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Umwertungsprozesse der Moderne

                                           Das Öffentliche und das Private

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Wenn Blicke töten könnten, wären manche urbane Areale leerer. Geht man durch die Straßen unserer Großstädte, stirbt man mitunter mehrere Male am Tag. Das visuelle Kampfpotenzial ist beträchtlich. Eine Abfuhr der Fremdheit, die den Andern und im Andern sich selbst attackiert. Eine Abfuhr, zu vielschichtig, um in purer Feindseligkeit aufzugehen. Seitdem sich mit Beginn des Industriekapitalismus und seiner rastlosen «Verwertung des Werts» die Bewältigung des sozialen Drucks zunehmend privatisiert hat, nimmt auch das Kursieren des Ichs im öffentlichen Raum den Ausdruck von Gleichgültigkeit und Härte an. Und seitdem eine Öffentlichkeit, in der man die Contenance verlieren kann, nicht mehr existiert, kann auch die namenlose Betriebsamkeit dieser Öffentlichkeit vom Einzelnen nur noch momenthaft durchbrochen werden. Mit jener Ambivalenz von Nähe und Ferne etwa, mit der der aggressive Blick en passant die Anonymität verstört: Ein Signal der Kommunikation und zugleich eines ihrer Abwehr, anklagend und vernichtend, während das getroffene Gegenüber im Augenblick der Attacke schon wieder entschwunden ist. Solche punktuellen Kreuzungen von Anwesenheit und Abwesenheit sind charakteristisch für die Schnitte und Überlagerungen des Privaten und Öffentlichen in der Moderne.

     Für die Gegenwart geben gesellschaftskritische Diagnosen wie die der Frankfurter Schule oder Extremtheorien wie die Jean Baudrillards einer offenen Vermittlung von Privatheit und Öffentlichkeit kaum noch Raum. Wenn die Verwertungsmaschinerie des Kapitals und die Verwaltungsregie der Bürokratie, wenn die Schablonisierung der Medienindustrie und die Normenhörigkeit des autoritären Charakters einander zuarbeiten – zumal über die Entqualifizierung des Besonderen –, wo wäre dann noch von Öffentlichkeit und Privatheit im Zeichen von Autonomie und Mündigkeit zu reden? Für Baudrillard dagegen zirkuliert das Selbstläufertum von Dingen und Ereignissen – freigesetzt im »Hyperraum der Simulation« – ortlos, wahllos und ohne Konsequenzen, um unentwegt in einer fraktalen Wüste des Sozialen mit immergleichen Mikroformen und der Gleichgültigkeit der schweigenden Mehrheit zu kollabieren. Dieses Schweigen zusammen mit der Aufrüstung des Privaten in einer alles psychologisierenden »Tyrannei der Intimität« ist für Richard Sennett Grund genug, generell vom »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens« zu sprechen.(1) Mit Blick auf die Paradoxie einer gleichzeitigen Präsenz und Vereinzelung der Menschen im öffentlichen Raum hat sich freilich nur verlängert, was schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Metropolen Paris oder London zu beobachten war. »Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist als ihresgleichen«.(2)

     Dass es deshalb gerade in der Industriegesellschaft zur Kultivierung und Überfrachtung refugialer Schutzzonen kommt, vorrangig der der Familie, ist kaum verwunderlich. Je mehr die öffentliche Sphäre von der Undurchschaubarkeit und Feindlichkeit eines unberechenbaren Markts zersetzt wird, umso mehr steigert sich die Ritualisierung des Privaten. Und doch zeigt sich auch hier, dass die Maske des Privaten im Kult von Ich und Selbst ohne ihre Entlarvung nicht zu denken ist. Von Montaigne bis zu Rimbaud und Lacan ist das Ich von seinem Anderen entweder nur durch eine hauchdünne Zeit- und Bewusstseinsspalte getrennt oder gar selbst imaginär. »Ich komme mir vor wie ein Ort, an dem etwas geschieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Jeder von uns ist eine Art Straßenkreuzung, auf der sich Verschiedenes ereignet.«(3)

 

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(Tele-)Visio Dei

 

