen das Festhalten- und Besitzenwollen vergegenwärtigen, um dieses Spätwerk als eines gegen die Sucht des Greifens und Ergreifens, gegen die Griffigkeit des Begreifens zu verstehen; geführt bis an die Legalitätsgrenzen von Vokabular und Grammatik. Goethes Denotation des von der Sprache Abgedunkelten schärft sich zur Detonation der Konvention. Und zu einer Absage an die Erwartung, Sprache sei zuallerst ein Spiegel für den Narzißmus der Leser. Das Ideal der puritas, der Sprachrichtigkeit, wird neu interpretiert: erst der Verstoß gegen den Konsensgrund der Sprache unterbricht das Wiederkäuen der Worte und das Ersterben ihrer expressiven Kraft in den Sielen der alltäglichen Rede. An diesen Verstoß ist der Widerwille gegen den subsumierenden Akt gebunden, der Goethe und Mozart einander so verwandt macht. Goethe entzieht das Körperhafte der Sprache der Anatomie der Grammatik, um Sprache dem Stoff anzuverwandeln. Gerade weil die grammatikalische Orthodoxie mit Distanz-Filtern gegen die Empirie ausgerüstet ist, läßt Goethe in die geistgebundene Form deren Naturgrund ein, das Maternale des Materials. Gibt es doch eine »zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird«(57). Für Goethe wie für Mozart bleibt das Bündnis mit der Natur, der Psyche, dem Somatischen unwiderrufbar. Und das Buch der Natur birgt ungemein dichte Texte wie den vom nächtlichen Vesuv, wenn in der Dämmerung die Fensterläden aufgestoßen werden und den Blick auf ein Schauspiel freigeben, das »man in seinem Leben nur einmal sieht«:
Der Vesuv gerade vor uns; die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheure feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet. Von da herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluten und glühenden Dünsten; übrigens Meer und Erde, Fels und Wachstum deutlich in der Abenddämmerung, klar friedlich, in einer zauberhaften Ruhe. Dies alles mit einem Blick zu übersehen und den hinter dem Bergrücken hervortretenden Vollmond als die Erfüllung des wunderbarsten Bildes zu schauen, mußte wohl Erstaunen erregen. (...) Wir hatten nun einen Text vor uns, welchen Jahrtausende zu kommentieren nicht hinreichen.(58)
Kehren wir nochmals zum Flechten und Weben zurück: nämlich zur Schürzung des tragischen Knotens. Goethe hielt von solcher Straffungsarbeit wenig. So wenig, daß in ihrer Verweigerung vielleicht die Basis seiner Affinität zur Parataxe der Musik liegt. Goethe denkt nicht daran, den Stoff, die Fabel im Dienst des Ethos auf Kollision und Spannung hin zu zentrieren. Seine poetische Einheit ist eine andere als die der tragischen Dramaturgie. Worauf deren Idee abhebt, zeigt Schillers Egmont-Kritik. Abgesehen davon, daß der Charakter des Helden »kein großer« sei, spricht Schiller Goethes Stück den Rang einer Tragödie ab, da ihm »kein dramatischer Plan« zugrunde liege, es vielmehr aus einer »bloßen Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen« resultiere.(59) Auch hier also der rügende Ton gegen reihende Konfigurationen. Ein Ton, den ebenfalls jene Kritiker Mozarts anschlagen, die die verschwenderisch lose Folge an Einfällen und Gedanken dieses »allerstillosesten« unter den »ausgezeichneten Autoren« aus der Fassung bringt.(60) Daß die Sucht nach Identität Seele und Welt immer auch verkürzt, Goethe und Mozart folglich auf Perzeptionen und Impressionen setzen, die nicht sofort von der Ichinstanz reglementiert werden, vielmehr das flüchtige Ich erst konturieren, mißversteht eine Kritik, die die Einheitsökonomie des Charakters im Gedanken an Mäßigung und Mitte anmahnt.(61) Ist Schiller als Tragiker methodisch, hält Goethes Antitragik von Methode nur wenig. Goethe mißtraut der Geschlossenheit des Systems als einer methodischen Hypertrophie. »So viel Neues ich finde, find ich doch nichts Unerwartetes, es paßt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen«(62). Der antisystematische Zug ist antistrategisch, antitragisch, antiidealistisch, da »zur Methode (...) nur der getrieben wird, dem die Empirie lästig wird«(63). Während Hegels System keinen blinden Fleck duldet, der womöglich noch als punktuelles Sinndefizit provozieren könnte, läßt Goethe die Lücke ein. Sein »realistischer Tic«(64) bewahrt sich die Erfahrung des gedanklich nicht Auflösbaren und des Staunens: im Bewußtsein einer Empirie, deren »em peira« etymologisch etwas mit Erprobung, Wagnis, Gefahr und einer Offenheit zu tun hat, die bis in die Leerstellen und Läßlichkeiten der Wanderjahre und des Zweiten Faust hineinreicht.
Goethes Abneigung, das Material nach dem Willen eines Meisters der Form zu präparieren, zeigt sich bereits bei der »ohne Plan und Entwurf« konzipierten Erstfassung des Götz. »Bloß der Einbildungskraft und einem innern Trieb« überlassen, »riß mich eine wundersame Leidenschaft unbewußt hin«, vermerkt Goethe zum Entstehungsprozeß des Werks.(65) Mit entsprechenden Auswirkungen auf die »höhere poetische Einheit«. Wenig später wird Goethe den Werther »ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich« zu Papier bringen, »ohne ein Schema des Ganzen«(66). Die vom Gebot der Stringenz her ‘antitheatralische Grundrichtung’(67) seines Œuvres wird den Dichter lebenslang begleiten: angefangen von der bereits in zeitgenössischen Urteilen am Götz beklagten Formlosigkeit über Goethes zahlreiche Dramenfragmente bis hin zur Großreihung des Zweiten Faust. Nicht nur Schiller, Goethe selbst war darüber im Zweifel, ob er denn »eine wahre Tragödie schreiben könnte«.
