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Caravaggio Narziss (Wikimedia Commons) -
Caravaggio, Narziss (Wikimedia Commons)

Denotationen - Detonationen

Sensorium Neue Musik

Als Gilles Deleuze und Félix Guattari mit dem Denkmodell vom Rhizom die philosophische Diskussion vor rund fünfundzwanzig Jahren in Aufregung versetzten, trafen sie einen Nerv des Zeitgeistes. Schnell entfaltete das Bild vom mittelpunktslos wuchernden Spross- und Wurzelwerk ein seinerseits wildwüchsiges Eigenleben quer durch die unterschiedlichsten Theorie- und Lebensbereiche. Eine Art Wundermittel zur Auflösung jener hierarchischen, von Grund auf dualistisch und kausal ausgerichteten Baumform schien gefunden, an der sich abendländisches Denken und Handeln überwiegend orientiert hatten. Auffällig ist dabei, dass Deleuzes/Guattaris Philosophieren viel mit dem gemeinsam hat, was das Repertoire der Neuen Musik als Verfahren der Dezentrierung, der variablen Form oder der Eigenzeit kennt. Eine Affinität zwischen Musik und Philosophie, die zu denken gibt.

          Musik bedeutet Sublimierung, wenn auch nicht nur. Mehr noch ist sie ein eigenständiges Wahrnehmungs- und Erkenntnismedium, eingebunden in die Arena ihrer Zeit. Mag auch mittlerweile kein Weltgeist mehr zu verstehen geben, was und wie zu komponieren sei. Im Gegenteil: Ex-cathedra-Ästhetiken wurden angesichts der vielfältig legitimen Ausdrucksweisen zeitgenössischen Komponierens auf ihren Zeitkern hin durchlässig. Neue Musik ist keineswegs mehr auf das »Entsetzen der Geschichte« und das »gesellschaftliche Unwesen« einzuschwören, ohne deshalb gleich der Qualität nach abzustürzen. Nach der Aufhebung der Dissonanzpflicht spricht Helmut Lachenmann nicht umsonst von der »Heiterkeit« seiner Musik. Zu lange war es in der Nachfolge Adornos üblich, der Neuen Musik ein gutes Gewissen zu verschaffen, indem man sie zum schlechten der Gesellschaft erklärt hat. Nicht selten mit der Folge, entscheidende Konsequenzen des ästhetischen Experiments zu unterschätzen, etwa die im Ausloten von Gedächtnis und Imagination, einem der Zentren Neuer Musik.

          Galt Musik lange als eine hohe Schule der Gedächtniskunst, historisiert zeitgenössisches Komponieren die Souveränitätsmuster der Ars memoria, indem sie das Wechselspiel von Erinnerung, Erwartung und Wiederholung der Erosion des Bewusstseins als vierter Kraft einlagert. Auf diese Weise überlistet die Musik Morton Feldmans die Ordnungsfunktion des Gedächtnisses, bis es zu vibrieren beginnt. In der unmerklich zwischen Wiederholung und Differenz changierenden Textur der Mikrovarianten laufen die erkennungsdienstlichen Hörgewohnheiten ins Leere. Kohärenz wird unterhöhlt, weil sie ihre Inkohärenz mitproduziert. Eine Legierung, die »between categories« die ichzentrierte Erkenntnisapparatur verunsichert, weil das Ohr gewohnt ist – ungeachtet solch feinmaschiger Klangstoffe ohne dramaturgische Muster – auf der Makroebene von Großformaten zu hören.

