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Der Essay basiert auf einem Vortrag anläßlich der Forschungstagung Adornos Kritische Theorie der Moral an der Berliner Humboldt-Universität 1994

Seismogramme einer nichtsubjektiven Sprache

Écriture und Ethos in Adornos Theorie der musikalischen Avantgarde

                                                                         Il s'agit d'arriver à l'inconnu par le dérèglement de tous les sens.

Rimbaud

 

Adornos späte ästhetische Arbeiten konfigurieren sich um die Idee der "écriture"(1) und der "Schrift"(2) als eines ihrer Zen­tren. Mit Blick auf das Problem, wie Musik als Entfaltung von Wahrheit zu denken sei, möchte ich deshalb den Topos vom "Schriftcharakter"(3) der musikalischen Avantgarde einigen Leitmotiven der Ästhetik Adornos als Gegenimpuls konfrontie­ren, zumal dem von der Kunst als "Gedächtnis des akkumulier­ten Leidens"(4). Ich möchte zeigen, daß sich in Adornos Musik-Essays der sechziger Jahre punktuelle Transformationen seiner Ästhetik finden: von einer Ästhetik des "Schmerzes und der Negativität"(5) hin zu einer Überschreitung des ethisch fun­dierten Wahrheitsgehalts als der Expression des "reinen Un­menschlichen"(6).

     Seit längerem wird an Adornos Ästhetik ein dogmatischer Zug kritisiert: ein "normativer Modernismus"(7), den die künstlerische Praxis als veraltet hinter sich gelassen habe. Der "elitäre Exorzismus" in Adornos "Moderne-Erzählung" wurde als eine "modernistische Mythologie" verdächtig, die vieles von dem, was in den nach-avantgardistischen Künsten des letzten halben Jahrhunderts zutage kam, aus dem Ensemble legitimer moderner Ausdrucksformen ausschließe(8). Nicht jeder aber, der außerhalb der "Dissonanzpflicht" gegen "Konsonanztabus" verstoße, sei darum schon ein "Mitläufer der falschen Totalität". Vom "Verhängnis der Welt" könne man schließlich "auf sehr verschiedene Weise wissen"(9).

     Zweifellos wird der postulatorische, nicht selten prohibi­tive Gestus der Schriften Adornos zur Musik der Gegenwart von einem ethischen Movens des Urteils in Gang gehalten, etwa dem gegen eine eilfertige Angleichung der Musik an wissenschaft­lich-technische Verfahrensweisen. Wobei Adornos Reflexionen durchweg mit ontologie- und gesellschaftskritischen Motiven koinzidieren, so in der These vom Umschlag der reinen Mate­rialintention in Naturwüchsigkeit. Nicht selten jedoch ent­grenzt sich die ästhetische Theorie Adornos auf einen Hori­zont hin, vor dem der Kontext des Standhaltens im Ausdruck ungemilderten Leidens zu oszillieren beginnt. Eine dieser Entgrenzungen formuliert der Aufsatz Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei von 1965.

     Adorno geht in dieser Arbeit davon aus, daß die Musik der Moderne und der Avantgarde "um so deutlicher (spricht), je tiefer sie in sich selbst durchgebildet" ist, indes ihre "Sprachähnlichkeit" mit dem "Fallen der Mitteilung" steige. "Schrift" wird Musik gerade durch den "Verzicht aufs Kommunikative", das "in Wahrheit Unsprachliche", weil "bloß subjektiv Gewollte". So prägen die Rigorosität der Konstruktion und ihre antisymbolische Tendenz das Werk der Avantgarde "zur Schrift aus seiner eigenen Sprache". "Das Abbrechen der Intention durchs Herstellen des Gebildes - das >Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind< - verleiht dem Werk seinen Zeichencharakter."(10) Im "Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem" aber transformiert sich Musik zu einer "veränderten Gestalt des Expressiven", "unabhängig von der signifikativen Beziehung auf ein Auszudrückendes" und einem "sich ausdrückenden, mit sich identischen Subjekt". Hier geht es nicht mehr um den Spiegel des "synthesierenden Ich" und seine Selbstmächtigkeit in Material und Gestalt. Musik wird vielmehr zum 'Schema' einer "nichtsubjektiven Sprache", der, weil "nicht unmittelbar gegenwärtig und möglich", etwas "Abgebrochenes, Hieroglyphisches" eignet. Die "Schriftzüge" der Werke indes markieren als "Seismogramme von Unwillkürlichem" den Durchbruch "früher mimetischer Verhaltensweisen". Frei von den "Konventionen" der "ästhetischen Zeichensysteme", die das "mimetische Moment" immer auch "gefälscht" haben. Musik, die solchermaßen ihrem "Impuls sich überläßt, hat Affinität zum reinen Ausdruck". Wie "écriture" in Musik erst entbunden wird durchs "Absterben ihrer nachahmenden Momente" bis hin zu denen der "traditionellen Expressivität", so ist Musik erst in der "écriture" vermöge des "beherrschten Naturmaterials (...) frei", "ihrem mimetischen Impuls rein nachzugeben"(11).

