Rhizom
Ein Beschreibungsmodell Neuer Musik?
Als Gilles Deleuze und Félix Guattari mit dem Denkmodell vom Rhizom die philosophische Diskussion vor rund fünfundzwanzig Jahren in Aufregung versetzten, trafen sie einen Nerv des Zeitgeistes. Schnell entfaltete das Bild vom mittelpunktslos wuchernden Spross- und Wurzelwerk ein seinerseits wildwüchsiges Eigenleben quer durch die unterschiedlichsten Theorie- und Lebensbereiche. Eine Art Wundermittel zur Auflösung jener hierarchischen, von Grund auf dualistisch und kausal ausgerichteten Baumform schien gefunden, an der sich abendländisches Denken und Handeln überwiegend orientiert hatten.
Der Formenkreis des Rhizoms: ein zeitrelevantes Reflexionsniveau? Oder lediglich ein modisches Begriffsmobiliar, das sich innerhalb verschiedenster Theorie-Ressorts beliebig einsetzen und verschieben lässt? Offensichtlich ist jedenfalls, dass Deleuzes/Guattaris Philosophieren viel mit dem gemeinsam hat, was das Repertoire der Neuen Musik als Verfahren der Dezentrierung, der variablen Form oder der Eigenzeit kennt. Liegt also womöglich in der Affinität zwischen Musik und Philosophie die Eignung der Rhizom-Theorie, zeitgenössisches Komponieren modellhaft zu beschreiben?
RHIZOM
Ein Beschreibungsmodell Neuer Musik?
Von Johannes Bauer
(DeutschlandRadio Berlin, 2002)
Bspl. 1: Claus-Steffen Mahnkopf, Rhizom [Tr. 5, bei 11´01´´(aufbl.)–13´20´´;
ab 11´45´´ Textbeginn][2´19´´]
Rhizom: ein Klavierstück von Claus-Steffen Mahnkopf. Dazu notiert der Komponist:
»Ursprüngliche Idee für Rhizom war, die Polyphonie derart voranzutreiben, dass aufgrund der Ausdifferenzierung der beteiligten Ereignisschichten (in diesem Falle: 13) der Hörer eine in sich schizophrenisierte Gleichzeitigkeit nicht nur von Verschiedenem, sondern von verschiedenen Zeitebenen mit divergierenden Ereigniskomplexen vernimmt. [...] Unter komplexer Polyphonie verstehe ich, dass gleichzeitig [...] völlig Gegensätzliches, mitunter Überlappendes, netzwerkartig Verknüpftes mit mehr unterirdischen Verweisungszusammenhängen in eine Werktotalität gebannt ist [...]. Es obliegt letztlich dem Hörer, den jeweils eigenen, höchst individuellen Weg durchs Labyrinth zu finden«.
Als Gilles Deleuze und Félix Guattari mit dem Denkmodell vom Rhizom die philosophische Diskussion vor rund fünfundzwanzig Jahren in Aufregung versetzten, trafen sie einen Nerv des Zeitgeistes. Schnell entfaltete das Bild vom mittelpunktslos wuchernden Spross- und Wurzelwerk ein seinerseits wildwüchsiges Eigenleben quer durch die unterschiedlichsten Theorie- und Lebensbereiche. Eine Art Wundermittel zur Auflösung jener hierarchischen, von Grund auf dualistisch und kausal ausgerichteten Baumform schien gefunden, an der sich abendländisches Denken und Handeln überwiegend orientiert hatten.
Der Formenkreis des Rhizoms – ein zeitrelevantes Reflexionsniveau? Oder lediglich ein modisches Begriffsmobiliar, das sich innerhalb einzelner Theorie-Ressorts beliebig einsetzen und verschieben lässt? Offensichtlich ist jedenfalls, dass Deleuzes/Guattaris Philosophieren viel mit dem gemeinsam hat, was das Repertoire der Neuen Musik als Verfahren der Dezentrierung, der variablen Form oder der Eigenzeit kennt. Möglich, dass sich gerade aufgrund dieser Affinität zwischen Musik und Philosophie die Rhizom-Theorie zu einem Beschreibungsmodell zeitgenössischen Komponierens eignet.