 

Körper

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Neue Musik irritiert Hörgewohnheiten aus dem Umstand heraus, dass Bewusstsein und Gedächtnis nicht mehr in einem göttlichen Grund verortbar sind; auch nicht in der säkularisierten Version eines Subjekts, das die göttliche Regie aufnimmt, um sich Welt und Dingen als Grund der Identität unterzuschieben. Zeitgenössisches Komponieren zieht daraus die Konsequenz, Bewusstsein und Gedächtnis da, wo sie porös werden, auf ihren materialen Grund hin durchlässig werden zu lassen, auf den Körper als Erkenntnisfaktor: Eine Kritik am Leitsatz der metaphysischen Tradition, unmöglich könne die Sinnenwelt vor dem Denken bestehen. Damit wird Musik zu einem Korrektiv der These vom Verschwinden der Realität in einem »Hyperraum der Simulation«.

          Natürlich geht auch die Neue Musik nicht mehr vom Einheitsbegriff der Person aus. Natürlich ist auch für sie das Subjekt zugleich eine Schnittmenge in der Textur des Systems, aber eben auch ein Schnittpunkt von Affekten, Wünschen, Leidenschaften. Sie weiß, dass der Rede von den Patchwork-Biografien, von den »cross-cutting identities« und vom plural entgrenzten Subjekt der Ich-Kern zu leicht aus dem Blick gerät. Immer noch verlaufen die jeweiligen Erfahrungsprozesse zu verschieden, als dass sie in grauer Uniformität aufgingen, mögen in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft auch zunehmend multiple Psychen gefordert sein. Und immer noch sucht sich so etwas wie Ich-Identität zu konservieren – mit ihren Blockaden und Ressentiments, aber auch mit ihrem widerständigen Bewusstseins- und Gefühlspotenzial. Deshalb lässt sich Neue Musik weder den Triebgrund von Individuum und Gesellschaft noch die Präsenz von Erfahrung und gesellschaftlicher Praxis ausreden.

          Freilich zeigt schon Pascals Erkenntnis vom Schweigen des Universums, wie der leere Raum auf Signale hin abgehört wird. Kann der verborgene Gott überhaupt noch antworten? Etwa dem Blick ins Innere des eigenen Seelenlebens mit dem Riss zwischen Körper und Geist? Auf diesen Grunddualismus der Moderne reagiert Neue Musik, indem sie die theologisch tradierte und hierarchisch gewichtete Polarität von Geist und Körper gleichsam zu einer Begegnung kritischer Massen werden lässt. Hochexplosiv, wenn sie miteinander in Berührung kommen; etwa in den komponierten Atemgeräuschen einer pneumatischen Musik. Die Verflüssigung des Somatischen und Intelligiblen entzieht dem Befehlston auf der Kommandobrücke des Geistes die Legitimation. Die somatische Spur wird zum Sprachgrund. Für die Neue Musik ist der Körper mehr als nur Körper. Das aber hat Auswirkungen auf die Topographie des Bewusstseins.

          Zeitgenössisches Komponieren hat kaum mehr etwas mit dem Cogito Beethovens zu tun, das sich mit dem Argusohr des Konstrukteurs in die Tektonik versenkt, um in gottgleicher Supervision einen musikalischen Kosmos zu erzeugen, dessen Motto lauten könnte: ›Sprich rein, sprich ökonomisch‹. Ein Motto, geeignet als Richtlinie einer Ordnung des Erlaubten und Unerlaubten und verwandt Descartes’ Leitkategorien des »clairement et distinctement«: Purifizierter Ton versus Geräusch mit einer Idee des Stils als der Organisation legitimierter und legitimierbarer Tonverbindungen. Anders die Strukturen Neuer Musik, die die Ökonomie des Diachronen überwuchern und das kompositorische Subjekt im Dickicht der Textur zum Verschwinden bringen. Musik wird anonym und produziert Unberechenbares, vergleichbar der Erfahrung, die Kausalketten der Welt nicht mehr von einem archimedischen Punkt aus überschauen zu können. Stattdessen eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wie in Isabel Mundrys Streichquartett no one mit seinen asynchronen Zeitverläufen. Ein Rhizom à quatre unterschiedlicher Eigenzeiten und Fließgeschwindigkeiten.

