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© Johannes Bauer, Désert (2013), 70 x 50 cm, Acryl auf Leinwand

 

Johannes Bauer

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Im Zentrum einer unberührten Wüste

Helmut Lachenmann und die Conditio humana

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Lange Zeit war der Homo humanus seiner Idee und seiner Praxis nach der Ort, an dem Gott und Welt, Kosmos und Globus sich brachen, bis mit der Beschleunigung der Geld- und Wa­renzirkulation, mit dem Sturmlauf von Naturwissenschaft und Technik und mit dem Über­gang zur Systemrealität der Massengesellschaft das humanistisch legitimierte cartesianische Subjekt selbst zu einem unendlichen Bruch wurde. Und während die jüdisch-christliche und renaissanceerhitzte Tradition vom Homo humanus als dem Herrn der Schöpfung ihre imperia­listischen und barbarischen Züge zu offenbaren und einer Müdigkeit am Menschen zu wei­chen begann, grundierte sich das Lebensgefühl der Moderne mit einer innerweltlichen Tris­tesse, die im Bewusstsein transzendenzloser Endlichkeit und über den Tod der Individuen hinaus das Verlöschen der Gattung insgesamt in den Blick nahm. Dass es Äonen gab, in de­nen der Mensch nicht existierte, dass es Äonen geben wird, in denen er, ungeachtet aller Science-Fiction-Träume, mit dem Sonnensystem und seinen Planeten verschwunden sein wird, mag angesichts der dafür veranschlagten riesigen Zeiträume belanglos erscheinen und liegt doch - bewusst oder unbewusst - wie ein langer Schatten über den Leiden und Errungen­schaften menschlicher Geschichte. Solche Befunde sind hinlänglich bekannt. Die Frage ist nur, wie die Musik der Gegenwart auf sie reagiert.

 

 

 

Neue Konturen

 

Ein Aufbäumen des Orchesters; danach eine eher statische Klangfläche mit leichten Nachbe­ben, auratisch gefärbt von der japanischen Mundorgel; schließlich ein geisterhaftes Klopfen der Klaviere, Luftgeräusche der Trompeten, Grenzgänge des Bogens in den Streichern: »Himmelfahrt«, »Shô«, »Epilog« - der Schluss von Helmut Lachenmanns »Musik mit Bil­dern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Dass der Ausklang dieses Dramas um Kälte und Tod an eine Art Tombeau erinnert, an ein klaustrophobisches Trauma mit den letzten Signalen lebendig Begrabener, ergibt sich vor allem aus dem Eindruck der wie erstickt klin­genden Pochimpulse am Ende des Werks. Liegt es nicht nahe, diesen Abgesang wie eine Kunde aus den arktischen Zonen einer Welt zu hören, die kurz davorsteht, an der fanatischen Verwertung des Werts zugrunde zu gehen? Und doch ist diese Auslegung zunächst nichts weiter als eine soziologische Deutungsschablone.

Der Exegese von Lachenmanns Finale begegnen jedenfalls weitere Lesarten, solche etwa, die auf den Zerfallsprozess der abendländischen Metaphysik und damit auf das anthropozentrische Problem rekurrieren. Sind doch auch im Bereich der Musik Parallelen zu jenen Verfahren der »Umwertung« und »Destruktion« überdeutlich, die Nietzsche und Heidegger zu systemischen Sprengsätzen der philosophischen Arbeit schärfen. Ohne hermeneutische Nötigung ließe sich etwa Heideggers Destruktion der Philosophie hin zu einer Nichtphilosophie des Denkens mit Lachenmanns Verfahren einer Destruktion der Musik hin zu einer »Nichtmusik«(1) der Wahrnehmung vergleichen. In beiden Fällen geht es um einen Akt der Befreiung unter Einsatz geneaologischer Methoden, die sich als Revision metaphysischer Vorentscheidungen und ihrer Ausschlussprozeduren begreifen lassen. Wenn Lachenmann den Zusammenhang zwischen der Physis des Klangs und dem musikalischen Diskurs, zwischen Sinn und Material erfahrbar macht, plädiert er mit dieser Aufdeckung für eine genealogische Option par excellence. Zur Metaphysikkritik wird diese Option, sofern Sinn von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu trennen ist wie die Botschaft von ihrem Medium. Klang ver­standen als »Nachricht seiner Hervorbringung«(2) hebt den Dualismus zwischen der Idee und dem Botenstoff des Sinnlichen auf, wobei die Kluft zwischen Geist und Materie nur für eine jener zahllosen Spaltungen steht, die der Gründungsakt der Metaphysik freisetzt. Mit der Zu­rücknahme dieser Spaltungen verliert indes auch die spaltende und über Zugelassenes und Ausgeschlossenes verfügende Instanz des Deus et homo divisor ihre Privilegien.