Goethes rhizomatisches Denken, seine »Ramifikationen«(69), tilgen mit der Grenze zwischen Zentrum und Peripherie auch die zwischen dem Sittlich-Allgemeinen und den individuellen Triebmonaden. Darin entspricht Goethes antitragische Haltung seiner parataktischen. Parataktisch ist allein schon der Verzicht auf eine vorgeordnete Einheit. Einheit soll sich aus der mannigfaltigen Korrespondenz der Teile ergeben, mag dadurch das Einzelne auch den Zusammenhang mit dem Ganzen tarnen, gar verlieren. Während die Hypotaxe im Namen von Vernunft und Sittlichkeit von oben her ansetzt, setzt die Parataxe im Bewußtsein der Kreatürlichkeit des Geistes von unten, von der Erfahrung her an, so wie Goethes poetisches Selbstverständnis sich selbst versteht. Kein Wunder also, wenn gerade Hegels »Arbeit des Begriffs« die Parataxe abwertet. Hegel ordnet das reihende Prinzip jener Geistlosigkeit der Natur zu, der die Einheit mit sich fehlt. Der Skandal der ins »Neben- und Nacheinander«(70) zerfließenden Natur ist, daß sie nicht denkt, nicht arbeitet. Ungleich höher schätzt Hegel die hypotaktische Vermittlungsaktivität der tätig sich entäußernden absoluten Idee. Stehen doch hypotaktische Formationen mit ihren Über- und Unterordnungsgeboten, ihrer Wertung nach Haupt- und Nebensächlichkeiten, mit ihren Strecken der Entwicklung und des Resultats Prozessen der ökonomischen wie der tragischen Arbeit weitaus näher als die auf assoziativen Bei- und Nebenordnungen gleichberechtigter Elemente beruhende Parataxe. Sie kommuniziert mit Natur, weil sie sich gegen die Vermittlungs-, Ziel- und Systemstrenge als wesentlich resistenter erweist.
Durchmißt die Tragödie den Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Opfergang des Helden, erscheint Mozart und Goethe das Gegen, das Anti, der Dualismus als zu abstrakt. Agon ja, aber kein Antagonismus; Zweifel ja, aber keine Verzweiflung. Während das Tragische im Bann dualer Polarisierung steht – Worte wie Entzweiung, Zwiespalt, Verzweiflung lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig – schlagen Goethe und Mozart das platonisch-christliche Erbe der Tragik aus. Sie halten nichts vom Aufschwung in spekulative Welten, den das Tragische umkreist. Bei ihnen fehlt, was Schiller das »Satirische« nennt: der Widerspruch zwischen der »Wirklichkeit als Mangel« und dem »Ideal als der höchsten Realität«(71). Eben weil »alles Tragische auf einem unausgleichbaren Gegensatz«(72) beruht, glaubt Goethe, nicht »zum tragischen Dichter geboren« zu sein:
»Meine Natur [ist] konziliant«; »daher kann der rein tragische Fall mich nicht interessieren, welcher eigentlich von Haus aus unversöhnlich sein muß, und in dieser übrigens so äußerst platten Welt kommt mir das Unversöhnliche ganz absurd vor.(73)
Der schöpferische Eros ist antitragisch, wenn tragisch bedeutet, der Unversöhnbarkeit von Gegensätzen ausgeliefert zu sein. Und er ist antimoralisch, wenn moralisch bedeutet, in die endlose Verkettung von Schuld und Sühne verspannt zu sein. Prozesse tödlicher Ausweglosigkeit unter dem Druck des Ideals oder solche der Besserung, der Bekehrung, gar der Buße aber sind das Letzte, was Goethe und Mozart reizt. Wenn Mozart im »Molto Allegro« der späten g-Moll-Symphonie den dunklen, allzu oft voreilig als tragisch charakterisierten Ton in Szene setzt, handelt es sich dabei noch lange nicht um das Ethos Beethovens. Mag sich die Durchführung des Satzes auch unerbittlich auf den Hauptgedanken konzentrieren: sie verweigert die tragische Arbeit, gespeist von Zerrissenheit und deren Überwindung. Vorgeführt wird nicht die motivisch-thematische Dramaturgie unter der Regie der sittlichen Idee, sondern der modulatorische Sturm des leidenschaftlichen Affekts und der Passion, in dem sich das Thema physiognomisch bricht, verzehrt und regeneriert. Musik inszeniert einen Ausschnitt aus der »Experimentalphysik der Seele«, keine ethischen Postulate.
Wie Goethe kennt auch Mozart nicht den Gerichtshof der Form, obwohl in seinem gleich gewagten wie souveränen Spiel mit tektonischen Fliehkräften eine überaus rationale Konstruktion Regie führt; etwa die weitgespannte Balance der Tonarten im Finale des zweiten Figaro-Akts. Solch subkutanen Netzwerken der kompositorischen Logik vergleichbar liegt auch Goethes Nähe zur Musik, maßgeblich zu derjenigen Mozarts, nicht in einem willkürlichen Aufgeben der Bindungsenergien, darin also, daß parataktisches Gleiten und zentrifugale Formtendenzen sich zu einer als musikalisch mißverstandenen Bindungslosigkeit potenzierten. Selbstverständlich arbeiten Mozart und Goethe mit einer dichten Kombinatorik, die den »filo«, den Faden der Gedanken gegen deren Zerfall zum Pasticcio garantiert und noch Goethes syntaktische Deregulierungen und Mozarts periodische Asymmetrien bis hinein in den festen Strophenbau und die stabilen Kadenzverhältnisse sichert. Nur: Goethe und Mozart stellen ihre Konstruktionen sous terre nicht als Strategie aus. Beide wollen das »Pathos« nicht »mit den Mitteln des Ethos« reden lassen.(74) Und beiden gilt ästhetische Vernunft im Sinne Humes und Diderots selbst als ein gemäßigter, wenngleich nobilitierter Affekt, ohne ständige Bewährungsproben auf die Ethik der Form. Das Spiel der Vielfalt ist etwas anderes als die Idee der Totalität.
Ich darf daran erinnern, wie sehr das Ende des 18. Jahrhunderts von Auseinandersetzungen mit patriarchalen Instanzen bestimmt war: mit der göttlichen in Kants Kritik der reinen Vernunft, mit der monarchischen in der Französischen Revolution. Das Gesetz der Väter freilich kennt viele Facetten. Eine zeigt sich darin, das ästhetische Gewissen auf den Einstand von Integralität und Integrität zu vereidigen. Vornehmlich auf jener Basis, die das Einzelne vom Imperativ der Formtotale her steuert wie bei Schiller und Beethoven. Sosehr beide das Partikulare zur Totalität, das Individuum zur Gattung steigern wollen, sosehr müssen sie die Motive der Direktive einer Idee dienstbar machen. Ihre Werke komprimieren sich zu Postulaten; bei Beethoven schließlich zu einem Drängen der Musik gegen die Musik – hin zu einer Musik des Urteils. Anders als in einer solchen Kritik an der Vereinzelung des Besonderen entwirft sich der nonkonforme Einzelne bei Goethe und Mozart, Faust etwa oder Don Giovanni, keineswegs gemäß der Perspektive sündhafter Partikularität. Eher schon als ein Repräsentant des zivilisatorisch gebrochenen Naturgrunds, ohne daß Besonderung sofort als Egoismus auf dessen Urform, auf luziferische Eigensüchtigkeit hin projiziert würde. Im Gegensatz zum Skandal der Vereinzelung nehmen Goethe und Mozart das Besondere bis in die Form hinein so ernst, daß sie die Form eher dem Risiko der Dezentrierung aussetzen als schnelle Bändigungsmanöver zu mobilisieren.