Öffentlichkeit ist ein bürgerlicher Begriff, relevant erst seit dem 17. Jahrhundert. Wobei Öffentlichkeit als Singular selbst schon eine Abstraktion sein dürfte. Real gibt es wohl nur Öffentlichkeiten, die ihrerseits wieder kaum fest zu konturieren sind. Selbst heute erzeugen medial fokussierte Katastrophen wie der Anschlag auf das World Trade Center eine Weltöffentlichkeit, in der das Geschehen sofort in individuell und kulturell unterschiedliche Wahrnehmungen zersplittert. Dass jedoch Öffentlichkeit durch freie Meinungsäußerung auf eine Weise produziert wird, in der die Manipulation durch selektierte und unterdrückte Nachrichten so weit als möglich unterbunden ist, setzt die Relation zwischen Öffentlichkeit und radikaler Demokratie voraus. Diese Relation wäre das Gegenteil einer Herstellung von Öffentlichkeit durch die veröffentlichte Meinung massenmedialer Informations- und Kontrollagenturen, die die Rechte einer mündigen Allgemeinheit im Interesse der Medienindustrie beschränken – unter Verkehrung des Verhältnisses von Autonomie und Abhängigkeit und unter Verkehrung der öffentlichen Bedeutung von Ereignissen: beides Kennzeichen einer Entpolitisierung, in der das Persönliche öffentlich und das Öffentliche privat wird. Schwingt im Öffentlichen das Offene und im Privaten das Privative mit, dann erfahren diese Tendenzen im profitverfilzten Öffentlichkeitsbegriff etwa des Privatfernsehens eine ihrer exemplarischen Umwertungen.

     Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Wendung von der Europamüdigkeit die Runde gemacht hatte, bei Nietzsche dann von einer Müdigkeit am Menschen, bei Hofmannsthal schließlich von einer am Wort und am Urteil die Rede war, grassiert heute eine Müdigkeit am Politischen. Die supranationale Vorherrschaft ökonomischer Machtbelange bewirkt Gleichgültigkeit und Apathie gegenüber einer nationalen Verwaltungspolitik im Schlepptau der Wirtschaft. Und während die politische Agora sich in Parlamentsdebatten nach Drehbuch aufzulösen beginnt, präsentiert der massenmediale Diskurs mit der Richtungsdirektive vom Sender zum Empfänger die Tribüne für eine diffuse Allgemeinheit, die von relevanten Entscheidungen ausgeschlossen bleibt. Um eine räsonierende und resonierende Öffentlichkeit, in der sich das Private aufgehoben fühlen könnte, ist es demnach schlecht bestellt.

     Die Behauptung jedoch, Öffentlichkeit und mit ihr das Private verschwände im Informationspool einer Telekratie, die sich mit der Disziplinierung der Individuen auf dem Niveau größtmöglicher Anpassung kurzschließe, unterschätzt die Widerstände. Die Atemnot des Lebens inmitten einer ebenso dogmatischen wie uniformen Akkumulation um ihrer selbst willen ist stets noch spürbar. Oft genügt schon ein Blick auf die verhärmten Gesichter vor gut sortierten Warenbergen. Und dass die politische Rhetorik einer nüchternen, wenn auch oft allzu pauschalen Realitätsprüfung unterzogen wird, steht ebenfalls außer Zweifel. War Öffentlichkeit einstmals an Sichtbarkeit und bürgerliche Streitkultur gebunden, wird sie nun in einer Blindheit erfahren, die auf das Private zurückwirkt: Im Zeichen eines Privatisierungsschubs aus Überdruss, der gleichwohl subversive Gegenmomente in einer zweiten Kultur der Mischungen und Vernetzungen hervorbringt.

