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DeutschlandRadio Berlin (2000)

Willkommen in der Vergangenheit?

Zur Konjunktur des Solokonzerts in der zeitgenössischen Musik

Auch wenn sich viele zeitgenössische Komponisten dem Solokonzert gegenüber reserviert verhalten: Solokonzerte haben in der Neuen Musik Konjunktur. Bleibt die Frage, ob sich das musikalische Denken der Gegenwart noch in einer Gattung finden kann, deren Reflexions- und Gefühlsgehalt in erster Linie etwas mit dem 18. und 19. Jahrhundert zu tun hat.

Sind zeitgenössische Solokonzerte restaurativ? Fast könnte man dem zustimmen, hört man, was in den letzten fünfzehn Jahre auf diesem Gebiet so alles komponiert worden ist. Kompositionen wie Oliver Knussens Hornkonzert von 1994, das glauben lässt, es handle sich bei ihm um die wieder entdeckten und ergänzten Skizzen eines Frühwerks von Richard Strauss:

 

Bspl. 1: Knussen, Horn Concerto op. 28 [Tr. 8: 0´00´´-0´32´´(ausbl.)][32´´]

 

Oder Komponiertes vom Format naiver Botschaften wie in Alfred Schnittkes Cellokonzert, einer Art Filmmusik des gebrochenen Herzens, sakral verklärt:

 

Bspl. 2: Schnittke, Cellokonzert, 4. Satz [Tr. 4: 5´38´´-6´10´´(ausbl.)][32´´]

 

Dass Penderecki den Konzertbetrieb und den solistischen Ausstellungscharakter mit schmerzlichem Violin-Espressivo und pathetischem Ringen bedient, gehört mittlerweile zur Entlastungshaltung der Alibi-Moderne.

 

Bspl. 3: Penderecki, Metamorphosen. Konzert für Violine und Orchester Nr. 2  [Tr. 1: 6´15´´-7´29´´(ausbl.)][1´14´´]

 

Zu schweigen von Michael Nymans vollgriffiger Exkursion in die Tasten und Kassen von Film und Folklore, der der Komponist 1993 unbedingt zum Adel eines Klavierkonzerts verhelfen wollte:

 

Bspl. 4: Nyman, The Piano Concerto, The Beach [Tr. 2: 6´42´´-7´33´´(ausbl.)][51´´]

 

Um eine Exkursion, freilich eine von existenziellem Ausmaß, ist es schließlich auch Peter Michael Hamel zu tun, einem Komponisten unterwegs zur »integralen Musik« samt ihrer »Vereinigung des magischen, mythischen und mentalen Bewusstseins« und gestärkt - wie in Hamels Violinkonzert - von harmonikalem Urvertrauen:

 

Bspl. 5: Hamel, Violinkonzert [Tr. 1: 5´00´´(aufbl.)-6´07´´(ausbl.)][1´07´´]

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Potemkinsche Dörfer also auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik. Inmitten solcher tonal restaurierten Fassadenhaftigkeit wirkt Philip Glass' Violinkonzert fast schon wieder raffiniert. Wie eine Musik des Als-ob, die formelhaft Gefühlsrelikte bricht und damit so etwas wie Melancholie erzeugt. Wohlig zubereitet allerdings, konfliktfrei und in eingängigen patterns selbstgenügsam in sich kreisend. Gestylte Musik für den zeitgemäßen Narzissmus, fast ohne Eigenschaften. Raffiniert eben.

 

Bspl. 6: Glass, Concerto for Violin and Orchestra [Tr. 2: 0´36´´(aufbl.)-2´04´´(ausbl.)][1´28´´]

 

Gilt also im Fall zeitgenössischer Solokonzerte doch die Devise »Willkommen in der Vergangenheit«?