     Obwohl der "Schriftcharakter" aufgrund eines "fernen, auch vorwegnehmenden Erzitterns bei Katastrophen" als "seismographisch" bezeichnet wird, sich somit auch hier die Präsenz ei­ner Philosophie im Schatten des Verhängnisses zeigt, ist der referierte Passus einer, an dem sich die Ästhetik Adornos am weitesten öffnet. Die Struktive von Erkenntnischarakter und Wahrheitsgehalt und ihr Reflexionsgrund im Zeichen der "Dunkelheit und Schuld der Welt"(12), die Allianz von Mnemonik und Ethik, selbst der expressive Habitus des artistischen Subjekts werden vom gestischen Sprachmodell der Musik her auf dessen transsubjektives Dereglement hin überschritten. Daß die "Unmenschlichkeit der Kunst (...) die der Welt überbieten (muß) um des Menschlichen willen", wie noch die Philosophie der neuen Musik(13) fordert, spannt sich auf eine meditative Dimension des 'reinen, beredten Naturlauts'(14) hin. Indem Mu­sik "mit menschlichen Mitteln das Sprechen des nicht Mensch­lichen realisieren" will und "befreit vom dinghaft Störenden" zum "reinen Ausdruck" wird, nähert sie sich einem "Unbekannten", das Adornos Musikästhetik für einen Augenblick ihrer Unerbittlichkeit im "Begriff des Ernstes"(15) enthebt.

     Daß sich Adorno über die Brisanz dieser Überlegungen im klaren war, zeigt die häufige Konnotation der "Kündigung des ästhetischen Sinns" mit der Aufhebung der "äußeren und inne­ren Abbildlichkeit der Kunstwerke"(16). Entlastet doch das Mo­ment des Bilderlosen Musik vom Ethos des "zerrütteten Kunst­werks"(17). Dessen Physiognomie, die in der Moderne "gespannt gegen das Entsetzen der Geschichte"(18) steht, wird schon in der Philosophie der neuen Musik durch den Satz gemildert, daß neue Musik "keine Ideologie mehr"(19) sei. Zusammen mit dem Gedanken, das Ästhetische der Werke müsse "nicht in der Lösung seiner Fragen und nicht einmal notwendig in der Wahl der Fragen selber (...) auf die Gesellschaft"(20) reflektieren, ent­wirft der Essay Vers une musique informelle schließlich die "Gestalt aller künstlerischen Utopie heute" als den Versuch, "Dinge [zu] machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind"(21). Hier begegnet dieses Leitmotiv als Resümee einer programmatischen Schrift also zum zweitenmal, um im Szenarium der zeitgenössischen Musik eine gleich produktive wie luxurierende Phantasie des Ästhetischen zu innervieren; jenseits der Scheidung von engagierter und autonomer Kunst und mit ei­ner Abrüstung des Subjekt-Ethos zugunsten eines "Vorrangs des Objekts"(22).