Was macht nun die Eigenschaften eines Rhizoms aus? Deleuze/Guattari geben sechs Charakteristika an:
»1. das Prinzip der Konnexion, 2. das Prinzip der Heterogenität, 3. das Prinzip der Vielheit, 4. das Prinzip des asignifikanten Bruchs, 5. und 6. das Prinzip der Kartografie und des Abziehbildes«.
Ästhetisch interessant sind vor allem die ersten vier Prinzipien, zumal die der Konnexion und der Heterogenität, zu denen es im Rhizom-Text heißt:
»Im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nichtsignifikante Zustände.«
Rhizom: das bedeutet demnach ein Ernstnehmen von Dynamik und Verflüssigung. Das Ernstnehmen einer Dynamik, die keine Fixa und qua Macht separierten Bereiche zulässt. Frei von einer mittelpunktszentrierten Ordnung und ihrer hierarchischen Vermittlungsregie verwandelt das Rhizom Strukturgefälle in transversale Netzwerke. Unbekümmert um Brüche und Widersprüche und interessiert an universellen Verknüpfungen unterwandert das Rhizom Territorien und bricht sie auf, indem es die Details wuchern und sich verästeln lässt. So wie die musikalische Textur rhizomatisch zu wuchern beginnt. Bei Boulez etwa, den Deleuze/Guattari des Öfteren als Zeugen ins Spiel bringen. Wurde nicht für Boulez die Methode der Wucherung so bedeutsam, dass der Komponist selbst mehrmals von seinem »angeborenen Sinn« für die »Wucherung der Materialien« sprach?
»Für mich [ist] die Wucherung wichtig. Die Ideen gehen mir so lange nicht aus dem Sinn, bis ich diese Wucherung voll ausgeschöpft habe.« »Wenn ich eine musikalische Idee vor mir habe oder wenn ich einem von mir erfundenen Text einen bestimmten musikalischen Ausdruck geben möchte, so entdecke ich in diesem Text [...] immer mehr Möglichkeiten, ihn zu variieren, zu transformieren, zu erweitern, anzureichern. Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samenkorn: man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie ein Unkraut. [...] Ich weiß, dass die Tendenz zur Wucherung gefährlich ist, weil sie zur immer gleichen Dichte führen kann, zu einer größten Dichte, einer höchsten Spannung oder einer äußersten Variierung in jedem Augenblick. [...] So weisen etwa »die beiden Sätze des Livre pour quatuor à cordes, die zu einem Livre pour orchestre à cordes geworden sind, eine derartige Wucherung, eine derartige Überfülle von Ideen auf«.
Bspl. 2: Pierre Boulez, Livre pour orchestre à cordes [Tr. 7, 2´12´´–3´58´´][1´46´´]
Einen der Formanten seiner Dritten Klaviersonate überschreibt Boulez mit »Konstellation«. Bezeichnend dabei die Nähe zu Mallarmés Livre-Projekt und zur ›Konzeption des offenen und umfangreichen Buchs‹, bei dem
»die Entwicklungen immer komplexer werden, je mehr das Buch anschwillt«. »Die Entwicklungen verdichten und vermehren sich und werden zu Tropen, welche Tropen aufgepfropft sind, welche ihrerseits wiederum Tropen aufgepfropft sind, so dass es zu unterschiedlichen Graden von strukturellem Reichtum kommt. Diese Häufung, die von einem sehr einfachen Tatbestand ausgeht und zu einer chaotischen Situation führt, weil sie durch ein Material erzeugt ist, das um sich selbst kreist und zu solcher Komplexität anwächst, dass es alle individuellen Züge verliert und Teil eines ungeheuren Chaos wird – das ist ein für mich sehr bezeichnender Vorgang.« [...] »Das Geheimnis eines Werkes besteht gerade in der Polyvalenz seiner Leseebenen. [...] Für mich muss ein Werk wie ein Labyrinth sein, man muss sich darin verlieren können«.