     Wie sehr etwa in der mittelpunktslosen Streuung des Internets die Potenz einer Gegenöffentlichkeit liegt, ist ein Allgemeinplatz. Konkreter und brisanter wird dieser Allgemeinplatz allerdings, wenn man ihn von der religiösen Emanationsstruktur des Fernsehens her versteht, das Öffentlichkeit erst über eine Privatisierung der Geschehnisse herstellt. Der theologische Faktor der Television indes lässt sich an Nikolaus von Kues' 1453 formulierter De visione Dei beispielhaft studieren. In diesem Initialtext einer neuzeitlichen Logik der Visualisierung wählt Cusanus die zeitgenössische Malerei als Leitmotiv seiner Gleichnisrede, speziell die Kunst, den Blick des Porträtierten, hier der Imago Christi, jedem Betrachter beständig an jeden Punkt des Raums folgen zu lassen: als ein »Bild des Allsehenden«, das mit der »Beweglichkeit des unbeweglichen Blicks« nach »allen Seiten zu sehen scheint«.(4) Als theós wird Gott der griechischen Etymologie gemäß zu einer Instanz, die alles sieht und alles durchläuft. Diese Potenz des Durchmessens und Durchdringens nun dynamisiert die »Visio Dei« zu einer Optik des Auge in Auge, in der sich die operationalen Muster der Tele-Visio(n) als eine Säkularisierung des göttlichen Blicks zu erkennen geben. Dass der »Deus perfectissimus« unentwegt und frei von jeder Beschränkung alles sieht, dass sein Blick Raum und Zeit überwindet, dass schließlich die Essenz des »Sehens« als »Verursachen« gedacht wird – diese Parameter finden sich auch im Fundamentalismus der TV-codierten Optik wieder: in ihrer Macht der Beeinflussung, ihrer Zensur- und Kontrollpräsenz, ihrem Zeit- und Raumdistanzen sprengenden Panoptikum und ihrer Öffentlichkeit erzeugenden Epistemologie. Beerbt vom Evangelium der Information gehen göttliche Allwissenheit und Allmacht an die Agenturen der News über, an die Heiligkeit der Fakten und an die Sendungsmacht der Bildübertragung, ausgestrahlt in die Köpfe einer passiv empfangenden Massengemeinde. Und doch wäre es absurd, trotz des Privatisierungssogs die öffentliche Sensibilisierung via Fernsehen für Menschenrechts- und Umweltfragen in Abrede zu stellen: In Zukunft dürften es ökologische Delikte, rassistische Exzesse und scheinlegitimierte Angriffskriege zumindest ihrer Akzeptanz nach schwerer haben.

     Und so wie die Ausstrahlungstheologie des Fernsehens durch eine Quantifizierung des Angebots und die steigende Nutzung des Internets zumindest dezentralisiert wird, werden pyramidal-hierarchische Sende- und Öffentlichkeitsstrukturen auch in anderen Bereichen aufgebrochen, etwa im Bereich der tradierten Konzertformen und -formationen. Vergleichbar der Television kultiviert auch die Öffentlichkeit des Konzertsaals, die zugleich eine von privat Isolierten ist, aufgrund der Ausgießung des musikalischen Geistes nach einem monokausal vom ästhetisch Numinosen ausgehenden Sende- und Sendungsprinzip theologische Relikte. Als Ort einer Musik der Repräsentation und des Archivs bleibt der Konzertsaal einer Liturgie der Gewohnheit und der Gewöhnung verpflichtet: öffentliche Bühne für ein Publikum, das in immer derselben Musik immer dieselben Dramen erleben und nach Maßgabe seines Gefühlskanons privatisieren will. Dagegen gehört es zum Formenkreis zeitgenössischen Komponierens, vor allem aber zu dem der Klangkunst, die tradierte Konzertform über die Auflösung des Werk- und des frontalen Raumbegriffs zu einer situativen und auf Interaktion angelegten ästhetischen Praxis zu transformieren. Eine Transformation, die genau jene Privatheit der Kontemplation porös werden lässt, die der Organismus des geschlossenen Werks von einem konzentrierten Publikum als Verinnerlichungsrendite verlangt. Indem Klangkunst und Bereiche der Neuen Musik sich auf eine Öffentlichkeit jenseits des Konzertsaals hin öffnen, insistieren sie auf dem Sinn der Sinne – gegen ein zwischen Produzieren und Konsumieren verspanntes Leben, dem dabei Hören und Sehen vergeht. Öffentliche Räume zu bespielen und das Wahrnehmungsvermögen in Aktion zu erforschen heißt demnach auch, den Körper als eine entscheidende Schnittstelle zwischen dem Öffentlichen und Privaten zu verstehen, zwischen einer marktcodierten Öffentlichkeit und dem Subjekt-Reservoir der Wünsche und des Begehrens.