Natürlich erwies sich die Selbstreferenz des Ego cogito als sicheres, gar absolut verlässliches Fundament der Welterkenntnis und Weltpraxis seit längerem schon als eine Luftbasis über ungeahnten Räumen und Tiefen. Deren ungeheure Dimensionen unterminieren die rational-rationelle Deutungs- und Handlungskompetenz des subjektivierten Ich und legen seine irrationalen Züge frei. Flankiert wird diese Entmachtung von einer Entzauberung letzter theokratischer Zentren, die den Formenkreis der metaphysischen Dualismen und ihre binären Hierarchien auf der Grundlage des Urteils von gut und böse variantenreich in Gang halten - bis hinein in den Moralkatalog des Schönen und Hässlichen oder den von Ton und Geräusch. In Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern wird diese Entzauberung ins transzendenzlos Offene am Nomen absolutum der »Himmelfahrt«-Passage thematisch. Dem Buchstaben nach anwesend ist der göttliche Name zugleich auch abwesend, indem er phonetisch zersplittert ins akustisch Unverständliche verwischt wird. Mit dem verwischten göttlichen Namen im Trugbild einer Ankunft »bei Gott« wird freilich auch die Fusion von Gott und Mensch brüchig und mit ihr die gottererbte Potenz des Homo humanus, der als Imago Dei und Homo oeconomicus unter dem Gütesiegel des Humanismus den anthropozentrischen Faktor in allen Belangen vorantrieb und Welt und Leben einer rigorosen Taxierung nach Wert und Nutzen unterwarf. Sind jedoch Metaphysik und Humanismus der Neuzeit voneinander nicht zu trennen, dann bedeutet die Kritik der Metaphysik immer auch eine Kritik des Humanismus.

Dass Lachenmanns Musik solche zeitdiagnostischen Konstanten aufnimmt, bringt sie in den Verdacht des Inhumanen. Und dies umso mehr, je deutlicher sie hörbar macht, wie frei sich in der »Leere des verschwundenen Menschen«(3), befreit also von der anthropozentrisch-humanistischen Fasson und ihrer ästhetischen Apotheose komponieren lässt. Die Absage an das Humane als Maske des Inhumanen ergreift indes keineswegs Partei für das Inhumane, sondern skizziert - wie der Schluss von Lachenmanns Oper - neue Konturen jenseits der Be­satzermentalität eines Subjekts, das so viel Glanz und Elend auf sich zog und seine Weltver­fügung in alle Winkel exportierte. Weil sich jedoch die eurozentrisch übersteigerte Autono­mie des Subjekts als Folge seiner eigenen Anmaßungen zunehmend in den bloßen Effekt ge­sellschaftlicher Systemenergien auflöst, richtet sich Lachenmanns Widerstand ebenso gegen die Wucht lautlos ausgreifender Systemzwänge. Dieser Widerstand zeigt sich vor allem in Lachenmanns Interpretation der Ästhetik als Aisthetik und damit in der Verwandlung der Wissenschaft und der Kunst vom Schönen in eine Wissenschaft und Kunst der Wahrneh­mung. Schon in der griechischen Tradition dem Logos eng verbunden, entfaltet sich die kör­perhaft fundierte Erkenntnis der Aisthesis bei Lachenmann zu einer Tiefenkonturierung des Bewusstseins und zu einer Schule der Sensibilisierung wie der Brechung, um antrainierte Souveränitätsmuster fragil werden zu lassen und dem ästhetisch-technischen Apparat in seiner betriebsblinden Verwaltung gegenüber hellhörig zu werden.

 

 

Appell ins Offene

 

Mit der somatisch inspirierten Kunst der Aisthesis als einer Kunst der Wahr-Nehmung ver­bündet sich ein weiterer Impuls in Lachenmanns Kompositionen: Wie kann in einer technisch konditionierten und kontrollierten Welt noch Unverfügbares als Ereignis aufscheinen? Eine Musik allerdings, die dem Erlebnis das Ereignis entgegensetzt, muss die Bühne des Ego und das auf ihr gespielte Drama vom ständigen Wiederfinden seiner selbst demontieren. Und sie muss das Ideal einer Musik brechen, die von dieser Bühne aus gebrauchsfertig zurechtgehört werden kann: das heißt das Ideal einer Musik, deren magisch-organische Geschlossenheit der philharmonische Diskurs zum narzisstischen Spiegel des Ich=Ich funktionalisiert, ohne die selbstgefällig in sich abgeschottete Ich-Monade auch nur im Geringsten zu irritieren.

Eine besondere Rolle spielt bei diesen Brechungen und Demontagen das Zero von Stille und Leere. So führt gerade die »Leere« des Stillstands in Lachenmanns Gran Torso ins »Zentrum einer unberührten Wüste«.(4) Eine durch schöpferische Erschöpfung »auf Null« gebrachte Musik, »glücklich« gewissermaßen und »heiter«, wird zum Entree in den Bezirk einer »Nicht-Musik« von »nie gekannter Freiheit«(5) und zum Entree in den Locus desertus, den leeren und verlassenen Ort einer semantischen Wüste, in der die etablierten musikalisch-ästhetischen Codes zu desertieren und vom Sinn abzufallen beginnen, ohne sich im Sinnlosen zu verlieren. Leere als Fülle und Leere als Freiheit nähern die Sprache der Musik einer Nicht-Sprache an, die sich umso mehr mit der aisthetischen Qualität des Materials auflädt, je mehr die symbolische Bedeutung von ihr abfällt. So bricht Lachenmanns Exorzismus der Musik im Namen einer Nicht-Musik mit den Normen des Sinns zugleich die in ihnen verkappten Normen der Macht des Normalen und Normgerechten.