 

Schrift

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Sprengt Neue Musik den purifizierten Ton, demontiert sie die Filter von Klarheit und Unterschiedenheit, dann hebt ihr panakustischer Diskurs selbst noch die Schriftlogik der Notation auf. Längst wurde auch musikalisch relevant, was bei Mallarmé als variable Typographie die herkömmliche Schriftökonomie unterminiert, die den Blick und das Gedächtnis linear zügelt: Mit dem Zeilenprogress als Zeremonienmeister des Gedankens und einer syntaktischen Verkettung zugunsten starrer Seitensymmetrien. Cage etwa denotiert den Notentext und seine Richtungskonstanten in der Solostimme des Klavierkonzerts auf eine Weise, die die »Gutenberg-Galaxis« auch der Musik hinter sich lässt.

          Neue Musik heißt insofern auch eine neue Wahrnehmungssemiotik im Auf- und Umbrechen hochbetagter Notations- und Zeichenformationen mit der Abkehr von der Vermittlungshierarchie diachroner Kausalität und ihren zielgerichteten Formationen. Stattdessen eher eine akausale Energetik der Musik, die davon absehen kann, jede Schicht müsse signifikant und subjektiv sein. Zum ersten Mal kann Musik selbst die Ordnung der Zeit variabel halten und den aristotelischen Werkorganismus hinter sich lassen. Seitdem der newtonsche Zeitcontainer brüchig geworden ist, können auch in der Musik Teile umgruppiert werden oder verschwinden, ohne dass das Ganze aus den Fugen geraten müsste.

Hat das Komponieren und Hören funktionsharmonisch tonaler Musik etwas von einer Art Unternehmertum an sich, verwiesen auf einen Fonds der Motiv-, Themen- und Akkord-Depositorien, zielt Neue Musik auf die Transformation von Effizienz und Ertrag. Schon indem sie ein Kontinuum affektiver Erlebniszeit verweigert. Vor allem aleatorische Unwägbarkeiten werden vom Erfahrungsrecycling des wiederholbaren Werks aus zur narzisstischen Kränkung. Denn erst der Zusammenhang von Ordnung und Ortung, von organisierter Struktur und richtiger Platzierung gewährleistet jene Erkennbarkeitsmuster, die Sicherheit garantieren. Orientierung: schon das Wort verweist auf ein Zentrum, auf den Osten als Ort des Sonnenaufgangs, darauf also, die Himmelsrichtungen nach der Sonne zu bestimmen. Wollte man im Bild bleiben, wäre Neue Musik demgegenüber eher eine Musik der Sterne, eine der Konstellation.

          Seit der Renaissance leistet gerade das Universum der Sterne einem mittelpunktslosen All Vorschub. Vor allem bei Nicolaus Cusanus und dessen »omnia ubique« jenseits der Wertung nach Zentrum und Peripherie. Es gibt nicht mehr den vor allen anderen ausgezeichneten erd- oder sonnenhaften Mittelpunkt. Solche monarchischen Modelle werden zunehmend republikanisch unterlaufen; durch Modelle, die den Mittelpunkt überall und nirgends propagieren und damit den Begriff des Mittelpunkts aufheben. Kein Wunder, dass Hegel in der anarchischen Streuung der Sterne den Zufall lauern sah.

          Von Hegels Position innerhalb der tonangebenden Tradition abendländischen Denkens her wird manches am Problemfeld Neuer Musik verständlicher. Das heißt von der Denk- und Hörtradition der Hypotaxe her, orientiert an kausalen oder kausalähnlichen Verkettungen und der Über- und Unterordnung von Teilstrukturen. Im Unterschied zu den Bei- und Nebenordnungen der Parataxe und ihrer Offenheit für das, was nicht im logischen oder organischen Korsett der Theorie oder des Werks aufgeht: Offenheit für das Zufällige, Beiläufige, für Streuungen und Konstellationen. Für Hegel dagegen verweigert sich die Vielheit der Sterne dem »Streben (...) nach einem Ort als Mittelpunkt«. Anders als der Zentralismus des Sonnensystems sind die Sterne für den Philosophen des Geistes nichts weiter als ein »Licht-Ausschlag«, eine Art Krätze des Firmaments, und ebenso wenig »bewundernswürdig« wie eine »Menge von Fliegen«.(1)