Um nicht missverstanden zu werden: es geht hier nicht um dogmatische Richtlinien für ein allein selig machendes Komponieren und Hören. Wohl aber um einige Überlegungen, die sich nicht damit zufrieden geben, Musikästhetik auf dem Niveau des Gefallens einzufrieren. Es geht um Kritik in Form von Fragen, von Unterscheidungen. Um Fragen etwa wie die, woran sich denn die Kriterien orientieren, denen zufolge zeitgenössische Solokonzerte hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben? Liegt dieses Zurückbleiben eventuell in einem mangelnden Gespür für gesellschaftliche Realitäten? Wie viel historisches, gerade auch aktuell historisches Bewusstsein braucht also die Neue Musik? Speziell bei der Auseinandersetzung mit traditionellen Formen?

 

Im Unterschied zum bisher Gehörten vermeidet Cristóbal Halffters Klavierkonzert von 1987 pathetische Tiefgänge. Die Musik lässt zwar durchaus Relikte des virtuos romantischen Klaviersatzes ein, bis hin zum lyrischen Tonfall, aber eben nur splitterhaft und verfremdet. Halffters Musik schneidet tief, um die Stränge genau jener Gewalt freizulegen, die den Stimmungskult der Emotion schal werden lässt. Wenn sich gegen Schluss des Konzerts ein Ostinato-Impuls vom Klavier aus aufgipfelt und destruktiv entlädt; wenn diese Eruption das Soloinstrument gleichsam unter sich begräbt und nur noch für Augenblicke freigibt; wenn schließlich nach dem Ausbruch der Ostinato-Impuls gebrochen und doch wie entronnen nachbebt: dann überlagert dieses Ende den Druck eines mörderischen Mechanismus mit der Hoffnung auf Einspruch.

 

Bspl. 7: Halffter, Concierto para piano y orquestra [Tr. 4: 21´30´´-24´50´´(=Ende)] [3´20´´]

 

Halffters Klavierkonzert führt über die musikalische Repräsentanz von Solo und Orchester einen machttheoretischen Exkurs vor. Eine Dramaturgie von Repression und Widerstand, in der die Erfahrung eines Gewaltpotenzials mitschwingt, das im 20. Jahrhundert nicht zuletzt jene staatsterroristischen Diktaturen ermöglicht hat, deren spanischer Variante Halffter während des Franco-Regimes selbst zur Genüge ausgesetzt war.

Sosehr nun Halffters Klavierkonzert im Widerstand gegen eine negative Totalität dem Dialog, dem antagonistischen Dialog verpflichtet bleibt, sosehr sind die Grundfiguren dieses ästhetischen Denkens von der Philosophie des deutschen Idealismus ererbt. Es sind Figuren, die um das Politikum der »Entzweiung« kreisen, um das Drama von Freiheit und Notwendigkeit und um den Widerspruch zwischen »einem individuell ersehnten Leben und der objektiv sich vollziehenden Gewalt«. Was sich jedoch im Unterschied zu Hegel geändert hat - und Halffters Konzert macht das unmissverständlich klar -, ist neben der Klarheit der Fronten auch die Souveränität eines Subjekts, das sich um 1800 noch eine ungemein selbstbewusste Auseinandersetzung mit der »Prosa der Welt« zuschreiben konnte: selbstbewusst aus Gründen seiner Autonomie. Denn, so Hegels Ästhetik, »die Intensität und Tiefe der Subjektivität tut sich umso mehr hervor, (...) je zerreißender die Widersprüche sind, unter denen sie dennoch fest in sich selber zu bleiben hat«. Auch wenn Halffters Klavierkonzert einen starken Eindruck hinterlässt: die Zeiten einer dualistischen Konfliktrhetorik als Leitidee künftiger Solokonzerte dürften vorbei sein.