 

 

»...toucher la vie«

 

Zeit als pure Funktion von Beschleunigung, Raum als pure Funktion von Zeit: Als Wechselwirkung besagt das, Raum wird zum Widerstand der Zeit. In den Städten gilt es den Raum rasant zu durchmessen. Der Blick für seine Qualität ist sekundär. Seine Unwirtlichkeit kann wachsen. Zur realen Metapher für diesen privativen Umgang mit öffentlichem Raum wird jede Fahrt mit der U-Bahn: ein Überwinden der Strecke als Hindernis, ohne dass der Raum, nach Marc Augé ein klassischer »Nicht-Ort«, sinnlich präsent wäre. Und wenn sich dann das Mobile der Züge und das Stationäre der Passagiere in ihrem Innern kontrapunktieren, konturiert diese Doppelung eine Mikrophysik der Öffentlichkeit: Kreuzungen aus gleichgültigen und taxierenden Blicken, das einander Wahrnehmen als strategisches Nicht-Wahrnehmen, jeder visuelle Kontakt ein Risiko. Zur Wirkung kommt der Distanzkodex beobachteter Beobachter, sprachfähig und schweigend, einander sichtbar und separiert zugleich, zufällig aufeinander getroffen und doch eine Wegstrecke lang miteinander im Verbund. Im Tunnel verwiesen auf Immanenz, ohne die Möglichkeit eines Blicks nach draußen. Und über den Köpfen als entlastender Blickfang Bildschirme mit Schlagzeilen und Werbung.

     Dass körperpräsente Begegnungen aufgrund der modernen Kommunikationsmedien vermehrt durch so genannte Faceless-Kontakte und folglich durch das Nivellieren sozial verorteter Räume überlagert werden, bedingt eine komplexe Brechung interpersonaler Beziehungen. Die Grammatik der angemessenen Distanz zum Anderen, nach der das Ich als Medium des Disparaten Handeln, Sprechen und Schweigen austarieren muss, erfordert infolge der elektronischen Umformungen und Symmetriebrüche des Hier und Jetzt eine neue Balance zwischen körperlicher Präsenz und partieller Entkörperlichung und damit eine Art ins Räumliche übersetzter rites de passage des digitalen Zeitalters, in denen sich die Dialektik von Öffentlichkeit und Privatheit ins Transversale auflöst.

     Für die Zukunft wäre das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit deshalb eher als ein vielseitiges Vernetztsein in Interferenzen zu denken. Mit einer wünschenswerten Fülle interlinearer Lesarten, die den sozialen Text und Kontext der Gesellschaft auf Zwischenbereiche und Zwischenszenen mit intervenierender Kraft oder auf solche Mischformen des Privaten und Öffentlichen hin ausloten, wie sie noch in den Wohnzimmer- und Küchenkonzerten mit Neuer Musik zu beobachten sind. Erzwungen von den Beschränkungen und Beschränktheiten des offiziellen Konzertbetriebs und sie zugleich unterlaufend.

     Interlineare Lesarten bedeuten zunächst ein Zwischen-den-Normen-Sein, ein Inter-esse zwischen Privatheit und Öffentlichkeit mit dezentralisierenden Tendenzen. Was in Bernardo Bertoluccis Ultimo tango a Parigi oder in Patrice Chereaus Intimacy, um auf dem Gebiet des Films zu bleiben, als Symptom virulent wird, ist daher nicht nur das privatistische Ausleben einer auf altbekanntem Terrain zum Scheitern verurteilten Obsession. Es ist ebenso die Sucht nach einem Leben, das bis in das Sinn- und Identitätsregime der verbalen Sprache hinein vom Realitätsprinzip des Tauschs befreit sein soll. Deshalb wird Sprache rein somatisch besetzt und in die Zwischensphäre einer äußersten Konvergenz von Nähe und Ferne überführt, in ein Inter-esse jenseits eines auf der Rhetorik von Vermittlung und Rechenschaft basierenden Bindungsmusters im Namen von Dauer und Ausschließlichkeit. Lässt man einmal moralische, psychologische oder soziologische Wertungen beiseite, wird noch die erotische Grauzone der One-Night-Stands und Seitensprungagenturen zur Interpolation inmitten eines zur öffentlichen Norm gesteigerten Kontroll- und Konventionsdrucks der Askese. Hier alles mit der universalen Warengesellschaft oder mit dem Riss sozialer Ligaturen erklären zu wollen, wäre zu einfach, solange man nicht durch die Entstellung hindurch Artauds »Briser le langage pour toucher la vie« oder Adornos Minima Moralia mitdenkt: »Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.«(5)