Das »Prinzip des Tropus«, der Wucherung und der »weitläufigen Variation« hat Boulez vor allem in der Dritten Klaviersonate eingesetzt. Wobei das Prinzip darin besteht,
»dass man einen ziemlich einfachen Text nimmt und ihn wuchern lässt, indem man bestimmte Elemente sagen wir vom Typ A, in Parallele setzt zu Elementen vom Typ B, und sie durch diese B-Elemente beeinflusst, variiert und erweitert«.
Bspl. 3: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano [Tr. 7, 2´30´´–4´13´´][1´43´´]
Für Boulez war die Auseinandersetzung mit Mallarmé eine Art künstlerischer Wahlverwandtschaft. Neben der Auseinandersetzung mit dem Livre-Projekt vor allem auch die mit Mallarmés Coup de dés von 1897 und dessen polyvalent gestreuter Syntax. Eine Streuung um der Vielfalt der Konstellation willen, die die eindimensionale Leserichtung zur »vision simultanée de la Page« weitet. Damit zielt Mallarmés Traum vom »œuvre pure« auf das »sprechende Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den Wörtern überlässt«, und auf den Vorrang des geformten Materials: Eine Intention jenseits der »persönlich-enthusiastischen Satzführung« und eine Intention, die die auktoriale Regie des Autors bricht. Bei Boulez liest sich das so:
»Die Form erlangt ihre Autonomie, sie strebt nach einer Absolutheit, die sie vorher nie gekannt hat, sie weist das Eindringen von rein persönlichen Zufälligkeiten ab. Die großen Werke, auf die ich mich bezogen habe – Mallarmé, Joyce – stellen die Grundgedanken einer Epoche heraus: der Text wird dort gewissermaßen ›anonym‹, ›spricht aus sich selbst, ohne die Stimme des Autors‹. Gälte es, den tiefsten Beweggrund aufzuspüren für das Werk, das zu schreiben ich versucht habe, so läge er im Streben nach solcher ›Anonymität‹.«
Nicht anders argumentieren Deleuze/Guattari im Rhizom-Text:
»Ein Buch hat weder Objekt noch Subjekt, es ist aus den verschiedensten Materialien gemacht, aus ganz unterschiedlichen Daten und Geschwindigkeiten. Sobald man das Buch einem Subjekt zuschreibt, vernachlässigt man die Arbeit der Materialien [...]. Nur wenn das Viele als Substantiv, als Vielheit behandelt wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt.«
Veraltet, zurückgeblieben das Ideal des aristotelischen Werkorganismus und seines ehernen Zusammenhangs zwischen dem Ganzen und seinen Teilen: Eines Zusammenhangs, dessen geringste Störung den Sinn kollabieren lässt. Vorbei die »organische Innerlichkeit«, in der »jede Schicht signifikant und subjektiv« ist. Stattdessen kann entsprechend dem Modell des »asignifikanten Bruchs«
»ein Rhizom [...] an beliebiger Stelle gebrochen und zerstört werden; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter.«
Vorbei das unabdingbare Bündnis zwischen der gewissenhaften Durchkonstruktion des Werks und dem schöpferischen Wissen und Gewissen, gerade damit der Repräsentanz von Welt und Zeit im Werk zu genügen. Eine Zeit, in der es musikalisch weit mehr um strukturelle Faltungen und Dehnungen von Mikrovarianten geht als um Kollisionsdramatik und Ecce-homo-Pathos; weit mehr um die Grenzgänge zwischen Chaos und Ordnung als um die Beschwörung trivialisierter Subjekt- und Weltlegenden – eine solche Zeit lässt auch das Ideal des geschlossenen Werks nicht unberührt: als Kritik an einem ebenso hehren wie statischen Refugium der Kunst inmitten der Prosa des gesellschaftlichen Vermittlungsgetriebes und seiner Vernetzungsenergien.