Nun bleiben aber Solokonzerte ihrer Idee nach auf den Dialog zwischen Solo und Orchester verwiesen. Erst innerhalb dieser Bedingung stellt sich das Problem, wie dieser Dialog ausformuliert wird: mit all seinen Facetten von Verständigung oder Konfrontation. Und hier zeigen sich die unverkennbar bürgerlichen Züge des Solokonzerts. Züge, die etwas mit dem Vernunftideal der Aufklärung zu tun haben, mit dem Mündigwerden des Subjekts im Diskurs von Streit, Kritik und Diskussion. So konnten Beethovens Solokonzerte noch von einem Einheitsbegriff der Person ausgehen, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Einem Einheitsbegriff, der es Beethoven ermöglichte, die reale Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloinstrument und Orchester auszutarieren. Am eindrucksvollsten im Kopfsatz des Fünften Klavierkonzerts mit seinem extremen Einsatz an solistischer Energie und einer Patt-Situation der Kontrahenten. Eine musikalische Geschichtslektion sondergleichen:

 

Bspl. 8: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5, 1. Satz [Tr. 1: 10´40´´aufbl.-11´06´´ausbl.][0´26´´]

 

Mittlerweile sind Konfliktgipfel dieses Formats ihren geschichtlichen Voraussetzungen nach unwiederholbar geworden. Das heroisch-solistische Subjekt inmitten klarer Konflikte und Postulate ist endgültig passee. Komponisten, die sich der historischen Anforderungen bewusst sind, wissen deshalb nur zu gut um das Dilemma von Tradition und Innovation beim Komponieren zeitgenössischer Solokonzerte. So wie Johannes Kalitzke, der in seinem Konzert für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten mit dem Titel »Hände im Spiegel« auf eine selbstreflexive Erkundung dieser musikalischen Gattung setzt. Kalitzke sucht den Zwiespalt zwischen alt und neu durch Vernetzungen, Kontrastierungen und Spiegelungen verschiedener musikalischer Zeiträume bewusst zu machen. So sollen die Idiome der Alten, subjektlosen und der Neuen, subjektfernen Musik den Status des klassisch-romantischen Solokonzerts und die ihn tragende Idee des virtuos-triumphalen Subjekts historisieren. Das solistische Subjekt in seiner aufklärerischen Zuversicht wie in seiner dressurhaften Stilisierung wird zu einer Station der Geschichte. Allerdings ohne den »Reichtum« der Virtuosität zu vergessen, wenn man darin, so Kalitzke, das »Gewicht gegen die Austauschbarkeit des Individuellen erkennt, wie sie uns heutzutage allerorten droht«. Außerdem thematisiert Kalitzkes Konzert über eine Collage gesungener Texte, so der Komponist, den »Abgrund zwischen den Visionen des Künstlers und der Brutalität seines Lebensumfeldes«.

 

Bspl. 9: Kalitzke, Hände im Spiegel. Konzert für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten

                                                                                            [Tr. 2: 13´56´´aufbl.-15´58´´ausbl.][2´02´´]

 

»'Die entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt', sagt Berlioz zum Abschied. Es ist ein blutiges Jahr.« Eine aufwühlende Musik, die Kalitzke hier zu einer Strophe aus Enzensbergers Chopin-Gedicht auftürmt. Einem Gedicht, das den Komponisten vor dem Hintergrund der Französischen Februar-Revolution skizziert. Dass Kalitzke dabei den Klavierpart immer wieder dem virtuosen Gestus Chopins angleicht, liegt auf der Hand. Das Problem ist nur, wie sich Kalitzkes theoretisches Konzept insgesamt in Musik umsetzt. Kalitzke beabsichtigt eine Dekonstruktion des Solokonzerts. Und doch komponiert er diese Dekonstruktion nahezu durchgehend mit der Zerrissenheitsrhetorik des tragischen Subjekts: als eine Musik der Bedrohung und des Sich-Behauptens in einer Zeit, in der uns »die Ziele entgleiten«, wie der Komponist anmerkt. Und er komponiert sie mit der herkömmlichen Kollisionsdramatik des Solokonzerts.