     Obwohl Adorno die "Emanzipation" der Musik "von der Sprache, die Wiederherstellung gleichsam ihres lautlichen, intentionslosen Wesens" mit der Idee des "Namens" als der "Überwindung musikalischer Naturbeherrschung durch deren Vollendung hindurch"(23) in Zusammenhang bringt, hat er der Verwirklichung dieses Potentials vom Limes des Mnemonikers her letztlich doch mißtraut. So sehr Adorno auch für die Ex­perimente der Avantgarde offenbleibt, so sehr dominiert seine Arbeiten bis zuletzt das Gravitationszentrum einer Ästhetik des Subjekts. Seine Interpretation der anarchischen Tendenzen des Zufalls oder der positivistischen Blindheit als eines Überläufertums zum krud Empirischen schreibt dabei bis in die Ästhetische Theorie hinein die Diagnostik der Dialektik der Aufklärung fort. Ich möchte nur das von Adorno des öfteren unter Berufung auf Ligeti thematisierte wechselseitige Um­schlagen des Seriellen und des Aleatorischen erwähnen(24), des­sen Analyse sich als eine des immanenten Übergangs der Ex­treme von Notwendigkeit und Zufall, Totalität und Desintegra­tion, Ordnung und Chaos, Objektivität und Subjektivismus am Formen­kreis der zivilisatorischen Trennungsmanöver von Geist und Natur des Dialektik-Buchs von 1944 orientiert. Vielleicht läßt sich deshalb Adornos Verhältnis zur Musik der Avantgarde auch am besten mit dem Bild vom "Fühlhorn der Schnecke", dem "Wahrzeichen der Intelligenz" aus der Dialektik der Aufklä­rung charakterisieren: als eine Bewegung des Sich-Annäherns und Zurückzuckens im Erfahrungs- und Erkenntnisbereich von Irritation und Reflexion(25).

     Noch in seinen späten Schriften insistiert Adorno auf der Forderung, das "Unbekannte" müsse sich "durchs Subjekt hin­durch" und durch die Reflexionsinstanz der Form bestimmen; selbst wenn es sich hier nicht mehr um die possessiven Stra­tegien eines mnemonisch omnipräsenten künstlerischen Subjekts handelt, sondern eher um dessen mediale Präsenz. Das "nomi­nalistische Kunstwerke" bedarf "stets wieder des Ein­griffs der lenkenden Hand"(26). Ebensowenig verzichtet Adorno auf das "Postulat der Durchbildung", und sei es auch nur, daß die "formende Hand dem Material am zartesten nachtastet"(27). Die Tradition des Organismus-Gedankens bleibt selbst bei des­sen scharfer Problematisierung als Widerstand gegen die leta­len Male des Werks wirksam. Bis zuletzt wird die Idee des "spekulativen Ohrs" als die reflexiv-mimetische Fähigkeit des artistischen Sensoriums festgehalten. So heißt es 1966 über die "Objektivität" der "jungen Komponisten", sie behielte die "Spur des Willens derselben Subjektivität, die sich dabei ausschloß, die Spur von Zufälligkeit und Unverbindlichkeit"(28). Im extremen Nominalismus der zeitgenössischen Musik sei hingegen immer noch, wenn auch als einzige, die zunehmend eliminierte

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Möglichkeit der Selbstversenkung des Gehörs in die idiomatischen, übergreifenden Momente (offen), deren Reservoir das Subjekt ist. (...) Formgefühl heißt: der Musik dorthin nachhorchen, wohin sie von sich aus will; (...) Dazu bedarf es aber der äußersten subjektiven Anspannung. Das spekula­tive Ohr ist das einzige Organ der unverbürgten Objektivität.(29)