Das Werk »hat aufgehört, ein Mikrokosmos nach klassischer und abendländischer Art zu sein. [Es] ist kein Bild der Welt [mehr] und noch viel weniger Signifikant. Es ist nicht schöne organische Totalität, auch nicht mehr Einheit des Sinns.«
Erinnern diese Ausführungen Deleuzes/Guattaris nicht an das Verfahren der variablen Form in der Neuen Musik? Daran also, dass Zeit nicht mehr als absolute Einheit und in gleicher Weise allen Ereignisse vorgegeben ist? Auch ästhetisch ist der newtonsche Zeitcontainer brüchig geworden. Und damit die Vorstellung von der Schicksalsmacht Zeit und ihrer Verinnerlichung als kausales Regime. Gegen den formdogmatischen »Triumph der Zeit« kommt von nun an zunehmend die Praxis von »Verantwortung und Freiheit« zum Tragen, wie sie eben variable oder vieldeutige Formen verlangen, deren Interpretation nicht nur eine einzige Lösung zulässt, sondern verschieden viele, die »gleich gültig« sind. Wobei die Auswahlkriterien der Interpreten samt ihren Auswirkungen auf den Formverlauf zum Bestandteil des Werks werden. So wie im »Konstellation«-Formant der Dritten Klaviersonate von Boulez
»gewisse Richtungen obligatorisch sind, andere fakultativ«. »In gewisser Weise ähnelt diese Konstellation dem Plan einer unbekannten Stadt«. »Die Marschroute bleibt der Initiative des Interpreten anheim gestellt«.
Bspl. 4: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano [Tr. 7, 9´43´´–11´27´´][1´44´´]
Eine Form, »die ebenso fixiert wie beweglich ist«, mit dem Resultat jeweils individueller Fassungen, hat nur noch wenig mit einem Organismus-Modell zu tun, in dem jedes Detail unverrückbar durch die »Idee des Ganzen« bestimmt ist. Von solchen Ganzheitsfantasien hat sich die Neue Musik vor allem der variablen Formen weitgehend verabschiedet. In ihren Rhizomen können Teile wegbrechen, umgruppiert werden oder verschwinden, unhörbar, unspielbar bleiben, ohne dass das Ganze aus den Fugen geraten Gesprengt wird die Einheitszeit des geschlossenen Werks, dessen Kontinuität jede andere ausschließt. Und wenn die Vielfalt variabler Formen zur hintersinnigen Anspielung auf die Veränderbarkeit von Ordnungen und Systemen wird, erinnert auch das an die antihierarchische Schubkraft des Rhizoms, wie Deleuze/Guattari sie verstehen. Und noch etwas: mit der Detonation des geschlossenen Werks kann sich Musik neben dem Unhörbaren und Unspielbaren endlich auch dem vormals Kunstfremden von Geräusch, Lärm oder Rauschen öffnen. Nach Art eines Fadings etwa, eines subtilen Ein- und Ausfädelns von Kunst und Empirie wie in Peter Ablingers Quadraturen IV; »Selbstporträt mit Berlin«.
Bspl. 5: Peter Ablinger, Quadraturen IV (»Selbstporträt mit Berlin«) [Tr. 7, 0´00´´–2´31´´][2´31´´]
Ausgeklügelte kompositorische Programme auf der Basis moderner Naturwissenschaften oder neuester philosophischer Theorien garantieren nicht schon a priori ästhetisches Niveau. Sie verlangen zunächst ihre werkspezifische Umsetzung und Einlösung. Und dass die »Verwendung einer bestimmten noch so ›fortgeschrittenen‹ Technik über den ästhetischen Wert des Kunstwerks nicht das Geringste besagt«, fiel schon Max Weber auf. Es wäre ein Kurzschluss, Komplexität ausnahmslos als Hochrüstung und Anhäufung technischer Mittel und struktureller Techniken zu verstehen. Wie sehr die umstandslose Höherwertung einer an logischer Komplexität orientierten musikalischen Ereignisfülle gegenüber einer als Ereignisleere missverstandenen anderen, zweiten Komplexität in die Irre geht, zeigen Konzeptionen, die das Thema Komplexität differenzierter begreifen. Nämlich nicht nur als eine minutiös und ereignisdicht durchgearbeitete, subjektgesteuerte Werkfaktur, also als Positiv einer komplexen Welt; sondern ebenso als eine Komplexität, die komplex ist gerade aufgrund ihrer selbstreflexiven Zurücknahme – im Bruch, in der Zäsur, im Zero: also als Negativ einer übermächtigen Sinnpräsenz der Signale. Erinnern wir uns:
»Im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nichtsignifikante Zustände.«
»Nichtsignifikante Zustände« also. Das Rhizom musikalisch – wie so oft – ausschließlich mit Komplexität in Verbindung zu bringen, wäre zu kurz gegriffen. Zum Rhizom gehören nicht weniger die Leerstellen und Wüsten des Sinns, die Risse in der Textur der Zeichen, die die Ordnung der Signale in ein anonymes Pulsieren fallen lassen. Lücken und Löcher, die als Vergrößerungen des »asignifikanten Bruchs« alles andere als sinnlos sind. Musik wird hier – vergleichbar der monochromen Malerei eines Ives Klein – zum Detektor nahezu unhörbarer, leicht überhörbarer Kräfte und Intensitäten. So in John Duncans NAV-flex, realisiert vom Zeitkratzer-Ensemble:
Bspl. 6: John Duncan, NAV-flex [Tr. 1, 2´00´´(aufbl.)–4´20´´(ab 4´15´´ausbl.)][2´20´´]
Zäsuren in die übermächtige Sinnpräsenz der Signale treiben: Das leisten auch Verfahren, die die Sprache rhizomatisieren. Verfahren, die die Syntax zum Bersten, zum Stottern bringen und im Zero des Sinns aufgehen lassen. In der Klang- und Lautspur zerfällt der Signifikanz- und Sinnprimat der Sprache und mit ihm ein Stück Realitätsprinzip, das sich im Zwangscharakter der Sprache verschanzt. Ein Dekomponieren, das wie in Cages Mesostics zugleich die unterdrückten physiologischen, phonetischen, gestischen und vieldeutigen Aspekte der Sprache freisetzt, Sprache somit auch jenseits ihres logischen Korsetts denkbar werden lässt. Für Deleuze/Guattari heißt »die Sprache mit einer rhizomatischen Methode analysieren«,
»sie auf andere Dimensionen und andere Register hin zu dezentrieren. [Denn] nur als Funktion von Entmachtung zieht sich eine Sprache auf sich selbst zurück.«
Bspl. 7: John Cage, Sixty-two mesostics Re Merce Cunningham [Tr. 5, 5´56´´–6´59´´][1´03´´]
Rhizom: das bedeutet offene, »nicht zentrierte Systeme«, frei von der Synchronisierung und Organisation durch eine »zentrale Instanz«. Gerichtet gegen die Kommandobäume der Macht wie gegen die ödipalen Strukturen selbst noch der Kunst, und seien es die der geschlossenen Form und ihres Gesetzescharakters. Dazu Deleuze/Guattari:
»Was wir in einem Buch [respektive in einem Werk] suchen, ist die Art, wie es etwas durchgehen lässt, was den Codes entkommt: Ströme, aktive revolutionäre Fluchtlinien, Linien der absoluten Decodierung, die sich der Kultur widersetzen.«
Entscheidend bleibt der Impuls gegen die ständige Wertung nach Wichtigem und Unwichtigem, nach Richtigem und Falschem, welche die an den Baum, die an den Erkenntnisbaum gebundene Scheidung von Gut und Böse aufnimmt, um dualistische Urteilsmoral und binäre Logik mit dem Effekt eines universalen Sinngenerators einzusetzen.
»Die binäre Logik aber«, so Deleuze/Guattari, »ist die geistige Realität des Wurzelbaums«, ›verhaftet dem klassischen Denken‹. Einem Denken, das »die Vielheit nie begriffen hat: es muss von einer starken, vorgängigen Einheit ausgehen, um zu zwei zu kommen«. Es ist deshalb notwendig, »über korrigierende Denkweisen zu verfügen, um die Dualismen aufzulösen«.