Kann aber der Zustand des bedrohten Subjekts, von dem Kalitzke spricht, überhaupt noch mit expressiver Gestik und existenzieller Dramatik verhandelt werden? Bleibt die Sinnfolie des leidenden, gefährdeten, seiner Ausdruckspotenz nach jedoch merkwürdig stabilen Subjekts nicht hinter dem Funktionalismus einer Welt zurück, dem das Personale meist nur noch das Vordergründige und der Ausdruck meist nur noch die Maske bedeutet? Oder anders formuliert: verfällt Kalitzkes Klavierkonzert nicht allzu reaktiv dem Bann einer drohenden Katastrophe? Auf Kosten einer antitragischen Hellhörigkeit auch hinsichtlich neuer ästhetischer Strategien? Ist das Pathos der Konflikte nicht mit jener Klarheit, ja Personalisierbarkeit der Widersprüche untergegangen, in der sich Beethovens Fünftes Klavierkonzert und Hegels Phänomenologie so nahe sind? Wo wären im gegenwärtigen transversalen »Abstrakt des Ganzen«, wie Schiller das schon 1795 nannte, das Subjekt und wo sein Widerpart, die Gesellschaft? Wo die Relation, auf die das Dialog-Prinzip von Solo und Orchester noch adäquat reagieren könnte? Und noch etwas: vielleicht wurde das tragisch-heroische Subjekt nicht nur musikalisch aus dem Grund substanzlos, weil der Subjekt-Gedanke schon von seinem Ursprung her zu groß ausstaffiert worden war. Der Gedanke eines Subjekts, das seit nahezu 400 Jahren vornehmlich die ökonomisch-technischen Teilaspekte seiner Selbstbehauptungs- und Ausgrenzungsmuster zum Subjekt schlechthin stilisiert hat; flankiert lediglich von den Kompensationsressorts Gefühl und Affekt.

Womit wir bei den Subjektdebatten der neueren Soziologie und Philosophie wären. Bei den Debatten um den Schein-Individualismus einer Massengesellschaft etwa, die die Einzelwesen bis ins Innerste normiere, so dass sich die Rede von Einzigartigkeit und Autonomie schon von selbst verböte. Natürlich kann das Individuum - Nietzsche sprach bereits vom »Dividuum« - nicht mehr in seiner ursprünglich mitgedachten Souveränität gerettet werden. Auch wenn es ebenso überspitzt wäre, seine automatenhafte Entmündigung zu behaupten. Immer noch verlaufen die einzelnen Biografien und Erfahrungsprozesse zu verschieden, als dass sie in grauer Uniformität aufgingen. Allerdings: wer heute das Wort Subjekt oder, eine Etage tiefer, das vom Individuum in den Mund nimmt, muss der Verspannung dieses Subjekts in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechnung tragen, die einander nicht nur durchdringen, sich überlagern und widersprechen, sondern schizophrene Bewältigungs- und Entlastungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Gefordert sind zunehmend multiple Psychen, die in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft gelernt haben, widersprüchlichste Denk- und Handlungsweisen unter einen Hut zu bringen. Und die deshalb vermutlich im so genannt Privaten umso mehr den harten Kern des Ego als letzte Identitätsbastion zu konservieren suchen.

Nun gibt es für das Komponieren zeitgenössischer Solokonzerte mehrere Arten, um auf diesen Zustand zu reagieren. Mit einer Rettung des Subjekts und seiner Rhetorik etwa oder mit einer Einsicht in die subjektzersplitternden Tendenzen. Letzteres aber nicht, um die Schnitte, die das Subjekt der Moderne zerlegen, als Befreiung oder als Katastrophe zu verbuchen, sondern mit dem Bewusstsein, wie sehr der Zerfall des Subjekts etwas mit dessen Geschichte zu tun hat. Ästhetisch könnte das bedeuten, das Identitätskonzept, auch das solistische, aufs Äußerste zu unterminieren, ohne es durchzustreichen. Ergeben sich von hier aus nicht Mittel und Wege, die weit mehr im Bündnis mit dem Subjekt stehen als dessen unmittelbare Bestätigung? Im Bündnis mit einem pluralen Subjekt nämlich?