Goethe und Mozart eignen sich nicht zur Tragik des ödipalen, vom Formgesetz geblendeten Künstlers. Als hätten sie geahnt, wie gut sich zentralistische Konstruktionsnormen mit der Inthronisierung von Vaterinstanzen vertragen, unterwandern sie die Autorität der Form von innen her. Auf deren monistisch monotheistischen Sog reagiert Goethes Satz, als Dichter sei er Polytheist.(75) Das ist seine Einsicht in die Moral und Unmoral der Form. Mag zwar eine jede Form das »Glas« sein, »wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln«, stets hat sie auch »etwas Unwahres«(76). Im Faust-Drama demonstriert Goethe am entschiedensten, was er von der patriarchalen Ökonomie des Form- und Moralgesetzes hält. So wenig jedenfalls, daß er die Schuld des Helden und zumal die, nach der das Leben mit dem Tod bestraft wird, mit der ‘Erlösung’ in der Sphäre des »Ewig-Weiblichen«(77) aussetzt, ja in der Parataxe des Dramas regelrecht verdunsten läßt. Die chthonischen Bergschluchten des mütterlichen Landschaftskörpers lassen in der Schlußszene die Aura der »Liebe« jenseits von Gut und Böse in geradezu inzestuöser Färbung aufscheinen. Faust – ein glücklicher Ödipus.(78) Sosehr sich die »Triebe«(79) in Goethes maternalem Imaginationsraum aus ihrer Verstrickung lösen, sosehr wird auch das zweite ödipale Verbrechen getilgt: der Vatermord. Hier sublimiert zu einer Entmächtigung durch Vergessen. Wenn am Ende des Prologs im ersten Teil des Faust der »Himmel schließt«(80), geschieht dies endgültig. Vom »Herrn« ist im Folgenden nicht mehr die Rede. Er entfällt für den Teufel als Adressat des Vertragsrechts.(81) Gott, den Richter-Gott vergessen: das ist die Version vom Tod Gottes in Goethes Saturnalien des Geistes. Und mit dem Richter über Erlösung und Verdammnis wird in eins die Wette samt ihrem Wechsel über Leben und Tod annulliert. Am Ende des Dramas wird der Faust-Himmel von keinem Vatergott mehr dominiert. Er geht in jener Imago des »Weiblichen« auf, die noch die Teiltragödien des Ersten und Zweiten Faust, die von Gretchen, Helena, Euphorion oder Philemon und Baucis, von moralischer Erblast befreit.
Wie im naturwissenschaftlichen Denken die mechanistische so setzt Goethe im poetischen Denken die moralische Kausalität außer Kraft. Schon zu Beginn des Zweiten Faust sprengen Natur und Vergessen zivilisatorische Härteformationen und deren Komplizenschaft mit dem christlichen Reuebegriff. Goethe läßt zwar keinen Zweifel an Fausts Verfehlungen. Im Wissen aber, daß der »Handelnde [...] immer gewissenlos«(82) ist, spricht er seinen Helden frei, ohne ihn zu rechtfertigen. »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.«(83) Der Tausch von Vergehen und Strafe wird vom Drama aufgezehrt. Goethe geht es nicht um Untergang, sondern um Übergang und Verwandlung. Auch wenn er am Sittengesetz für die Subjektmonade festhält, an dem von »Liebe«, »Pflicht« und »Streben«, nicht aber von »Sollen«, wird ihm Moral eher zur Sünde der Zivilisation, als daß Sünde als Moral der Zivilisation hingenommen würde. Goethe, der Geschichte als ein ständig überschriebenes Palimpsest ihres Naturgrunds liest, setzt auf den naturgegründeten Eros, um die polaren Verhärtungen von Geist und Natur und ihre Moralkoordinaten aufzuheben: »So herrsche denn Eros, der alles begonnen!« – »So ist es die allmächtige Liebe, die alles bildet, alles hegt.«(84)
Während die Tragödie an Gott und Sittengesetz, an die Ideale des Über-Ichs und ihren Konflikt mit dem Weltlauf, an Verblendung, Sturz und Tod gebunden bleibt, zeigt sich Goethe an der Hypothek des Schicksalhaften, an Unausweichlichkeit und Scheitern, am Kreislauf von Schuld und Sühne uninteressiert. Statt den sittlichen Charakter auf Identität zu fixieren, um ihn überhaupt zur Rechenschaft ziehen zu können, unterläuft der Verwandlungsreigen in Faust II mit der personalen Inkonsistenz auch die Moral. Zugleich geht das Rhapsodische der Verwandlungen über die parataktischen Wort- und Satzgirlanden in die bildhafte Reihung des Dramas ein – fern jedem tragischen Zeitsturz. Die szenische Streuung läßt die Klärung des heldischen Charakters, »ob er heilig, ob er böse«(85), hinfällig werden. Das schon für Diderot unlösbar-unsinnige Frage-Antwort-Spiel »Est-il bon? Est-il méchant?« verweigert auch der Zweite Faust in seiner von »ethischen Paradoxen«(86) freien Disposition des Sujets. Sprachlich in enger Verbindung mit Goethes musikalischem Denken: mit dem Aufbrechen des hierarchischen Form- und Satzregimes bis hin zur Sprengung der Gattungsgrenzen der Tragödie unter wechselseitiger Durchdringung sämtlicher Genres.
Was die volonté générale der Form an Opferritualen verlangt, wissen Goethe und Mozart nur zu gut. Ihre Metamorphosen lassen im bunten Schwarm der Motive die Libertinage des Vielen zu, die die Identität liquide hält, zuweilen gar liquidiert. Ihre Parataxen schreckt in keiner Weise, was den Rationalismus der Epoche ängstigt: das nicht gebundene Mannigfaltige, das zu verführen droht, weil es der Kontrolle des Verstandes und der Rückvermittlung des Subjekts entgleitet. Im Vertrauen auf die geheime Korrespondenz der Ding- und Lebensspuren stimmen Goethes »Eros« und Mozarts »attrativa« mit Humes Prinzip der »Sympathie« überein. So ist die vielschichtige Weltpräsenz in Goethes und Mozarts Werken auch eine Folge der dynamischen Anziehungs- und Abstoßungskräfte des Begehrens: im Unterschied zu jener mechanischen Statik, die Goethe Crébillon vorwirft, der die »Leidenschaften«, blind gegen deren »zarte chemische Verwandtschaft«, wie »Kartenbilder« behandle, »die man durcheinander mischen, ausspielen, wieder mischen und wieder ausspielen kann, ohne daß sie sich im geringsten verändern«(87). Auch hier erinnert Goethes Forderung nach Verflüssigung an Mozarts körperhafte Sprache der Psyche; an ihren Puls- und Herzschlag, der der musikalischen Rede erst Leben verleiht; an die blitzartigen Energiekurven seiner Opern, oft zäsurlos dicht, die das Ensemble der Charaktere im Wirbel der Passionen gegenseitig durchlässig halten: alles andere als ein Kataster der parzellierten Seele, wie ihn Dittersdorfs Sinfonia Il Combattimento delle passioni umani vor Ohren führt.