     Ähnlich markieren auf der Ebene der Zeichen die Graffiti und ihr Duktus von Kreativität und Zerstörung den Hunger nach Konkretion in einem übervollen und zugleich leeren öffentlichen Raum, in dem der Markt ohne Unterlass die fable convenue vom Profit des Profits als den einzig authentischen Text des Weltgeistes unterschiebt. Gegen die Definitionsautorität dieser Botschaft chiffrieren die Graffiti im gesetzlos privaten Augenblick des »Ich war hier« die Sucht nach öffentlicher Repräsentanz und Selbstreferenz. Und sie decodieren mit ihren Verwischungen und Verwahrlosungen der Grenze von Bild und Schrift – auch sie also eine Semantik des Dazwischen – die linear-kausalen Sinn- und Machtnormen der weltprägenden Text- und Bildkörper. Dass sich aber das multiple Ich nicht nur wie ein Cursor auf dem Hypertext der Informationsgesellschaft verschieben lassen will, sondern im Netz der vorgeordneten und freigegebenen Bahnen Neben- und Seitenwege ausmacht, hat etwas mit der Suche nach der verlorenen Öffentlichkeit eines kollektiv gelebten Gedächtnisses von sozialer und politischer Geschichte zu tun.

     Das multiple Ich. Erst nachdem das Jahrhundert der Medien die Welt des Öffentlichen und Privaten einem Kreuzfeuer an Zeichen, Reizen und Signalen zu unterziehen begann, war es Freud möglich, jene »Aufsplitterung des Ichs« zu denken, bei der die »Objektidentifizierungen« allzu »zahlreich und überstark und miteinander unverträglich« werden.(6) Doch nicht weil das Ich gesplittet ist, sondern weil es gesplittet ist und sich zugleich unentwegt von einer kalten Öffentlichkeit her diszipliniert findet, dürften es mittlerweile eher masochistische als narzisstische Regungen dominieren: Wer nicht wahrgenommen wird, will nicht mehr wahrnehmen; wer nicht gehört wird, nicht mehr hören, wem keine Zeit gegönnt ist, hat keine Zeit mehr zu verlieren. Und wenn sich dann auch noch Öffentlichkeit als Spiegel, als Podium, als politisches Forum verweigert, wandelt sich die masochistische Energie leicht zu einer Identifikation mit dem Angreifer: zu einer vorschnellen Überantwortung an Normen. Narzissmus wäre demgegenüber die Unbotmäßigkeit des privatisierten Ich, sich gegen den Druck gesellschaftlicher Funktionalisierung zu sperren: in einer eigensinnigen Referenz auf sich selbst. Dass mit dem Aufbrechen des «praktischen Abgrunds» frühindustrieller Nützlichkeit der Narziss-Mythos bei Schlegel stark gemacht wird, bei Valéry und Gide ins Euphorische umschlägt und von Marcuse schließlich als die große Weigerung gegen die Diffamierung des Lustprinzips gesetzt wird, ist kein Zufall.