Viele zeitgenössische Solokonzerte erzählen allerdings weiterhin die Geschichte vom Glanz und Elend eines solistisch präsenten Subjekts, das über die Grammatik der Affekte enorm selbstbezogen und autark bleibt. Die Sprache dieser Konzerte, vorwiegend die ihres Soloparts, ist überwiegend gestisch-expressiv, oft tragisch gefärbt, immer aber so intakt, dass an der Konsistenz des Subjekts kein Zweifel besteht.

 

Bspl. 10: Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester  [Tr. 3: 3´57´´aufbl.-5´21´´ausbl.][1´24´´]

 

Im Kommentar zu seiner Musik für Violine und Orchester, »Gesungene Zeit«, spricht Wolfgang Rihm von einer Musik, die »immer Gesang« ist. Damit gibt er ein Programm vor. Wie schon der Beititel »Musik für Violine und Orchester« vom konzertanten Prinzip abrückt, so schlägt bekanntlich auch das Melos die tragfähigste Brücke ins Refugium der Innerlichkeit. Heinrich Heine hat das bereits scharfsinnig an Rossini aufgedeckt. Für Heine gehören das »isolierte Gefühl eines Einzelnen« und das »Vorwalten der Melodie« als »Ausdruck eines isolierten Empfindens« zusammen. Weshalb Rossini für die »Zeit der Restauration« angemessen war, in der laut Heine »nach großen Kämpfen und Enttäuschungen, bei den blasierten Menschen der Sinn für ihre großen Gesamtinteressen in den Hintergrund zurückweichen musste, und die Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten konnten«. Sollte Rihms Musik mit dem »singenden« Soloinstrument womöglich auch eine Musik der Restauration sein?

Hört man Rihms »Gesungene Zeit«, fällt zunächst der kontemplative Duktus auf: der Raum der Versenkung und des hörenden Entwurfs. So »spricht die Violine ihre Nervenlinie in den Klangraum«, heißt es bei Rihm. Und weiter: »Die Linie selbst, ist sie ein Ganzes? Alles ist nur Teil, Segment, Bruchstelle«. »Wir entwerfen hörend auf ein Ganzes hin, das es nicht gibt. Aber dort muss es sein...«. Fragment und Totalität, die zentralen Pole frühromantischer Philosophie und Ästhetik: organisieren sie bei Rihm einen gefühlsästhetischen Ersatz für den verwaisten Ort der Transzendenz? Weil sich die Musik den selbstreflexiven Zügen der romantischen Tradition verweigert, der sie doch sonst so viel verdankt, färbt sich ihr endloser Abgesang mit dem Ton des Sakralen. Und doch wird eine Musik solchen Tiefgangs zu einer der Oberfläche, sofern sie das Affekt-Repertoire zumal der solistischen Monade nicht aufbricht und in seiner Konventionalität bloßlegt. Indem er von der Objekthaftigkeit des Subjekts und seiner Zersplitterung nichts wissen will, konserviert der Dialog zwischen Solo und Orchester in Rihms »Gesungener Zeit« das Subjekt als Substanz. Hauptsächlich über die Solopartie der Violine, die in ihrer Diktion auch durch bedrohlich geschärfte Orchesterattacken nicht zu irritieren ist. Der Ausdruck stemmt sich gegen den Druck nach innen, der die Innerlichkeit sprengen würde. Hat sich denn aber am Subjektmonopol seit Schönberg wirklich so gut wie nichts verändert?

 

Bspl. 11: Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester  [Tr. 4: 5´19´´-7´40´´][2´21´´]

 

Natürlich können sich unwiderruflich scheinende Stationen des Bewusstseins nachträglich als pure Übereilung erweisen. Ob aber mit Blick auf die jüngste Subjektemphase zentrale Epochenzeugnisse zur Fragilität des Ich so einfach von der Hand zu weisen sind? Prousts Veranschaulichung der ›Fiktionalität seelischer Ganzheit‹ etwa oder die Schnittwechsel in Debussys Jeux, um zwei frühe Beispiele zu nennen?