Die Revue von Affekten und Stimmungen ist ein Gemeinplatz des 18. Jahrhunderts. »Ich hatte im Verlauf eines Tages hundert verschiedene Gesichter, je nachdem womit ich mich befasste. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert«, notiert Diderot.(88) Ebenso entladen sich die Aphorismen Lichtenbergs zu unberechenbaren Gedankenblitzen. In ihnen schillert die menschliche Seele wie ein »Chamäleon, das mit jedem Augenblick seine Farbe verändert«(89). Und »beinah wie ein Chamäleon« erscheint auch der junge Goethe in einem Brief Caroline Herders. Nicht zu vergessen der von Goethe hochgeschätzte Laurence Sterne und sein Labyrinth der Sprünge, Zufälle und Abschweifungen. Bei all diesen Autoren findet sich wie bei Mozart die Sensibilität für das Instabile, Diskontinuierliche von Ich und Person, für das Rapide und sich Überlagernde der Bewußtseins- und Seelenzustände. Goethe und Mozart sind Wahlverwandte Humes, der den Verstand in eine Folge von Eindrücken und Vorstellungen auflöst, »die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind«(90). Was in der Exposition von Mozarts letztem Klavierkonzert an Charakteren durchmessen wird, führt in seiner Vielfalt jeden Versuch einer klaren Affektscheidung ad absurdum. Die Spannbreite reicht nicht nur vom erhabenen bis zum buffonesken Ton. Sie durchläuft auch eine Summe komplexer Mischungen: »eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen«(91).
Wie sich bei Goethe historische und biographische Textschichten durchdringen, deren vermischte Lagen jederzeit in produktiver Erinnerung aufzuleuchten vermögen, so hält Mozarts Musik ein Netz von Affektbahnen präsent, mögen einzelne dieser Bahnen zuweilen auch wie in einem Tunnel verlaufen. Darin kontrastiert Goethes und Mozarts ästhetischer Eros der ethischen Verwerfung Schillers und Beethovens. Und der Sprache des Tragischen, die sich als die Umkreisung eines Delikts verstehen läßt. Als eine der Beschattung, um das corpus delicti nicht aus dem Blick zu verlieren: den Riß zwischen Natur und Sittlichkeit. Daß Mozarts Musik nicht richtet und verurteilt, etwa in Così fan tutte, ist die Aktualität des 18. Jahrhunderts in ihr. Ähnlich weist Goethe im Rückblick auf den Werther das »alte Vorurteil« zurück, ein Buch müsse einen »didaktischen Zweck« haben.(92)
Goethes und Mozarts Freiheit des Geistes gründet darin, daß sie der Naturgeschichte der Seele die Treue halten. Lehnt Goethe auch den Materialismus eines Helvétius, d'Holbach oder Lamettrie ab, seine Kritik an der Trennung der oberen und unteren Seelenvermögen bindet ihn um so enger an die französische Aufklärung und ihren Heros Diderot. Und wie Mozart hebt Goethe die Decksteine der Zivilisation an, um deren Unterbau freizulegen. »Glaube mir«, schreibt er 1781 an Lavater,
unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.(93)
Zeitig schon hatte Goethe
in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins (...); aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt und eine desto schrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht.(94)
Man erkennt den Blick in jenen »Grund«, in dem laut Schelling immer noch »das Regellose (liegt), als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden«(95).
Beim Gang in die Unterwelt der Zivilisation wird die dichterische wie die musikalische Sprache zur Seelenführerin ins Unbewußte. Hört man Mozarts Idomeneo im Vergleich mit Glucks Iphigénie en Aulide wird klar, was die Musik an psychologischer Tiefenschärfe gewonnen hat. Glucks »bella semplicita« hat sich bei Mozart zu jener Leib gewordenen condition humaine gewandelt, die einer seiner Briefe den »Arsch« nennt, den die Musik bekommen soll, da sie doch bislang nur einen »Kopf« habe.(96) Musik wird bei Mozart zum Seismographen des beseelten Körpers, so wie Natur in den Wahlverwandtschaften zum Seismographen der Gesellschaft wird. Diese Sensibilität für den Formenkreis der Psyche und des Unbewußten ermöglicht es Goethe und Mozart, den Zufall nicht als narzißtische Kränkung tabuisieren zu müssen. Eine weitere Variante ihres parataktischen Ingeniums. Im Gegensatz zum zentralistischen Form- und Personbegriff scheut das naturinspiriert konfigurative Arrangement das Unvorhergesehene, scheinbar Planlose weit weniger. Goethes Satz: »Dann mag der Zufall selbst als Geist der Einheit schalten«(97), ist für ihn selbst wie für Mozart von eminentem Rang.
Goethes Verständnis des Zufalls zielt auf eine Sicht jenseits der Spaltung von Wesen und Erscheinung. Wiewohl sich Goethe gut spinozistisch »sowohl das Geregelte als Regellose von einem Geiste belebt« denkt(98), beläßt er dem Zufall jenes Recht, das ihm die Zähmung und Verspannung in eine Zieldynamik, speziell bei Hegel, abspricht. Daß »zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben« können, und »das, was wir Schicksal nennen, (...) bloß Zufall sein« könnte(99): ein solches Bewußtsein verrät Einsicht ins Spiel der Welt. So führt auch die anthropologische Konstante des Menschlich-Allzumenschlichen, die Goethes und Mozarts Fahrten in die Nacht des Geistes ernst nehmen, nicht zur Resignation, sondern zu epikureischer Heiterkeit. Am ehesten ließe sich diese Weltsicht als eine der verweigerten Ankunft im Prinzipiellen bezeichnen. Wichtig ist ihr die Gelassenheit im Aufruhr der Affekte, frei von jeglicher Blasphemie gegen das Leben; eine Gelassenheit, die Epikur mit der âàëç´íç, der Meeresstille, verglichen hat. Erinnert das nicht an das Ende von Così fan tutte, das die »bella calma« inmitten jener »turbini« des Lebens feiert, die schon vom Wort her auf die »perturbationes animi« anspielen? Und schließlich hat mit epikureischer Heiterkeit auch Goethes und Mozarts Freilassen der Sprache zu tun; das Zurücktreten des Ich, um die Sprache der Poesie und der Musik selbst sprechen zu lassen: in der Gewaltlosigkeit einer antisystematischen Kunst.