     Ist indes die technisierte Fließgeschwindigkeit von Welt und Dingen nicht zu hoch, als dass sich das gleitende Ich noch mit narzisstischer Opulenz und Privatheit in sein Spiegelbild versenken könnte? Und wenn das Ich zersplittert, wo wäre dann noch das libidinöse Objekt für seinen Narzissmus? Anders gefragt: wie und wo wäre es dem Einzelnen noch möglich, im elektronischen Zeichengewitter mehr als flüchtige Spuren zu hinterlassen und einem Leben Gewicht zu geben, das mit dem Schwinden repräsentativer Öffentlichkeit, mit dem Schwinden des Öffentlichen am Öffentlichen also, die Bühne und das Medium seiner Selbstbestätigung und Rückvermittlung verloren hat?

 

 

AMOK / KOMA

 

Schon 1878 hatte Nietzsche vom Stand unseres »aufgeregten Ephemeren-Daseins« her die hektische Zeit der Moderne und ihre mobilen Lebenstechniken mit einer Figur des Todes grundiert: »Der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äußere Entwicklungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei das Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern solle.«(7)

     Vielleicht nährt tatsächlich ein letaler Grund sowohl das Flüchtige wie die Flucht einer Welt der Beweglichkeit. Dass eine durchkommerzialisierte Öffentlichkeit zuinnerst leer und ohne Antlitz ist, bedingt die Leere auch des Privaten. Die Zunahme an Personalisierung und Psychologisierung dürfte ein Symptom für den Verlust an Öffentlichkeit sein: für eine Suche nach Konkretion, um das Leben hier und jetzt und nur einmal in seinem Aufschub erträglicher zu machen. Erzeugt doch das Bewusstsein vom Leben als Frist eine ins Private abgedrängte und im Privaten verdrängte Angst, auf die sich die öffentlichen Sinnstiftungen der Arbeits- und Konsummaschine unablässig aufmodulieren. Das Terrain für die medialen Mythen ebnet am besten die ins abgesondert Individuelle verschobene Bürde des Sinnlosen, der Entfremdung und des Todes. Anders als die virtuellen Verschränkungen und Entgrenzungen des Raums ist die Erfahrung von Zeit schwerer zu hintergehen. In ihrer Unumkehrbarkeit bleibt sie der todverwiesene Index menschlicher Existenz, an den das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit gebunden ist.

     Möglicherweise zielt deshalb das elektronische Netzwerk seinem innersten Impuls nach auf eine Überlistung der Zeit, um mit dieser Überlistung zugleich das Wissen um die eigene Hinfälligkeit zu bannen.(8) Die Verschränkung der Zeiten auf den Daten-Highways will die Irreversibilität von Naturzeit überwinden. Und doch hebt sich gerade vor dem elektronischen Reproduktions- und Simulationszauber die Verwundbarkeit der menschlichen Natur umso drastischer ab. Die Präsenz des Körpers bleibt die subjektive Basis in der variablen Raum-Zeit-Geometrie der Virtualität. Der bislang untilgbare Naturgrund von Individuum und Gesellschaft kennt als die gemeinsame Basis von Privatheit und Öffentlichkeit stets noch Schmerz, Angst, Leidenschaft und Trauer.

     Keineswegs versinkt alles im Taumel der Simulation: virtuelle Welten werden längst noch als Surrogat empfunden. Zudem kommt Virtualität nicht ohne einen Rest von Materialität aus. Das Körperlose verlangt nach dem Körper. Das virtuelle Zerren an der Materialisierung in Raum und Zeit, am Geerdetsein, hat daher eher etwas mit der Gravitation eines absurden Daseins zu tun. Und doch kontrastiert auch hier die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den raumüberwindenden Zeitstaus der elektronischen Simultan- und Parallelwelten der gelebten Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in den privaten Biografien. Reibung und Widerspruch zwischen technischer Kunstzeit und historisch gebrochener Naturzeit lassen die Schwerkraft der Gesellschaft gerade angesichts einer anonymen Öffentlichkeit umso stärker fühlbar werden, grundiert von einer sprachlosen Welt der Kommunikation, der alles kommunizierbar, weil kommerzialisierbar scheint. Wenn im Amoklauf die private und doch bis ins Innerste vergesellschaftete Psyche ins Öffentliche explodiert und Schulen, Universitäten und Einkaufszentren mit der Kälte unterschiedsloser Gewalt durchquert, enthüllen solche Schauplätze des Todes zugleich das Koma der beschleunigten Massengesellschaft: Das Koma ihres Gewinn- und Sensationsamoks, in dem das isolierte und damit asoziale Ich seine soziale Kompetenz bis zur Empathieunfähigkeit einbüßen kann. Dass kürzlich eine junge Frau auf offener und belebter Straße vergewaltigt wurde, geschah in keiner Metropole, sondern in der Öffentlichkeit einer deutschen Kleinstadt.