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Die Intention, im "Vorrang des Objekts" diesem mimetisch beizustehen, setzt Adorno gegen die Systemgewalt heteronomer Prinzipien, die als kompositorische Entlastungsmomente die Imagination aufkündigen und sich damit in ihrem Totalitätsan­spruch als partikular erweisen. Zu groß ist Adornos Bedenken vor der positivistischen Erstarrung, als daß er auf die Per­manenz des Subjekt-Ingeniums verzichten könnte. Ein Werk aber, das den Rätselcharakter seiner Schrift aufkündigt, ist für Adorno letztlich auch eines, das die Negation des Sinns nicht mehr als sinnvoll formuliert respektive seine Sinnleere als sinnvoll affirmiert. Denn "im Kunstwerk hat die Negation des Sinnes ihr Recht einzig als ihrerseits sinnvolle"(30). Sol­cher Perspektive nach ist Adornos Positivismuskritik eine der Tautologie des Faktischen(31). Bedarf Kunst stets des "ihr He­terogenen, um es zu werden", so wird "der Gegensatz des Kunstwerks zur Objektsphäre (...) produktiv, das Werk authen­tisch allein dort, wo es diesen Gegensatz immanent aus­trägt"(32). Ginge der "Musik das expressive Moment, das eines Ausdrucks ohne festes Auszudrückendes einfach ab", "wäre der Schriftcharakter verloren. Das Werk regredierte (...) aufs Vorkünstlerische, es knisterte nicht mehr"(33). Zwar notiert Adorno zur "Dissoziation von Sinn und Ausdruck" in der neuen Musik, daß "Subjektivität" als der "Träger des Ausdrucks" in der traditionellen "nicht dessen letztes Substrat" sei: "wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hinaus"(34). Dennoch thematisiert Adorno als äußerste Grenze der Avantgarde den möglichen Indifferenzpunkt von Positivismus und Utopie im Moment des Bilderlosen: ein Menetekel des Tilgens und Verlöschens der Subjektspur im kollabierenden Ineinanderstürzen der Extreme und ihrem Verschwinden im Zwielicht des Geschichtslosen. Korreliert doch die Aura des Bilderlosen als das große ästhetische Versprechen im Schriftcharakter der jüngsten Moderne einer "bilderlosen Realität". Sie aber ist das "vollendete Widerspiel des bilderlosen Zustands gewor­den", "in dem Kunst verschwände, weil die Utopie sich erfüllt hätte, die in jedem Kunstwerk sich chiffriert"(35). Kein Künstler jedoch "kann mehr vorwegnehmend das Antagonistische zum Sinn versammeln, so wie die gleichzeitige, verhärtete Gesellschaft kein Potential einer richtigen absehen läßt. Die Kraft des Einspruchs hat sich zusammengezogen in die sprachlose, bilderlose Gebärde"(36). "Nur durchs bilderlose Bild der Ent­menschlichung" hält die neue Musik das "Bild eines Menschli­chen" fest(37).

       Fraglich bleibt für Adorno, ob sich die vom Entsetzen stig­matisierte Physiognomie des Standhaltens der neuen Kunst lö­sen kann, ohne zur grinsenden Grimasse zu werden: angesichts des Grauens von Auschwitz und der obszönen Gleichzeitigkeit der gesellschaftlichen Antagonismen eine Physiognomie der "geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähne"(38). Denn "um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke (...) jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz"(39). Wenngleich Adorno einräumt, daß in der "Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze (...) mit sich führt", "auch das Gedichtete, Gemalte, Komponierte (verarmt)"; ja daß die "schwarze Kunst Züge (trägt)", die in ihrer Endgültigkeit die "geschichtliche Verzweiflung besie­gelten" und deshalb von der Perspektive einer befreiten Ge­sellschaft her "ephemer" sein mögen, bleibt für ihn das "Unrecht, das alle heitere Kunst, vollends die der Unterhal­tung begeht, (...) eines an den Toten, am akkumulierten und sprachlosen Schmerz"(40).

      Dieser Gedanke führt ins Zentrum Adornoscher Ästhetik, zumal in das seiner Philosophie der Musik. Denn für Adorno bleibt die unabdingbare Dialektik zwischen der kompositori­schen Imagination und der Mnemonik des Werks der archimedi­sche Punkt seines Denkens: als Schärfung der Mnemonik zu zi­vilisationskritischer Anamnesis und Mnemosyne aus dem Geist der Faktur gegen die Verdinglichung im Vergessen. Ist doch "alle Verdinglichung (...) ein Vergessen"(41), "inhuman" darin, "weil das akkumulierte Leiden vergessen wird"(42). Das Stigma einer letalen Lethe kennzeichnet das Wesen einer zur Ge­schichtslosigkeit tendierenden instrumentellen Vernunft, die die "Kraft zur Mnemosyne ein(büßt)". Am Ende wird gegenwarts­hörig "Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liqui­diert"(43). Deshalb reklamiert die Ästhetische Theorie den An­spruch des Eingedenkens für die Kunst als "Zuflucht des mime­tischen Verhaltens", als "Gedächtnis des akkumulierten Lei­dens"(45).