Sicher steckt Goethes historischer Kern in dem, was er zur Sprache bringt und was nicht, was er übersieht oder maximenhaft abblendet. Was verschweigt der Sizilien-Teil der Italienischen Reise nicht alles an sozialem Elend. Auf welch fragwürdige Weise illuminiert Goethes »malerischer Blick« nicht zuweilen die Welt: »Einige Dörfer brannten zwar vor uns auf, allein der Rauch tut in einem Kriegsbilde auch nicht übel.«(100) Schließlich: welches Maß an Naturmetaphorik muß Goethes späte orphische Dichtung aufbieten, um der eigenen Vergänglichkeit den Stachel zu nehmen, welch lehrhaften Ton: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen«. »Getrost! Das Unvergängliche / Es ist das ewige Gesetz«. Und doch kannte Goethe nur zu gut die Gefahr des inneren Chaos. Regelmäßig tauchen in seinen autobiographischen Schriften der Hang zum Planlosen, Bruchstückhaften und der Abgrund des Zerfalls auf.
Fühlt' ich nicht solchen Anteil an den natürlichen Dingen und säh' ich nicht, daß in der scheinbaren Verwirrung hundert Beobachtungen sich vergleichen und ordnen lassen, wie der Feldmesser mit einer durchgezogenen Linie viele einzelne Messungen probiert, ich hielte mich oft selbst für toll.(101)
Gegen sein Erschrecken vor dem Regellosen setzt Goethe die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten. Ob es sich um seine Begegnung mit dem Straßburger Münster, mit indischer Skulptur, mit der Villa des Prinzen Palagonia oder um seine Beschäftigung mit der Wolken- und Witterungslehre handelt. Daß er dennoch die Spur des Irregulären, Inkalkulablen im poetischen Diskurs aushält und als unverzichtbar in dessen wenig arrondierten Formen mitkomponiert, macht seine Modernität aus.
Mozart hat jenes »überhand nehmende Maschinenwesen«(102) nicht mehr erlebt, dessen traditions- und bewußtseinsattackierende Wucht Goethes Spätwerk registriert und darin demjenigen Beethovens gleicht: in Form einer Auseinandersetzung mit der als »Halbkultur«(103) beargwöhnten Epoche des heraufziehenden Industrialismus. Vor allem der Tribut, den Kunst einer nüchternen Welt zu entrichten hat, nähert Goethes Spätstil demjenigen Beethovens an. Zurückgedrängt wird die Macht der Formung, die dem Stoff gönnerhaft den Schein der Freiheit gewährt. Überdeutlich werden die Momente des Eingriffs und die Thematisierung des Materials. So im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie, der eine Reflexion der kompositorischen Mittel demonstriert. Wenn sich die Exposition des Hauptthemas in einer Geste der Revision zurücknimmt, um in einem zweiten Versuch den kritischen Punkt des ersten zu überwinden – durch den Einsatz eines hebelartigen Motivpartikels –, dann bedeutet diese Reformulierung Verwerfung und Strategiewechsel zugleich. Beethoven erweckt den Eindruck eines komponierten Irrwegs. Was sonst dem läuternden Skizzenbuch anvertraut blieb, geht in die Gestalt des Werks selbst ein und zersetzt dessen Homogenität.
Eine vergleichbare Selbstreflexion repräsentiert in Goethes Wanderjahren die Abdankung des hintergründig wirkenden, allwissenden Autors zugunsten eines Redakteurs, der die Organisation der Stoffmassen aufdeckt:
Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil (...) wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten.
Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar von einigen Jahren anzukündigen, weshalb wir gern, wäre es mit der typographischen Einrichtung zu verknüpfen gewesen, an dieser Stelle einen Band abgeschlossen hätten.(105)
Von solch redaktionellen Instruktionen ist der Weg zur Schnitt- und Blendentechnik in den Tempo- und Gestaltwechseln der späten Beethoven-Quartette nicht weit. Auch hier entäußern sich die Eingriffe des Autors zur Dehnung und Raffung und zur Aufsplitterung von Kontinuität und Zeit; drastisch im ersten Satz von Opus 130.
Auffällig an Goethes und Beethovens Verwandtschaft ist der enzyklopädische Zug. Bei Beethoven vom Tanz bis zur Fuge, von Rezitativ und Arie bis zur Sonate reichend, bei Goethe, allein im Rhythmischen, vom Altdeutschen bis zur Antike, vom romanischen Formenkreis bis zu aktuellen Neubildungen. Neben summenhaften Bilanzierungen als Antwort auf das Ende der großen Theodizeen zeigen sich zudem Ähnlichkeiten in einer Materialfülle, die oft nach Art eines luxuriösen En passant präsentiert wird. Bei Beethoven durch eine Kunst der Andeutung, die weite Affekt- und Reflexionskomplexe anreißt, bei Goethe durch ein Raffinement der Symbolverdichtungen. In einer Materialfülle auch, was die Flexibilität der Formdisposition anbelangt. Der Austausch ganzer Sätze in Beethovens letzten Streichquartetten erinnert an Goethes Verfahren, Spruchsammlungen als bewegliche Masse der Wanderjahre einzusetzen, um im wahrsten Sinn des Wortes Bände zu füllen. Ähnlich ist in beiden Fällen außerdem die Einsicht in den Zerfall der diskursiven Logik, ein organisatorisches Laisser-faire, das im Ablassen von einer rigorosen Durchorganisation des Werks die Teile gleichgewichtig aufwertet und damit in ihrem Wechselverhältnis enthierarchisiert.
Fraglos auch die Gemeinsamkeiten in der Überlagerung von Sprache und Gegensprache. Daß die Cavatina aus Beethovens Streichquartett op. 130 über einem metrisch konstanten Puls rhythmisch freie Rezitativsplitter wie »beklemmt« stocken läßt, erinnert an Goethes syntaktische Erosionen. Etwa im Mittelteil der fünften Strophe der Marienbader Elegie, der etwas von einer außer Atem gekommenen Sprechweise annimmt. Wie in Beethovens Cavatina die periodische Regularität von irregulären Sequenzen mit realistischer Wirkung durchsetzt wird, so beginnt in Goethes Elegie die strenge Stanzenform, die die seelische Erschütterung fassen soll, im Verlassen der wohlartikulierten Diktion zu beben: durch Überdehnung der grammatischen Bahn im Aufschub klarer Bezüge.
Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte
Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden
Mit jedem Stern des Himmels um die Wette
An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden;
Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere
Belastens nun in schwüler Atmosphäre.(106)
Die Cavatina aus dem Streichquartett op. 130 von 1825 ist Beethovens große Elegie, vergleichbar der berühmten Marienbader Goethes von 1823. Beide Konfessionen kreisen um die Leidmetaphorik des Herzens. »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.« Figuren der Enge, der Angst werden akut. »Beklemmt« steht über dem von Ces-Dur nach as-Moll führenden Mittelteil von Beethovens Cavatina. Vom »wüsten Raum beklommner Herzensleere« spricht Goethes Elegie. Weltseele und Entelechie werden als Souveränitätsmuster fragil. »Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen«(107). Und immer wieder, der Erfahrung äußerster Einsamkeit kontrapunktiert, das Motiv der Hoffnungssehnsucht. Wird bei Beethoven der stammelnde Duktus von kantablen Teilen flankiert, die auf die Hoffnungsarie Leonores aus dem Fidelio anspielen(108), »dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle« auch in Goethes Spätgedicht. Und sei es in der Erinnerung. Momente des Aufschwungs und des Sturzes in beiden Monologen.