 

Sinn

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Die Behauptung, Neue Musik entziehe sämtliche Orientierungsmöglichkeiten, begreift ihr Inkalkulables lediglich als Sabotage von Sinn. Zielt indes das Bewusstsein des Cogito auf Identifikation, auf ein »das ist«, dann wäre dieser Identifikationszwang das Erste, was sich die Begegnung mit Neuer Musik abzugewöhnen hätte. Dass bei ihr die an der tonalen Musik entwickelten Hör- und Analyse-Modelle nicht mehr zureichen, resultiert aus der engen Bindung dieser Modelle an den Sprachcharakter der Musik. Die syntaktische und syntaxähnliche Qualität von Sprache und Musik aber war es, die über alle Unterschiede hinweg semantische Analogien zuließ. So kommunizieren in der Epoche der Tonalität Musik und Sprache über ihr affektiv gestisches Idiom. Symbolisch aufgeladen kann Musik ihrer »uralten Verbindung mit der Poesie« wegen als eine Sprache des »Inneren« aufgefasst werden. Sofern nämlich Musik zu einer »ohne Poesie schon zum Verständnis redenden Symbolik der Formen« und »des inneren Lebens« wird.(2)

          Inzwischen ist der Machtapparat sprachlicher Formationen samt ihrer subjektzentrierten Sinnspur selbst ins Visier der Kritik gerückt. Gerade auch von Seiten der Sprachkompositionen Neuer Musik. Deren transsubjektive Ressourcen liegen eben darin, sich nicht um den Bedeutungsballast der Wortsprache und um die Logik des Widerspruchs kümmern zu müssen. Darum also, was Kants »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können«, an Notwendigkeit und Einheit von Erfahrung und Selbstbewusstsein braucht.

          Seitdem sich die theologische Ordnung im Namen welthaltiger Erfahrung aufzulösen begann, musste das Schwinden christlicher Offenbarung durch diesseitige Sinnentwürfe ausgeglichen werden: Unter Verwandlung der göttlichen Substanz und ihrer Attribute von Allmacht und Allwissenheit zur Idee der Einheit und Autonomie von Person und Gattung samt deren Zeit- und Gedächtnisstrategien. Und wie die Kunst die Religion, so beerbt der Gral der Form die göttliche Regie. Die Substanz der causa sui säkularisiert sich zum Organismus des Werks. Doch bereits Nietzsche diagnostiziert den Glanz und das Elend neuzeitlicher Subjektivität als ein Ineinander von Freiheitseuphorie und Angstschüben. Im Bewusstsein der Moderne legieren sich Faszination und Schrecken, sobald im Taumel der Freiheit die Sehnsucht nach vermeintlicher Geborgenheit aufkommt. »Dass der ›alte Gott tot‹ ist«, lässt zwar den »Horizont wieder frei« erscheinen; und doch »kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass [...] es nichts Furchtbareres gibt, als Unendlichkeit«.(3) Bezieht man diese Ambivalenz auf das Schwinden einer verbindlichen musikalischen Sprache, dann hat sich inzwischen die Skepsis verloren, die dieses Schwinden lange Zeit begleitet hat: zugunsten einer Öffnung für die Vielfalt. Bezieht man diese Ambivalenz aber auf das Hören Neuer Musik, dann dominiert in weiten Kreisen nach wie vor die Angst über die Lust am Neuen: die Angst vor dem Unbekannten, weil insgeheim nur allzu Bekannten.