        Wie die Lähmung der Reflexion im Vereisen von Erfahrung so arbeitet für Adorno auch die Destruktion des Formgedächtnis­ses der Mortifikation des Vergessens zu: als Tilgung von Er­innerung und Antizipation über das Aussetzen zumal einer vom Subjekt her artikulierten musikalischen Zeit. Wohl kein Bei­spiel taucht in Adornos Musikschriften direkt oder in Anspie­lung so oft auf, wie das der Partitur eines jungen Komponi­sten, die in ihrer mathematisch durchkonstruierten Notwendig­keit den Kriterien qualitativer Zeitorganisation nach absolut sinnlos erschien(46). Adornos Begriff des musikalischen Sinns bleibt dagegen an die subjektiv reflektierte Instanz der Form gebunden; genauer: an die ethisch fundierte Mnemonik des Werkcharakters und ihre Brechung gesellschaftlicher Episteme. Das Kräfteparallelogramm des Werks entfaltet sich zwischen den Formanten Sprache, Subjekt, Zeit und Sinn. Entsprechend thematisiert die Einleitung in die Musiksoziologie die Diffe­renz zwischen der älteren neuen Musik, "in der das Leiden des Subjekts die affirmativen Konventionen abwirft, und der jüngsten, in der für dies Subjekt und sein Leiden schon kaum mehr Platz ist", in welcher "Angst" in "kaltes Grauen" umschlägt, "jenseits der Möglichkeit von Gefühl, Identifikation und lebendiger Zueignung"; in ein "Grauen" allerdings, das "präzis auf den gesellschaftlichen Zustand" reagiert. Solche "Abdankung des Subjekts" in der jüngsten Musik "verbirgt sich im formalen Apriori, der technischen Verfahrungsweise": als Triumph der heteronomen Struktur über das Besondere.

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So gewinnt die Rationalität ihr Irrationales, das katastrophisch Blinde. Unter der vorgedachten, zugleich opaken und widerstandslosen Allgemeinheit wird der hörende Mitvollzug (...) unmöglich. Die Zeitdimension, deren Gestaltung die überkommene musikalische Aufgabe war und in der rich­tiges Hören sich bewegte, wird aus der Zeitkunst virtuell eliminiert.

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Ebenso werden die

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bis heute geachteten Unterschiede von Musik, Dichtung und Malerei (...) herabgemindert, als wä­ren sie solche bloßer Stoffe; der Vorrang des Ganzen, der "Struktur", macht sich gleichgültig gegen die Materialien. (...) Vollkommene Integration (wird) dem Integrierten hart angetan, Herrschaft, nicht Versöhnung.(47)

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Ist Adornos Kritik an der "Abdankung" und "Austreibung" des "Subjekts"(48) soziologisch von der Erfahrung des NS-Faschismus und des Stalinismus, schließlich des autoritären Charakters und seiner Herdenmentalität in der modernen Massengesell­schaft nicht zu trennen, so bestimmt seine Philosophie des originären Werks ästhetisch eine Intention Hegels: die näm­lich, das Artefakt selbst als Subjekt zu begreifen. Die der Logik des Denkens verschwisterte mnemonische Kohärenz der Kompositionen aber, Garantin ihrer Logizität und Identität, hebt sich seit dem Verlust des gestischen Sprachcharakters der Musik auf. Cages aleatorische Verfahren insbesondere, aber auch - als Vermittlung von Notwendigkeit und Zufall - Boulez' Dritte Klaviersonate oder Stockhausens Klavierstück XI mit der Variabilität seiner neunzehn Formteile setzen mit der Kausalität des geschlossenen Werks zugleich dessen Einma­ligkeit außer Kraft. Die auktoriale Schöpfungsrelation zwi­schen Werk und Komponist kommt an ihr Ende. Nach 1945 trans­formiert die Avantgarde gerade die possessive Mnemonik des tonalen Formgedächtnisses als eine Spur des "Ich denke", das "alle meine Vorstellungen (muß) begleiten können"(49), und ihre gewichtige Rolle noch in der Zwölftonkomposition zu einer zu­nehmend akausalen Energetik.

     Adorno ist sich gleichwohl bewußt gewesen, wie sehr monotheistische Relikte in der Regie des künstlerischen Au­tors wirksam sind; wie sehr ein ethisches Moment über die Me­thoden der Schlüssigkeit als säkularisierter göttlicher Blick des ästhetischen Produzenten in die Stimmigkeit der rechten Form eingeht und wie sehr die Mnemonik als Selbstreflexion des werkhaften Subjektcharakters Züge des Zwanghaften trägt. Damit Musik der "Norm von Logizität"( genüge,