Die Kondition, daß die Wortsprache auf das zeitliche Nacheinander angewiesen ist, das es ihr im Gegensatz zur Musik nicht erlaubt, divergente Motive und Themen simultan zu schichten, überschreitet Goethe in den Wanderjahren auf musikhafte Weise. Bricht der Roman die Folgelogik auf, dann lockert er damit die argumentative Vermittlung des Einzelnen in der Zeit und läßt die Motivkreise in räumliche Gleichzeitigkeit zueinander treten. Umgekehrt greift die Musik um 1820 Raumstrukturen auf: in Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli. Auch sie sind auf Verräumlichung angelegt: in Form eines Zirkels materialanalytischer Varianten. Im Unterschied zu den variativen Steigerungen der Neunten Symphonie und mit einem ähnlichen Hang zur Typisierung der Charaktere wie in Goethes Wanderjahren. So versenkt sich die zwanzigste Variation in ein Themensubjekt am Rand seiner Identität: entindividualisiert und ins Abstrakte gewendet, vor seiner Auflösung nur noch durch die Periodik des Ausgangsmodells bewahrt. Wie bei Goethe ist die Einzigartigkeit des Subjekts, die Unverwechselbarkeit des Helden bisweilen nur wenig von Belang. Faust wird in der ‘Tragödie zweitem Teil’ nur mehr als eine »Art von durchgehender Schnur« benutzt, »um darauf die verschiedensten ‘Weltenkreise’ aneinander zu reihen«(109), während Wilhelm Meister in den Wanderjahren als Individualität im »funktionellen Figurenspiel der Erzählkreise«(110) verschwindet. Was könnte mehr vom mächtigen Weltgetriebe zeugen als diese Transformation ins Typische?
Wie die Spruchsammlungen der Wanderjahre so formulieren auch Beethovens späte Bagatellen aphoristisch zugespitzte Entlastungen von jeglicher Vermittlungs- und Durchführungsarbeit: eine experimentelle Prosa und Musik der rasanten Anspielungen und der Anforderung an eine Einbildungskraft, die dem kaleidoskopartigen Umschlagen der Stimmungen und Gedankenassoziationen gewachsen ist; diesem, wie Goethe an Sterne rühmt, »schnellen Wechsel von Ernst und Scherz, von Anteil und Gleichgültigkeit, von Leid und Freude«(111). Als tour de force durchgeführt im pausenlosen Übergang der sieben Sätze von Beethovens cis-Moll Quartett mit seinen sechs verschiedenen Haupttonarten, seinen 31 Tempoänderungen, zu schweigen von seiner Textur- und Formenvielfalt.
Während Hegel noch glaubt, daß alles gesagt werden kann, weiß das Spätwerk Goethes und Beethovens von der Bedeutung des nur indirekt Sagbaren und der des Ungesprochenen, Nichtkomponierten. Von dem also, was sich aus dem Spiegelungsrondell der Teile ergibt:
Da sich manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.(112)
Diese Kunst der Andeutung durch wechselseitige Erhellung hat nichts mit Irrationalismus zu tun, einiges aber mit der polysemantischen Kraft der Musik und viel mit dem, was in der Ornamentik Negativform heißt. Damit also, daß ein Muster, eine gewebte Textur, ein geschriebener Text das von ihnen Begrenzte und Ausgesparte vexierbildhaft zu einem zweiten Muster, einer zweiten Textur, einem zweiten Text ausformen. Man könnte von einer Lesart des Penelope-Motivs sprechen: mit dem Erzeugen ihres Gewebes löst Kunst zugleich das Geflecht des alltäglichen Sinns auf. Eine solche Negativform konturiert sich im Spätwerk Goethes und Beethovens als die Erkenntnis vom Schwinden des archimedischen Punkts der Gesellschaft, dem ihrer sozialen Vernunft. Daß mit der Aufkündigung einer unabänderlichen Folgelogik die Urteilsinstanz der Wanderjahre zwar nicht aufgehoben, aber doch brüchig wird, hängt damit zusammen. Zum Problem wird, wie nach dem Zerfall der Trinität von Gott, Wahrheit und Sprache noch zu schreiben, zu komponieren sei, ohne in Unverbindlichkeit oder romantische Fluchttendenzen abzugleiten.
Goethes Spätstil reagiert darauf, indem er die Sprache gegen deren sinnsyntaktische Weisungsgebundenheit musikalisiert, um sie für die Härte des Realen und dessen poetische Transfiguration geschmeidig zu halten. Das Risiko, dem Goethe die Prosa der Wanderjahre im Pakt mit der »Prosa der Welt« aussetzt, ist demzufolge enorm. Etwa in jenen Stellen über das Weberhandwerk, die Goethe als ungefilterte Sachschilderung in den Roman einläßt:
Rechts gedreht Garn gehen fünfundzwanzig bis dreißig auf ein Pfund, links gedreht sechzig bis achtzig, vielleicht auch neunzig. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertelellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke fleißige Spinnerin behauptete vier auch fünf Schneller, das wären fünftausend Umgänge, also acht bis neuntausend Ellen Garn täglich am Rad zu spinnen.(113)
Es ist, als würden in die offene Form der Wanderjahre zusätzlich Fenster eingelassen werden, durch die Realität eindringen kann, um das Werk nicht von innen her zu sprengen. Goethe selbst hatte sich über den Versuch mokiert, die Wanderjahre »systematisch konstruieren und analysieren zu wollen«, während sich der Roman doch »nur für ein Aggregat« ausgebe(114), für einen »Verband der disparatesten Einzelheiten«(115).