Dass in dieser Entlastung vom Fundamentalismus der Sinngebung die Wahlverwandtschaft Neuer Musik zu fernöstlichen Denktraditionen gründet, liegt auf der Hand. Und es ist diese Wahlverwandtschaft, die in der »Shô«-Episode von Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern hörbar macht, was abendländisches Komponieren lange übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ich-Abstinenz und der Fülle des Ausgesparten. Wenn deshalb nach dem Tremendum der »Himmelfahrt« der Ton des Shô aufklingt und mit ihm eine Schwebe zwischen Gefühl und Nichtgefühl, dann entzieht sich dieser Ausdruck des Schwerelosen westlichen Stimmungsregistern. Entgegen der abendländischen Tradition, die dem martialischen Status von Konflikt und Kampf ein so überaus hohes Prestige einräumt, öffnet sich eine Terra incognita ohne Konfrontation und Antagonismus. »Shô«: ein musikalischer Ort weniger der Töne als der Tönungen und ein Ort, an dem sich die Musik von ihrer eigenen Willensanstrengung und Gewolltheit befreit. So, als würde sie daran erinnern, dass die Menschen zunächst einmal in einen Zustand der Gelassenheit gelangen müssten, um loslassen und gelassener werden zu können: ein Unterfangen, das im Bann einer weltweiten Effizienzmanie kein logischer, sondern ein realer Zirkelschluss des Lebens selbst ist, das bekanntlich tödlich endet.

Schließlich dann der »Epilog« der Oper, den Lachenmann zu einer Musik ohne jedes heiße Material abkühlt; zu einer Musik am Rand der Musik, die das Wohltemperierte in tiefere Temperaturen absinken lässt, bis die Schwingungen gedämpft, dem Ton die Wärme entzogen und so gut wie keine klare Tonhöhe mehr erkennbar ist. Und doch ermöglicht erst diese musikalische Kältetechnik, nicht nur das Ende des Werks und sein rätselhaftes Klopfen in den Klavieren wie einen akustischen Kassiber ins Offene zu hören, sondern den Sinn für das Of­fene überhaupt zu sensibilisieren. Lachenmann weiß, dass das Verdunsten der metaphysi­schen Aura leicht in ein falsches Ecce-Homo-Pathos umschlagen kann. Deshalb wohl sendet seine Musik kein Echolot mehr in die Tiefen einer allzu lange mit dem Sentimentalen ver­wechselten Seele. Während das narzisstische, Einsamkeit kompensierende Hören nach dem Prinzip verfährt, »ich mag die Musik, die mich mag«, lässt sich Lachenmanns expressive Gestik nicht mehr als Wohlfühlgefühl verbuchen. Indem sie wie ein Blitz in die künstliche Behaglichkeitsatmosphäre sämtlicher Klangidyllen einschlägt, erschüttert sie die Blockade­mentalität des Ich in seiner Funktion als Produkt und Produzent individuell übersteigerter Vorlieben und Abneigungen. Auf die Gier der Animation, mit der die global medialisierte Mobilisierung des Erlebnisses alles nach ihrem Bild modelt, reagiert Lachenmann mit einer Entpsychologisierung und Entteleologisierung der Musik. So thematisiert das Ende seiner Oper weder Erlösung noch Verzweiflung, sondern den Schock einer Besinnung durch Er­nüchterung im Blick auf eine Erde ohne Jenseitsbonus und mit einer Verantwortung im Hier und Jetzt. Lassen die intentionslosen Klänge des Shô zusammen mit den appellhaften Poch­impulsen des »Epilogs« nicht anklingen, worauf es Lachenmann ankommt: nämlich auf eine Abrüstung der abendländischen Ich- und Willensemphase, ohne damit einem Fatalismus der Passivität zu verfallen? Und liegt nicht gerade in der Verstörung des Heroentums des Be­zwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Brisanz einer Musik in Zeiten des sensuell-kognitiven Umbaus menschlichen Daseins? Wer wüsste schon, ob im Zug der universalen Wachstums- und Verwertungsideologie der tech­nisch traktierte Mensch und sein absehbarer schleichend genetischer Umbau zu einer hybriden Verbindung von Chip und Zelle und zur biomachinalen Nutzung jeder Restnatur führt oder nicht? Was wäre folglich von Musik mehr zu verlangen, als dass sie uns trifft und bewusst macht, wie sehr das Problem des Deus absconditus, des verborgenen Gottes, mittlerweile zu einem Problem des verborgenen Menschen, des Homo absconditus, geworden ist?

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Anmerkungen

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1 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 91 und 397.

2 Ebd., S. 402.

3 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971, S. 412.

4 Heinz-Klaus Metzger, Helmut Lachenmann, Fragen - Antworten, in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn, Hel­mut    Lachenmann, Musik-Konzepte 61/62, München 1988, S. 126.

5 Ebd., S. 126f.

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