       Komplexes Hören bedingt die Aufhebung eines einheitlichen Hörzentrums. Multidimensionale Perspektivenwechsel, Mehrfachcodierungen, Schnitte sind Mittel einer Poly-Akustik unendlich sich gabelnder Wege, angemessen einer transversal vernetzten Welt. Setzt Mono-Akustik auf ein Ohr der Mitte, um von hier aus den musikalischen Diskurs auf das Subjekt hin zu fokussieren, hält Poly-Akustik das Hörbewusstsein äußerst flexibel, um es in rapidem Wechsel verschiedensten Positionen und Anforderungen zu konfrontieren, bei denen die Begriffe Zentrum und Rand kaum noch etwas besagen.

          Neue Musik steht im Bund mit einer Logik der Imagination, für die Offenheit nicht zwangsläufig Chaos bedeutet. Ihre Autonomie ist für Widersprüche sensibilisiert, ohne sie ständig mit dem Firnis einer Bewältigungsrationalität überziehen zu müssen. Neue Musik muss nicht unentwegt die Mechanismen der Kontrolle und der Selektion nach Sinn und Unsinn, Wichtigem und Unwichtigem, Erlaubtem und Verbotenem erzeugen, um über die dualistische Moral von Gut und Böse Sinn zu erzeugen. Erst die Freisetzung vom theologischen Ort ermöglicht eine Logik der Obsession, die in den unterschiedlichen Verfahren der Neuen Musik zum kleinsten gemeinsamen Nenner wird.

 

Spiegel

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Die Unwägbarkeiten des funktionalen Lebens verlangen nach Kompensation. Nach Gefühl und Bestätigung inmitten der Flexibilitätsgebote und der Konfusion von Identitäten und Rollen. Dass im massenmedialen Musikkonsum alles, was nicht tonal und rhythmisch geeicht ist, Angst und damit Aggression und Abwehr auslöst, ist Symptom eines Narzissmus, der Musik als Dienstleistung am Ego und dessen überschaubarem Nahbereich einsetzt. Als Jacques Lacan zwischen einem »leeren« und »vollen Sprechen« unterschied, hatte er als »parole vide« jenen selbstsicheren Diskurs im Blick, der im Glauben an seine Wahrheit und Geschlossenheit die Spuren narzisstischer Verblendung systematisch ausblendet – im Unterschied zur »parole pleine«, der »harten Arbeit eines Diskurses ohne Ausflüchte«.(4) Spricht man, Lacan paraphrasierend, von einem ›leeren und vollen Hören‹, wäre das leere eines, das ständig nur das Echo seiner sinncodierten Erwartungen hören will.

          Während Neue Musik Ausschlusspraktiken aufhebt – bis hin zum Einlassen von Geräusch, Körperhaftem, Zufall und Stille – , schottet sich das narzisstische Hörbewusstsein gegen die imaginative Kraft der Neuen Musik ab. Dass Erosionen des Bewusstseins bewusstseinserweiternd und die Abwesenheit von Prinzipien befreiend sein können, bleibt dem ästhetischen Narzissmus fremd. Bei ihm treibt der Hunger nach affektiver Bestätigung das stete Sich-Wiederfinden des Ich an, um unter der Maskierung von Altbekanntem den Reiz des Neuen zu spüren: eine Autonomie auf der Heteronomie des Objekts.