Goethes und Beethovens Spätwerk ordnet sich nicht mehr um ein benennbares und verbindliches Zentrum, das den erloschenen göttlichen Deutungszauber durch neue Sinnstiftungen beerbt. Innerhalb des ästhetischen Kosmos soll zwar alles gleich nah zum Mittelpunkt sein, der Mittelpunkt selbst jedoch entzieht sich. Er löst sich in die gleichgewichtigen Gravitationsschwerpunkte der Teile auf, die sich durchdringen und ihren Zusammenhang untergründig stiften. Bei Beethoven durch das Symbol eines Viertonmotivs, das die Klammer zumal der Streichquartette opp. 130, 131 und 132 liefert. Bei Goethe durch das Motiv des »Kästchens«, das den Roman der Wanderjahre symbolisch und real zugleich durchzieht – wie eine geheimnisvolle black box. Was ein Merkmal der späten Beethovenquartette genannt wurde, findet seine Parallele auch in Goethes Spätwerk: nämlich »Assoziationen zu knüpfen, die halblatent bleiben«, zugleich aber »wesentlicher als die manifeste motivische Arbeit« sind.(116) Gegen den Kodex des Werkorganismus verstoßen Beethovens späte Streichquartette ebenso wie Goethes Wanderjahre. Ihre zur Offenheit tendierende Form weitet sich ins Unendliche, weil sie die Teile hochgradig mobil werden läßt. Wenn der Anfang von Beethovens Opus 130 bereits wie eine Fortspinnungssequenz klingt oder Goethes Wanderjahre mit einem »Ist fortzusetzen« enden, sind dies frühe Beispiele einer Destabilisierung des Beginnens und Schließens und damit einer Entmächtigung der Form selbst, ihres Alphas und Omegas.
Vergleichbares findet sich in der letzten von Beethovens Bagatellen op. 126, deren Anfangstakte wie ein Ende wirken; Anfangstakte, die das Stück dann tatsächlich auch unverändert als Schluß einsetzt, besser: montiert. Anfang und Ende sind austauschbar: wohl eine der radikalsten Arten, Form als Entwicklung zu verabschieden. Wie sich mit solchen Relativierungen die Verstrebungen im Innern der Werke lockern, zeigt Goethes und Beethovens Spätwerk durch seine Aussparungen. Durch solche des Verschweigens in den Wanderjahren, durch solche der Aufkündigung von Vermittlung und Umschreibung in der späten Lyrik; bei Beethoven, vornehmlich in den Streichquartetten, durch eine reduzierte Fortspinnungstechnik und die zu harten Kontrasten gerafften Modulationswege. Hinter all dem steht eine Idee des Poetischen, die Goethe 1827 so formuliert: »je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion desto besser«(117). Natürlich begünstigt solche Inkommensurabilität den Zufall. Erstaunlich ist es deshalb nicht, wenn die Wanderjahre dem Autor des Tristram Shandy ein Denkmal setzen: Laurence Sterne also, der den Zufall als Produktivkraft feiert, um das Zerstückelte und Entlegene auf den Subtext heimlicher Affinitäten hin diaphan zu halten. Die Sterne gewidmeten Aphorismen der Wanderjahre: sie sind vor allem auch kommentierende Spiegelungen von Goethes eigenem Spätwerk.
Goethes und Beethovens letzte Werke haben es mit einer Realität zu tun, die nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution und inmitten der frühindustriellen »Unrast« und »Schnelligkeit«(118) die künstlerische Produktion immer mehr auf eine Ästhetik des Exzentrischen hin schärft: im Widerstand gegen die lähmende Mitte der Konvention. Von dieser Hypothek her erhellt Goethes und Beethovens enzyklopädischer Anspruch in all seinen Brüchen und Beschwörungen den Blick auf das metaphysisch entzauberte Asyl der Moderne. Sich der Prosa dieses Asyls zu stellen, lautet das ebenso offene wie geheime Motto. In einer Verwebung mit dem Poetischen, die eine radikale Diskursscheidung nicht mehr zuläßt. So wie in Goethes Wolkengestalt nach Howard:
Vor Sonnenaufgang leichte Streifen an dem ganzen Horizont hin, die sich erhoben und verflockten, sobald sie hervortrat. Die Fahne, vollkommen in Nord, stand unbeweglich, mit wachsendem Tag häuften sich die Wolken. In Alexandersbad stand das Barometer 28 Zoll weniger anderthalb Linie, welches nach der Höhe des Orts schön Wetter andeutet. Nach Tische bewölkte sich der Himmel immer mehr, die Wolken schienen in tieferer Region zu schweben, Natur und Gestalt des Stratus anzunehmen, auch war das Barometer eine halbe Linie gefallen. Um acht Uhr war der Himmel ziemlich klar; doch lag im Süden eine langgestreckte, dichte Wolke, die sich aber nach und nach aufzuzehren schien. (...)
Das leichteste Gespinst der Besenstriche des Zirrus stand ruhig am obersten Himmel, ganze Reihen von Kumulus zogen, doppelt und dreifach übereinander, parallel mit dem Horizonte dahin, einige drängten sich in ungeheure Körper zusammen und in dem sie an ihrem oberen Umriß immer abgezupft und der allgemeinen Atmosphäre zugeeignet wurden, so ward ihr unterer Teil immer schwerer, stratusartiger, grau und undurchscheinend, sich niedersenkend und Regen drohend.(119)
Wo liegt hier die Grenze zwischen Poesie und Prosa? Zwischen lyrischer Emphase und wissenschaftlicher Präzision? Bildhafte Imagination und begriffliche Exaktheit mischen sich, so wie Goethe selbst gehofft hat, daß beide sich »freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen« könnten(120). Eine Versöhnung im Befriedeten, von Kunst und Leben auch, wie sie im »Presto« von Beethovens cis-Moll-Quartett Kontur annimmt. Einem Satz, dessen poetisch-prosaische Legierung von Trieb und Getriebe auf flüchtige Oasen des »piacevole« hin durchlässig wird, des »Freundlichen«, um Goethes Wort aufzugreifen, – und auf Kinderliedhaftes, befreit von Ernst und Askese.
Anmerkungen
1 Theodor W. Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: GS 11, Frankfurt/M. 1974, S. 496.
2 Goethe, Dichtung und Wahrheit III/IV, Werke in 45 Bänden, München 1961 ff. (im folgenden abgekürzt als WW), Bd. 24, S. 72.
3 Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, S. 503 f.
4 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, hg. von Regine Otto, Berlin 1982, 19. 2. 1829.
5 Goethes Gespräche, Hg. Wolfgang Herwig, Zürich 1965 ff., Bd. 1, S. 514.
6 Goethe, Maximen und Reflexionen (WW 21), S. 31.
7 Goethes Gespräche, Bd. 2, S. 360.
8 Hans Gerhard Gräf (Hg.), Goethe über seine Dichtungen I, Frankfurt/Main 1902, S. 365.
9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, München 1980, Bd. 3, S. 557.
10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/M. 1970, Bd. 3, S. 508.
11 Goethe, Geschichte der Farbenlehre (WW 41), S. 122; Hvhbg. J. B.
12 Goethe, Hefte zur Morphologie (Zur vergleichenden Anatomie: Nachträge), in: WW 37, S. 179.
13 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (WW 13), S. 75.