Dass Debussys Jeux von Elliott Carter als kompositorische Verpflichtung der Moderne hoch geschätzt wird, ist bekannt; auch wenn Carters eigenes Klarinettenkonzert von 1996 zunächst wie eines der üblichen zeitgenössischen Solokonzerte mit redseligem Solopart klingen mag. Hört man indes genauer hin, begreift man die Besonderheit eines Konzerts, das die Solostimme mit einem Orchestersatz unentwegter Schnittwechsel kombiniert. Und zwar so, dass die traditionelle Basis des Solokonzerts, der Dialog, fast durchweg in einen Paralog überführt wird. Maßgeblich in den schnellen Sätzen. Das heißt in ein Nebeneinander von Solo und Orchester, getrennten Bühnen ähnlich. Eher selten finden sich im paralogischen Netz der Komposition dialogische Knoten, ohne dass die Musik dadurch den Charakter tragischer Zerrissenheit annähme.

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Bspl. 12: Carter, Clarinet Concerto [Tr. 7: 0´23´´aufbl.–2´00´´(=Ende)] [1´37´´]

 

Tragische Zerrüttung spielt in Carters Klarinettenkonzert keine Rolle, nicht einmal die Opposition zwischen Solo und Orchester. Weit mehr als um Drama und Tragik geht es Carter um Texturen, die sich ständig auflösen und neu weben. Darin ist das Klarinettenkonzert eine Musik der hohen Ereignisdichte; eine Musik der Plötzlichkeit, gerade im kaleidoskopischen Orchesterpart mit seinen schnellen Aktionen und Reaktionen. Kann man bei Rihms Musik für Violine und Orchester von einer Mono-Akustik sprechen: narrativ, mit gestischer Rhetorik, subjektzentriert, dann bei Carters Klarinettenkonzert von einer Poly-Akustik: mit blitzschnellen Wechseln, oft wie absichtslos und doch mit äußerster Präzision komponiert, die Spur eines seltsam anwesend-abwesenden Subjekts aufnehmend.

Carters Klarinettenkonzert unterbindet das Sich-Einhausen in emotionale Register und verweigert sich doch jeder Verweigerungsaskese. Dem »Leitfaden des Leibes« verbunden überführt die Musik die Virtuosität des traditionellen Solokonzerts in eine Choreografie des Körpers, der durchaus gesellschaftlich zu verstehen ist: als corps social. Er wird in den Stößen des Orchestersatzes zum Beben gebracht. Dass Carters komplexe Konstruktion dabei eine Vielfalt an Farben und Beweglichkeit produziert, oft rupturhaft unkalkulierbar, wirkt wie eine Anspielung. Darauf nämlich, mit der Fluktuation der musikalischen Struktur auch die der Gesellschaft im Blick zu behalten: in Richtung ihrer Veränderbarkeit.

Dafür spricht in anderer Weise auch, dass Carters Klarinettenkonzert ohne Steigerungen, ohne Aufschwünge und Abstürze komponiert ist. Zumal an der Solopartie fällt im Gegensatz zum äußerst durchgebildeten Orchesterpart etwas unentwegt Sprechendes und doch Sprachloses auf; etwas arabeskenhaft Ausdrucksloses. Selbst im Parcours der Stimmungswechsel behält die Artikulation der Klarinette etwas gleich bleibend Beliebiges bei, etwas wie die Willkür rhetorischer Leerläufe. Obwohl nichts wiederholt wird, wirkt die Musik wie in einem Zirkel der Wiederholung gefangen. So als würden sich musikalisch im Paralog von Solo und Ensemble die sprachfertigen Sprachlosigkeiten der Kommunikationsgesellschaft reflektieren. Protokollarisch nüchtern komponiert, transzendenzlos geradezu. Den Status quo als ein aufhebbares Missverhältnis zwischen der Wirklichkeit und deren Möglichkeiten zu begreifen - ohne Defätismus und Utopismus: darauf spielen auch Carters Schriften immer wieder an.