Natürlich setzt das Modell vom Rhizom das Ende jener göttlichen Regie voraus, die als absolute Identität den Grund aller Dinge und Ereignisse geliefert hatte. Erst mit der Zersplitterung der absoluten, göttlichen Zeit Newtons in die Eigenzeiten der Relativitätstheorie kann schließlich die Faszination am Chaos aufkommen: Als »Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos« und als Überlagerung »heterogener Bewegungsabläufe«.
Bspl. 8: György Ligeti, San Francisco Polyphony [Tr. 5, 8´35´´(aufbl.)–10´25´´][1´50´´]
Ligetis San Francisco Polyphony: In ihr wird Zeit zum Energiegefüge, in eins erzeugt und aufgesaugt von den Zentripetal- und Zentrifugalkräften divergierender Kraftlinien. Vergleichbar jener Verschränkung von De- und Reterritorialisierung, auf die das Rhizommodell Deleuzes/Guattaris so großen Wert legt:
»Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet usw.; aber auch Deterritorialisierungslinien, auf denen es unaufhaltsam flieht. Jedes Mal, wenn segmentäre Linien in eine Fluchtlinie explodieren, gibt es Bruch im Rhizom, aber die Fluchtlinie ist selbst Teil des Rhizoms. Diese Linien verweisen ununterbrochen aufeinander.«
Auch in Isabel Mundrys Streichquartett no one entwickeln die vier Stimmen mit je eigener Taktierung eine zugleich deterritorialisierende wie reterritorialisierende Verzeitlichung unterschiedlicher Eigenzeiten. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: asynchrone Zeitverläufe einer mehrdimensionalen Zeitlichkeit. Ein Rhizom à quatre mit Überlagerungen, Verschränkungen und Abweichungen, die sich dem Zufälligen der »Ereignisse« öffnen. Polyphonie als Polychronie unterschiedlicher Zeitwahrnehmungen in einem Streichquartett, so könnten Deleuze/Guattari formulieren, mit
»Linien der Artikulation oder Segmentierung, Schichten und Territorialitäten; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung. Entsprechend diesen Linien gibt es Fließgeschwindigkeiten, mit denen Phänomene relativer Verzögerung und Zähigkeit oder im Gegenteil, der Überstürzung und des Abbruchs einhergehen.«
Die Komponistin selbst gebraucht das Bild von vier Reisenden, die vom Centre Pompidou zum Eiffelturm gehen, zwar alle die Seine überqueren, alle durch St. Germain müssen, aber verschiedene Wege und Tempi wählen, sich gelegentlich treffen, einige Schritte gemeinsam gehen, sich dann wieder trennen.
Bspl. 9: Isabel Mundry, no one [Tr. 2, 0´03´´–3´50´´(ab 3´40´´ausbl.)][3´50´´]
Anregungen für ihr Streichquartett gewann Mundry vor allem auch aus der Begegnung mit zentralafrikanischen Webmustern.
»Diese Muster sind ein ganzer Organismus von variativen Prozessen, ein Spiel mit Form und Farbe nach dem einfachen Prinzip, manches zu belassen, manches zu verändern, unter Beibehaltung gliedernder Elemente – das Auge kommt hier nie an ein Ende.«
Auch bei Mundry finden sich also die Begriffe von Texturen und Mustern, die in den Beschreibungsmodellen Neuer Musik so häufig kursieren. Begriffe, die auf Mikrobereiche zielen, darauf, dass es der Neuen Musik weit mehr um rhizomatische Verknüpfungen und Auflösungen geht als um Drama und Tragik. Auch Cage greift etwa für Sixty-eight mit der Figur des »audible cloth« bewusst die Metapher vom Komponierten als Stoff und Gewebe auf. Nicht anders flechten die Klangfäden seiner späten Zahlenstücke Musik regelrecht zum »hörbaren Stoff«. Organisiert über flexible oder fixe »time brackets«, mit dem »brushing in and out« der Töne in die und aus der Zeit, distanzieren sich solche Gespinste entschieden vom Koordinationsgitter rhythmischer Zeitskandierung: Ein absichtsloses Fließen, das die Fluktuationen der »number pieces« ohne dramaturgische Vektoren zwischen den Graden von Dichte und Transparenz wuchern lässt.