14 Ebd., S. 92.
15 Ebd., S. 104.
16 Ebd., S. 77.
17 Ebd, S. 92.
18 Ebd., S. 111.
19 Goethe, Ernst Stiedenroth: Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, in: WW 39, S. 191.
20 Goethe, Eins und alles, in: WW 2, S. 149.
21 Goethe an Caroline und Johann Gottfried Herder, 13. 12. 1786.
22 Goethe an Charlotte von Stein, 6. 1. 1787.
23 Goethe, Zahme Xenien, in: WW 2, S. 284.
24 Eckermann, 11. 3. 1828.
25 Goethes Gespräche, Bd. 3,2, S. 610.
26 Carl Friedrich Zelter an Goethe, 27. 10. 1809.
27 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 27. 5. 1796.
28 Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: WW 20, S. 83.
29 Goethe, Wiederholte Spiegelungen, in: WW 31, S. 229.
30 Dass Anton von Webern gerade dieses Gedicht für eine seiner Goethe-Vertonungen ausgewählt hat, mag zu denken geben. Vgl. dazu
den Beitrag von Regina Busch.
31 WW 2, S. 156.
32 Weimarer Ausgabe, Abteilung IV, Band 49, S. 397 (Jahreswechsel 1831/32).
33 Goethes Web- als Textmetaphorik macht auch Klaus Jeziorkowski in seinem Essay »...ein Gleichnis das ich so gerne brauche«. Zur
Syntax der Natur bei Goethe zum Angelpunkt seiner Überlegungen (Forschung Frankfurt 2/1999, S. 6 ff.).
34 Goethe, Gedichte aus dem Nachlaß, in: WW 4, S. 64.
35 Ivan Nagel, Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München 1985, S. 83 f.
36 Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, v. 11437 f.
37 Goethe an Friedrich Wilhelm Riemer, 30. 6. 1813.
38 Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, Sämtliche Werke in fünf Bänden, München 1980, Bd. 5, S. 706.
39 Faust II, v. 11699 ff.
40 Friedrich Theodor Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Teil, Stuttgart 1978, S. 60 f.
41 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, WW 13, S. 199.
42 Goethe, Symbolik, in: WW 39, S. 166.
43 Zit. nach Erich Trunz, Ein Tag aus Goethes Leben, München 1999, S. 139 ff.
44 Ebd., S. 144.
45 Ebd., S. 191.
46 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre I (WW 17), S. 76.
47 Faust II, v. 7005.
48 Ebd., v. 7157.
49 Ebd., v. 8384.
50 Adorno, Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins, in: GS 11, S. 471.
51 Goethe, Howards Ehrengedächtnis, in: WW 2, S. 160.
52 WW 26, S. 192.
53 Goethe, West-östlicher Divan (WW 5), S. 116.
54 Goethe, Zueignung, in: WW 1, S. 9.
55 Faust II, v. 4728-5986, insb. v. 5065-5986.
56 Faust II, v. 7433.
57 Wilhelm Meisters Wanderjahre II (WW 18), S. 56.
58 Italienische Reise I/II (WW 25), S. 310; Hvhbg. J. B.
59 Schiller, Über Egmont, WW V, S. 933 f.
60 Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung des Dilettanten, Darmstadt 1983, S. 163.
61 Vgl. Karl Ditters von Dittersdorf, Lebensbeschreibung, seinem Sohne in die Feder diktiert, Regensburg 1940, S. 212.
62 An Charlotte von Stein, 15. 6. 1786.
63 Maximen und Reflexionen, S. 136.
64 An Schiller, 9. 7. 1796.
65 Dichtung und Wahrheit III/IV, S. 132 f.
66 Ebd.
67 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 20. 7. 1804.
68 Goethe an Schiller, 9. 12. 1797.
69 Vgl. z. B. Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, in: WW 37, S. 69.
70 Hegel, Enzyklopädie, WW 8, S. 72.
71 Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 722.
72 Goethes Gespräche, Bd. 3,1, S. 697.
73 Goethe an Zelter, 31. 10. 1831.
74 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, KSA I, S. 492.
75 Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi, 6. 1. 1813.
76 Aus Goethes Brieftasche, in: WW 33, S. 19.
77 Faust II, v. 12110.
78 Wie so vieles in meinen Goethe-Überlegungen verdanke ich diesen Aspekt dem Gespräch mit Sylvelie Adamzik und ihrem Buch
Subversion und Substruktion. Zu einer Phänomenologie des Todes im Werk Goethes, Berlin 1985.
79 Faust II, v. 11870.
80 Faust. Der Tragödie erster Teil, Regieanweisung zu v. 349.
81 86 Faust II, v. 11832 ff.
82 Maximen und Reflexionen, S. 25.
83 Faust II, v. 11336 f.
84 Ebd., v. 8479 bzw. v. 11872 f.
85 Ebd., v. 4619.
86 Goethe, Glückliches Ereignis, in: WW 39, S. 175.
87 Goethe an Schiller, 23. 10. 1799.
88 Zit. nach Ernst Sander, Nachwort zu Denis Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr, Stuttgart 1972, S. 344.
89 Georg Christoph Lichtenberg, Verschiedene Arten von Gemütsfarben, Schriften und Briefe, München 1972, Bd. 3, S. 577.
90 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I, Hamburg 1978, S. 327.
91 Ebd.
92 Dichtung und Wahrheit III/IV, S. 135.
93 Goethe an Lavater, 22. 6. 1781.
94 Dichtung und Wahrheit II (WW 23), S. 68.
95 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Sämtliche Werke,
Stuttgart-Augsburg 1856-61, Bd. VII, S. 359 f.
96 Mozart an Abbé Bullinger, 7. 8. 1778.
97 Fa. Paralipomena zum Vorspiel auf dem Theater, in: Goethes Poetische Werke Bd. 5, Stuttgart 1951, S. 602.
98 Goethe, Nacharbeiten und Sammlungen, in: WW 39, S. 84.
99 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, München 1977, S. 531.
100 Goethe, Kampagne in Frankreich, in: WW 27, S. 37 f.
101 Italienische Reise I/II, S. 189.
102 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 171.
103 Eckermann, 2. 1. 1824.
104 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 125.
105 Wilhelm Meisters Wanderjahre I, S. 222.
106 Hvhbg. J. B.
107 Goethe, Trilogie der Leidenschaft.
108 Cavatina, T. 7 f. und 55 f.; Arie der Leonore: »Komm, Hoffnung«, T. 8 f.
109 Eckermann, 13. 2. 1831.
110 Dieter Borchmeyer, Goethe. Der Zeitbürger, München 1999, S. 304.
111 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 219.
112 Goethe an Carl Jacob Ludwig Iken, 23. 9. 1827.
113 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 93 f.
114 Goethes Gespräche, Bd. 3,2, S. 571.
115 Goethe an Rochlitz, 28. 7. 1829.
116 Carl Dahlhaus, Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 1987, S. 281.
117 Eckermann, 6. 5. 1827.
118 Goethe an Zelter, 6. 6. 1825.
119 WW 38, S. 169 f.
120 Goethe, Verfolg, in: WW 39, S. 71.