     Dass sich Öffentlichkeit im »elektronisch befestigten Schweigen« zersetzt, ist kaum zu bezweifeln.(9) Nur muss man hinzufügen: repräsentative Öffentlichkeit. Öffentlichkeit wird zwar umso namenloser, je mehr ihre repräsentativer Habitus schwindet, sie löst sich jedoch nicht auf. Wie sich Öffentlichkeit in Zukunft manifestieren wird, bleibt offen. Per Dekret jedenfalls kann sie nicht etabliert werden. Jeder stadtplanerisch verordnete öffentliche Raum belegt das. Nicht umsonst zeigt Kafka die Verräumlichung von Macht als eine Depersonalisierung des Raums. Öffentlichkeit muss sich herstellen, produziert werden. Und sei es durch dezentrale Diskurse, deren Gegenöffentlichkeit der institutionalisierten Politik einmal das Politische in Richtung eines plebiszitären sensus communis entziehen könnte.

     Mag Öffentlichkeit auch offiziell, ja offiziös und demzufolge abstrakt geworden sein, ihre repräsentative Realität wurde stets ein Stück weit privatisiert und normativ ins Innere der Einzelperson verlagert. So wie Max Weber das an der Analyse der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus deutlich gemacht hat. Vor allem in der modernen Arbeitsgesellschaft sind Ökonomie und Psyche als eine Art introvertierter Öffentlichkeit des Privaten eng miteinander legiert. Die psychische Legislative des funktionalen Imperativs repräsentiert im Privaten die ökonomische Gesamtcodierung der Gesellschaft. In diesem Sinn existiert Öffentlichkeit paradoxerweise umso mehr, je ungreifbarer sie geworden ist. Vielleicht sind gerade deshalb Sucht und Sehnsucht nach einem Leben jenseits der eingefahrenen Reproduktionsspur des Privaten ungebrochen. Nicht selten erinnern sie trotz ihrer Ohnmacht und Angepasstheit im Freizeitbetrieb einer gefesselten Alltäglichkeit an Joyces Stephen Hero: Wie können sich in einer visuell und akustisch überreizten Welt noch »Epiphanien« ereignen? Säkulare Blitze, die das Ego über die Phänomene entprivatisieren und auf den Fluchtpunkt einer freien Öffentlichkeit hin öffnen? Bis dahin freilich, wenn überhaupt, gilt auch für die Arbeits- und Konsumfron, in welcher Privatheit und Öffentlichkeit zwanghaft konvergieren: »Wer immer in einer Wüste Sahara lebt, der kann ohne Fata Morgana [...] gar nicht existieren.«(10)

 

 

Anmerkungen

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  1 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1986, insb.

     S. 329ff.

  2 Heinrich von Kleist am 18. 7. 1801 aus Paris an Karoline von Schlieben, in: Kleist, Briefe 1793-1804, München 

     1964, S. 189.

  3 Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Frankfurt/M.1980, S. 15f.

  4 Nikolaus von Kues, De visione Dei, in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 2 (Mittelalter),

     Hg, Kurt Flasch, Stuttgart 1982, S. 506ff.

  5 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1971, S. 72.

  6 Sigmund Freud, Das Ich und das Es, Studienausgabe Bd. 3, Hgg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards,

     James Strachey, Frankfurt/M. 1975, S. 298.

  7 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, Hgg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari,

     München 1988, S. 43f.

  8 Das enge Verhältnis von Tod und Kommunikation thematisiert auch Vilém Flusser, Kommunikologie, Frank-

     furt/M. 1998, S. 259f.

  9 Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, S. 357.

10 Theodor Fontane, Die Poggenpuhls, Stuttgart 1969, S. 30.

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