So formt Carters Klarinettenkonzert im Paralog, im Nebeneinander zwischen einem äußerst beweglichen Orchestersatz und einem ebenso wendigen, aber wie in rhetorischen Irrläufen isolierten Solopart eine Spannung des Getrennten aus. Eine Spannung, die näher an der Situation des modernen Individuums sein dürfte als dessen solistisch-dialogisches Zelebrieren. Eine Spannung, die stark und schwach zugleich ist. Schwach insofern, als der Paralog von Solo und Orchester den Eindruck erweckt, als bräuchte es nur eine geringe Veränderung, um das Getrennte modellhaft demokratisch zu einem Tableau differenziertester Einzelstimmen zusammenschießen zu lassen.

 

Bspl. 13: Carter, Clarinet Concerto [Tr. 6: 1´26´´aufbl.–3´05´´ausbl.] [1´39´´]

 

Sosehr in Carters Klarinettenkonzert Schockhaftes rumort, Wahrnehmungsveränderungen aufgrund der Beschleunigungstechniken des zwanzigsten Jahrhunderts, sosehr verwandeln sich in ihm die Schocks ins Spielerische. Eine Intention der Leichtigkeit, die auch für Helmut Lachenmanns Komposition Ausklang eine Rolle spielt. Zielt doch Lachenmann darauf ab, die »in Schwingung versetzte Materie (...) am Verklingen zu hindern«, und damit, wie er sagt, auf den »Wunschtraum, die Schwerkraft zu überwinden«.

Ausklang ist Lachenmanns Auseinandersetzung mit der Gattung des Klavierkonzerts: in Form einer Auseinandersetzung mit dem Einschwingen und Ausklingen von Klavierklängen und ihrem Nachhall im Orchester. Eine Auseinandersetzung vor allem damit, dem Ausklingen durch vielfältige Filterungs- und Umwandlungsaktionen zuvorzukommen, bis hinein in die geräuschhaften Grenzbereiche des Halls. Im Unterschied zum narrativen Mit- oder Gegeneinander von Solo und Tutti interessieren Lachenmanns Ausklang strukturelle »Abbau- und Umbau-Prozesse« zwischen Soloinstrument und Orchester. Prozesse, die sich ergeben, wenn die Klangmaterie in ihren rohen, trockenen, halligen oder komplex gemischten Formen zum Vibrieren gebracht wird.

 

Bspl. 14: Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1: 0´00´´-2´20´´][2´20´´]

 

Lachenmanns Ausklang ist eine Musik punktueller Aktions- und Reaktionsimpulse zwischen Soloklavier und Orchester; eine Musik von Ereignissen, die wie in Stockhausens »Momentform« »sofort intensiv sind«. In denen also »nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird«, sondern selbständig »für sich bestehn kann«. Eine befreiende Musik ist Lachenmanns Ausklang deshalb, weil sie den Zwang ständiger Sinnstiftungen unterbricht. Mit der linearen Sinnökonomie der Töne hebt die Musik die moralische Wertung von Richtigem und Falschem auf; mit ihrer Augenblickspräsenz die Aufschubs- und Wertungsraster von Wichtigem und Unwichtigem.

Lachenmanns Auseinandersetzung mit dem Solokonzert kreist weder um einen melancholischen Abschied vom Subjekt noch um eine Musik des tragischen Zeitalters. Schon indem das Ranggefälle zwischen Soloinstrument und Orchester aufgehoben wird, verändert sich mit dieser Spielregel auch grundlegend die Idee des Solokonzerts. Unsinnig wäre es allerdings, die Aufhebung des dominanten Soloparts kurzschlusshaft mit zynischer Subjektverneinung gleichzusetzen. Als würde das Ernstnehmen des Fiktionalen am Subjekt einen Verrat am Menschen bedeuten. Übersehen wird dabei mitsamt den Möglichkeiten des ästhetischen Experiments, dass Ästhetik nicht umstandslos in Ethik aufzulösen ist.