Bspl. 10: John Cage, Sixty-eight [Tr. 1, 2´38´´–4´38´´][2´00´´]
Cages Sixty-eight: ein azentrisches Zeichengewebe der Trennungen und Bündnisse; ein Text, eine Textur, ein Rhizom, das den Synthesisanspruch des ästhetischen Subjekts als zentrale Sinnmacht absurd und vermessen zugleich erscheinen lässt. Mehr noch, um Roland Barthes zu zitieren:
»Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefasst hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, dass der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.«
Rhizom bedeutet demnach auch eine grundlegende Änderung der Wahrnehmung: So wie Neue Musik nach der Demontage des Kausalitäts- und Homogenitätsfilters zuweilen wie ein Sieb wirkt, das die Vorstellung kompakter Realität pulverisiert. Darin vergleichbar der modernen Fuzzylogic, jener krausen und haarigen Logik der feineren Zwischenwerte, die den Baum der zweiwertigen Logik auflöst und überwuchert: Rhizomhaft zwischen den Kategorien changierend. Denn das Rhizom
»lässt sich weder auf das Eine noch auf das Viele zurückführen. Es ist nicht das Eine, das zwei wird, auch nicht das Eine, das direkt drei, vier, fünf. etc. wird. Es ist weder das Viele, das vom Einen abgeleitet wird, noch jenes Viele, zu dem das Eine hinzugefügt wird (n+1). Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen. Ohne Subjekt und Objekt bildet es lineare Vielheiten mit n Dimensionen«.
Natürlich bedingt die rhizomatische Entgrenzung auch einen Umbruch hochbetagter Text- und Zeichenarmaturen mitsamt der theologisch-teleologischen Sinnmatrix von Schrift und Notation. Einen Umbruch, der die diachrone Vermittlungshierarchie und ihre Verbildlichung im Schema von Lineatur und Blocksatz grafisch auf eine neue Wahrnehmungssemiotik hin überschreitet. Ist es doch nach Deleuze/Guattari
»nicht leicht, die Dinge von ihrer Mitte her wahrzunehmen und nicht von oben nach unten, von links nach rechts oder umgekehrt: versucht es und ihr werdet sehen, dass alles sich ändert.«
Mallarmés Coup de dés soll deshalb keineswegs Literatur bleiben. Könnten nicht variable Typographien den Parcours herkömmlicher Schriftökonomie unterminieren und damit die Bastion eines Textkörpers, der Blick und Denken im Gitter der Lineatur gefangen hält? Dazu der Rhizom-Text weiter:
»In zentrierten [...] Systemen herrschen hierarchische Kommunikation und von vornherein festgelegte Verbindungen; dagegen ist das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General [und] ohne organisierendes Gedächtnis [...]; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert«.
Der Zeilenprogress als Zeremonienmeister des Gedankens, sein linear befangenes Gedächtnis und der Zwang syntaktischer Verkettung zugunsten starrer Seitensymmetrien: Vielleicht muss all dies zum Teil aus der Verinnerlichung kommerzieller und bürokratischer Konstanten erklärt werden.
Um diese auch für die musikalische Diachronie bestimmenden Konstanten zu sprengen, setzt schon Cage auf eine Transformation des Notentextes, um die »Gutenberg-Galaxis« auch der Musik hinter sich zu lassen. So demonstrieren die rhizomatischen Notationen im Solopart des Klavierkonzerts bildhaft und befreiend, was noch Nietzsche als den Fall der Moderne ins Bodenlose dramatisiert hatte – unter Aufhebung aller Richtungskonstanten:
»Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?«
Cages Graphismen freilich unterlaufen das Sinngebot herkömmlicher Notation mit experimenteller Lust: das Sinngebot des Linearen und mit ihm jene Instanzen des Früher und Später, des Ersten und Folgenden, die Nietzsche als Regulative einer Verschwisterung von Zeit und Moral ausgemacht hatte.