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muß sie danach trachten, gänzlich zu stimmen, lückenlos sich zu fügen, Totalität zu werden. (...) Je dichter sie gewoben ist, je weniger ihre Organisation Einspruch und Abwendung des Gehörs duldet, um so autoritärer wird ihre eigene Erscheinung. Ihre absolute Bestimmtheit in sich selbst äh­nelt sie der Erscheinung des Absoluten an.(50)

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So hat "jede auf Totalität angelegte Musik (...) ihren theologischen Aspekt"(51). Adorno schärft hier den Organismus des Werks über den objektiven "innermusikalischen Zwang"(52) zur rhetorischen Diktatur des Unbedingten. Daß dessen Gewalt im Schein des Formintegrals immer auch suspendiert wird, betont Adorno allerdings ebenso entschieden. Anstelle zahlreicher prominenter Passagen mag dies eine weniger bekannte demonstrieren, die kunst- und gesellschaftstheoretische Axiome zur Engführung bringt.

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Die Organisation des musikalischen Kunstwerks, seine "Rationalität", ist zuinnerst selbst ein Tauschverhältnis (...). Die Moral des Kunstwerks, nichts schuldig zu bleiben, will den Wechsel honorieren, den der erste Takt unterschreibt. Homöostase wird zur Forderung immanenter ästhetischer Ökonomie. Analog wäre eine vom Tausch befreite Gesellschaft eine, die ihn zugleich insofern erfüllte, als sie nicht länger den Schwächeren im Tausch etwas vorenthielte; der vom Täuschen geheilte Tausch wäre Tausch nicht länger. Entschlüge Musik sich der Idee solcher Gerechtigkeit (...), so würde sie amorph, opferte Logik und Stimmigkeit und überantwortete sich dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität.(53)

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Zeitverhältnisse werden zu Schuldverhältnissen, die ästhetische Rechenschaftspflicht zur Ökonomie des Komponierten, die von der mimetischen Logizität des Werks im "Schein der Ver­söhnung"(54) der realen Pression enthoben wird. Es ist dies freilich auch eine der Stellen Adornos, die durch die Legie­rung von Ästhetik und Gesellschaftstheorie den Blick für weg­weisende Transformationen der neuen Musik verstellen und ver­hindern, die Aufhebung der rememorablen Mnemonik und ihrer Logik der Stimmigkeit als emanzipatorisches Potential wahrzu­nehmen.

     Zentrale Kompositionen der Avantgarde haben nämlich ge­zeigt, daß die ästhetische Leerstelle des Subjekts keineswegs mit dessen realer Entmündigung draußen, geschweige denn mit einem Zero an rezeptiver Phantasie und Reflexion gleichge­setzt werden muß. Vielmehr nimmt neue Musik, die diesen Namen verdient, die gesellschaftliche Polyphrenie bis hin zur De­territorialisierung des Subjekts auf, um sie in Richtung des­sen zu transzendieren, was Adorno einmal die "opferlose Nicht-Identität des Subjekts"(55) genannt hat. Wenn Cage, Feld­man oder Stockhausen Interpreten und Hörer freilassen, indem sie sie von der immer auch zwanghaften présence d'esprit des musikalischen Denkens nach dem Modell der logischen Kontroll- und Wachsamkeitsgebote entbinden, bedeutet das nicht automa­tisch eine vom mnemonischen Imperativ aus gewertete regres­sive Dekonzentration. Statt dessen wäre von einem "spekulativen Ohr" auch der Rezipienten zu reden(56). Zumal sich die Werke selbst, wie etwa die Structures Ia von Boulez und Cages Music of Changes, im Prozeß des Hörens ihres seri­ellen und aleatorischen Extrems entäußern und wechselseitig zu neuer Sprache und Expressivität umschlagen. Abgesehen da­von, daß wohl keine Musik ohne jeglichen Rest von Sprachähn­lichkeit und Subjektimpuls denkbar ist, muß sich ebensowenig eine zwangsläufige Relation zwischen dem gesellschaftlichen und musikalischen Systembegriff nach den Gesetzen einer Dia­lektik von Determination und Desintegration ergeben. Und zwar aufgrund eben jener Autonomie ästhetischer Mimesis, auf der Adorno stets bestanden hat. Denn mit der Entäußerung der Mi­mesis zur écriture verschlüsselt sich das Werk zwar zum mona­dischen Zeichen seiner selbst; es muß aber - entgegen Adornos kritischem Sinnbegriff - nicht zwangsläufig sinnlos werden als eine Affirmation des Sinnlosen. Es negiert lediglich einen Sinnbegriff, der sich selbst noch in seiner äußersten Problematisierung am expressiven Sprachmodell ausrichtet und dessen Verschwinden befreiende Kraft abspricht. Diese aber liegt zunächst darin, daß die bilderlosen Werke - und seien es die improvisatorischer Einmaligkeit - in ungeahnter Weise schön und erhaben zugleich zu werden vermögen, wenn Sie mir hier die Begrifflichkeit Kants gestatten. So können Feldmans Kompositionen durchaus gesellschaftskritisch als eine Musik am Rande des Verstummens gehört werden, nicht weniger jedoch, gerade ihrer esoterikfernen Askese wegen, als eine extrem me­ditativ, das heißt "bilderlos" gegen die Hierarchien der Zeit und der Klänge gespannte: gegen die mnemonischen Form-Impera­tive und die Subjektdramaturgie des okzidentalen Ich; im Sinn einer Kunst des intelligibel wie des somatisch Erhabenen, vom Druck der Empirie her wider deren Dissoziationsgewalt gerich­tet. Ähnlich wie das Adorno selbst für die Negation des Sub­jektmoments und seines Ausdrucks zum keineswegs Ausdruckslo­sen hin formuliert hat, sofern nicht "generell darüber zu urteilen (ist), ob einer, der mit allem Ausdruck tabula rasa macht, Lautsprecher verdinglichten Bewußtseins ist oder der sprachlose, ausdruckslose Ausdruck, der jenes denunziert". Kennt doch "authentische Kunst (...) den Ausdruck des Aus­druckslosen"(57).