Indem Lachenmanns Ausklang die Initiative der Klänge ernst nimmt, wird die Musik nicht zum Generator einer Sinnspur des kompositorischen oder solistischen Subjekts. Im Gegenteil. Mit dem Aussetzen der subjektdramatischen Zeit wird erst eine neue Präsenz der Klänge möglich. Wenn sich im Klang-Transfer zwischen Klavier und Orchester unter Einsatz nuancierter Anschlags- und Artikulationstechniken die Mittel differenzieren und emanzipieren, bedeutet das eine Emanzipation auch des Hörens. Die Demontage der affektiven Subjekt-Klischees eröffnet dem Ohr eine neue Tiefenschärfe.

Was sich in Lachenmanns Ausklang auf den Tasten des Klaviers abspielt, ist nicht selten eine tastende Musik, eine des Ertastens und Testens. Eine Musik, die Fühlung aufnimmt mit der geschichtlichen Ladung des Klangs. Mit dem Widerhallen und Verhallen einer versprengten Tradition, die ihrem eigenen Echo nachhört, und sei es in den Versatzstücken virtuoser Konzertpianistik. Eine Musik aber auch, die Fühlung aufnimmt mit der materiellen und strukturellen Basis des Klangs, seinem Sinnpotenzial. So wird der Abstieg zum Sprachgrund der Musik zu einem Abstieg in den Artikulationsgrund von Sinn und Subjekt: gegen die Vorstellung von Sprache als einem Gefäß des Ausdrucks. Rihms »Gesungene Zeit« setzt die musikalische Sprache als gegeben voraus. Ihre Sinnstruktur wird nicht aufgebrochen, sondern über Verschiebungen, Anspielungen, Überlagerungen, Verdichtungen oder Risse lediglich variiert. Erforscht Lachenmanns Spiel mit Klangintensitäten Verläufe der Sinn- und Subjektgebung, geht Rihm immer schon vom subjektverbürgten Sinn des Ausdrucks aus. Versteht Lachenmann das Subjekt prozesshaft, zentriert sich Rihms Musik um dessen Statik. Zielt Rihm aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte.

Als Rimbaud vom »Unbekannten« sprach, vom Wagnis des Dichters, »durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen«, band er dieses Wagnis an die Aufkündigung der etablierten Subjektidentität. »JE est un autre« - »ICH ist ein Anderes«. Ob dieser Zusammenhang nicht auch einiges, womöglich alles für die Komposition zeitgenössischer Solokonzerte bedeutet?

 

Bspl. 15: Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester  [Tr. 1: 38´23´´aufbl.–40´41´´] [2´18´´]

 

 

 

Musikbeispiele

 

Bspl.  1: Oliver Knussen, Horn Concerto op. 28 (Deutsche Grammophon 449 572-2)

 

Bspl.  2: Alfred Schnittke, Cellokonzert (Naxos 8.554465)

 

Bspl.  3: Krzysztof Penderecki, Metamorphosen. Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 (Deutsche Grammophon 453 507-2)

 

Bspl.  4: Michael Nyman, The Piano Concerto (Naxos 8.554168)

 

Bspl.  5: Peter Michael Hamel, Violinkonzert in zwei Sätzen (Wergo 286 520-2)

 

Bspl.  6: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra (Deutsche Grammophon 437 091-2)

 

Bspl.  7: Cristóbal Halffter, Concierto para piano y orquestra (Auvidis Montaigne 782108)

 

Bspl.  8: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 (DECCA 417 703-2)

 

Bspl.  9: Johannes Kalitzke, Hände im Spiegel. Konzert für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten

                                        (col legno  31875)

 

Bspl. 10: Wolfgang Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester  (Deutsche Grammophon 437 093-2)

 

Bspl. 11: Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester

 

Bspl. 12: Elliott Carter, Clarinet Concerto (Deutsche Grammophon 459 660-2)

 

Bspl. 13: Carter, Clarinet Concerto

 

Bspl. 14: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (col legno 31862)

 

Bspl. 15: Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester

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