Bspl. 11: John Cage, Concert for Piano and Orchestra [Tr. 1, 4´33´´–7´31´´][2´58´´]
Rhizom: das entspricht in der Neuen Musik auch der Abkehr von zielgerichteten Formationen, die die Einzelmomente in Funktionsträger einer Idee verwandeln. Stattdessen: Zeitnetze, Zeitgitter, Zeitlabyrinthe. Offen, ausschnitthaft, unabgeschlossen, mit einer Fülle an Zwischenwerten. Eine akausale Energetik der Musik, an der das Hörbewusstsein kausalorientierter Sinnbezüge abgleitet. Ein Geflecht, ein Gewebe der Momente und Mikroprozesse samt ihren individuellen Eigenzeiten.
Rhizom, Netz, Gewebe: Etwas davon trifft wohl für jedes Komponieren und jedes Werk der Neuen Musik zu. Programmatisch jedenfalls für Iannis Xenakis' Komposition Aroura, in der es explizit um »Klanggewebe« geht; um »Gewebe« als »primäre Elemente«, wie der Komponist erläutert:
»Innere Teile werden genügend oft wiederholt, um ein Gefühl von Gewebe zu schaffen. [...] Wir sehen uns daher einer Substanz, einem Gewebe gegenüber – viel verzweigter und komplizierter als die Phänomene, woraus sie bestehen; [...] Von diesem Punkt ausgehend, kann man immer weitreichendere Gewebe im Entstehen beobachten und zwar aus den Geweben, die sich auf der vorhergehenden Ebene zusammensetzten. [...] Daher entstehen aufeinander folgende, in sich greifende Lagen [...] von vielen sukzessiven oder einander folgenden Strata, entweder der Zeit gehorchend oder unabhängig von ihr«.
Und wo bleibt in dieser Textur, in diesem Netz die kompositorische Instanz? – Zitieren wir als eine der möglichen Antworten nochmals Deleuze. Auch er insistiert wie Roland Barthes immer wieder auf dem Bild von Netz und Spinne. Etwa bei der Analyse von Prousts Recherche, die »weder wie eine Kathedrale noch wie ein Kleid geformt« ist, »sondern wie ein Netz«. Wo bleibt also nun die kompositorische Instanz, der Autor des Werks? Zu ihm, dem Autor als »Spinnenerzähler«, lesen wir bei Deleuze nach Art einer gut rhizomatischen Symbiose:
»Der Spinnenerzähler, dessen Netz selbst die Recherche im Laufe ihres Entstehens ist«: zu diesem Spinnenerzähler ist nichts weiter zu sagen, als dass »Netz und Spinne [...] ein und dieselbe Maschine sind«.
Bspl. 12: Iannis Xenakis, Aroura [LP, S. 1, Tr. 2, 1´20´´-Ausschnitt][1´20´´]
Musikbeispiele
Dauer
Bspl. 1: Claus-Steffen Mahnkopf, Rhizom (Baldreit-Edition 1995) 2´19´´
Bspl. 2: Pierre Boulez, Livre pour orchestre a' cordes (SONY SMK 68 335) 1´46´´
Bspl. 3: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano (ASTREE E-AUVIDIS 7716) 1´43´´
Bspl. 4: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano (ASTREE E-AUVIDIS 7716) 1´44´´
Bspl. 5: Peter Ablinger, Quadraturen IV (»Selbstporträt mit Berlin«) (KAIROS 0012192KAI) 2´31´´
Bspl. 6: John Duncan, NAV-flex (Zeitkratzer 2002 zkr AQ 03) 2´20´´
Bspl. 7: John Cage, Sixty-two mesostics Re Merce Cunningham (CRAMPS RECORDS CRS CD 101) 1´03´´
Bspl. 8: György Ligeti, San Francisco Polyphony (WERGO WER 6906-2) 1´50´´
Bspl. 9: Isabel Mundry, no one (WERGO WER 6542-2) 3´50´´
Bspl. 10: John Cage, Sixty-Eight (hatART CD 6168) 2´00´´
Bspl. 11: John Cage, Concert for Piano and Orchestra (WERGO WER 6216-2) 2´58´´
Bspl. 12: Iannis Xenakis, Aroura (DECCA 6.42286 AW) 1´00´´