          Die Spiegelfunktion von Musik ist eine Erscheinung, die von der Genese des neuzeitlichen Subjekts nicht zu trennen ist. Noch Josquins kontrapunktische Tektonik basiert auf dem Prinzip der »Varietas«, dessen ständiger Verwandlung narzisstische Nuancen fremd sind. Deshalb wird Josquins Musik über die Jahrhunderte hinweg Stockhausens Idee der »Momentform« vergleichbar. Eine Musik weder des Gefühlskults noch des Aufschubs, sondern eine, in der jedes Jetzt Mittelpunkt ist. Die Spiegelwände, die das musikalische Subjekt zwischen 1600 und 1900 seiner eigenen affektiven Ortung wegen aufgezogen hatte, werden blind, sobald die teleologische Idee in Konkurs geht. Noch die Kritik am Urteil und an der Sprache resultiert aus dieser Krise der Teleologie, sofern jedes Urteil selbst ein Stück Teleologie ist. Ebenso wird der Einheitsgedanke der Person als teleologischer Habitus unhaltbar. Gegen solche Dezentrierungen sträubt sich der Narzissmus mit einer blockadenhaften Konservierung personaler Identität, meist nach dem Muster von Investition und Rendite. Dieser Entwicklungsroman in den Köpfen nach dem Maß einer harten Selbstbehauptung aber ist es, der der Neuen Musik am meisten Widerstand entgegensetzt.

          Neue Musik weigert sich, die eingefahrenen affektiven Muster weiter zu bedienen und eine Subjekt-Idee fortzuschreiben, die seit 400 Jahren einen Teilaspekt zum Subjekt schlechthin stilisiert hat: Den Teilaspekt von Herrschaftstechniken, die nach innen gehen, und von ökonomisch erzwungenen Selbstbehauptungsstrategien, flankiert vom Kompensationsressort der Gefühle. Vermutlich wurde das tragisch-heroische Subjekt musikalisch aus dem Grund substanzlos, weil der Subjekt-Gedanke schon von seinem Ursprung her zu groß ausstaffiert worden war. So vollzieht Neue Musik eine Gratwanderung: Was sind die Phantomschmerzen einer zu Recht hinfälligen Ideologie des Subjekts, was seine berechtigten Belange?

          Kafkas Schweigen der Sirenen als Logbuch der Neuen Musik gelesen, könnte darauf verweisen, dass die Sirenen schweigen, weil Musik künftig weder die Sirenen der Verführung noch die der Gefahr nötig hat. Ihr Experiment könnte nur noch sich selbst verpflichtet und gerade dadurch in der Lage sein, Welt zu reflektieren. Sicher ist, dass Neue Musik ihre Fahrt an keiner Stelle falscher Sicherheiten wegen abbrechen kann. Sicherheitsfantasien wären ihr Tod, weil sie vergessen, dass Moderne und Wagnis seit Kant Synonyme sind. Musik und Philosophie wandeln sich zu Expeditionen in unbekannte Kontinente der Erfahrung und des Wissens. Neue Musik eicht das Ohr auf neue Tiefenschärfen: durch die Zermürbung von Hör-Klischees. Ihre Detonationen werden zu Denotationen starrer auditiver Sinnmuster. Verstörung von Sinn-Normen aber bedeutet eine Verstörung von Macht-Normen. Was aus dieser Verstörung werden soll, muss Neue Musik nicht bekümmern. Sie ist keine praktische Philosophie. Eher eine »Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert«.(5) Experimente, Modelle sind ihr Metier. Als Rimbaud vom »Unbekannten« sprach und vom Wagnis des Dichters, »durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen«, band er dieses Wagnis an die Aufkündigung der etablierten Subjektidentität: »JE est un autre«.(6) Ob dieser Zusammenhang nicht auch einiges, womöglich alles für das Komponieren Neuer Musik besagt?

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Anmerkungen

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1   Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie II, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus 

     Michel, Frankfurt am Main 1970ff., S. 80ff.

2   Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (KSA Bd. 2), München/Berlin/New York 1980, S. 175.

3   Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft (KSA Bd. 3 ), S. 574.

4   Jacques Lacan, Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Frankfurt am Main 1975, S. 84ff.

5   John Cage, Silence, übs. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 54.

6   Arthur Rimbaud, Briefe und Dokumente, hg. v. Curd Ochwadt, Heidelberg 1961, S. 23 u. 240.

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