     Deshalb kann auch eine nach Adornos Kriterien immanent sinn-, weil subjektlose Musik in ihrer ästhetisch verzauberten Ordnung durchaus dem Verwertungsexzeß der kapitalisierten Zeitverhältnisse und dem kulturindustriellen Unterhaltungsdelirium opponieren: als Moment einer Art Ritardandokultur gegen die Rastlosigkeit der Profitquanten, gegen die Verwechslung von Existenz und Ökonomie also und die Geiselnahme durch eine temporale Askese, die im utilitaristischen Früher und Später den Augenblick zum bloßen Durchgang zwischen toter Vergangenheit und blinder Zukunft entwertet. Entlarvende Kraft hat Adorno übrigens selbst einmal den "Exzentrizitäten der Schule Cages" attestiert, die "wie polemische Repliken auf die Expansion von Verwaltung bis in die Produktionsvorgänge hinein"(58) wirkten. Zusammen mit dem Moment des Bilderlosen aber signalisieren die von der Grammatik der Subjekt-Expression entbundenen Kompositionen vor allem das Ende einer Pseudo-Naturgeschichte der Musik, deren historisches Agens als die Geschichte des bürgerlichen Subjekts vergessen wurde. Zugleich ratifizieren sie - und zwar ohne regressive Entmischung in den bedeutendsten Manifestationen einer antihierarchisch sequentiellen Musik - die Auflösung des seit der Aufklärung etablierten Bündnisses von Ethik und Ästhetik mit seinem Signum der Katastrophe in der Moderne. Was heute ethisch gegen die Aphasien und Amnesien der Kommunikationsgesellschaft und gegen die tendenzielle Reduktion des einzelnen zur Schnittstelle im Patchwork der elektronischen Delegations- und Simulationszenarien den Impuls von Mnemosyne und Empathie bewahrt, korrespondiert ästhetisch nicht mehr der leidexpressiven Mnemonik des Subjekt-Ingeniums.

     Mitnichten jedoch kann der Odyssee der Adornoschen Refle­xion zwischen der Skylla der Affirmation und der Charybdis des Sinnlosen vorgeworfen werden, ihre Fahrt an irgendeiner Stelle falscher Sicherheiten wegen abgebrochen zu haben. Schließlich dekuvriert Adornos Ontologiekritik auch den Anan­kasmus des Denkens. Daß die "Gedanken" allein schon "ihrer reinen Form, der logischen Stringenz" nach unfrei sind: "Gewalt", "Zwang, dem Gedachten gegenüber ebenso wie dem Den­kenden"(59), entspricht Adornos Analyse der Gewalt ästhetischer Konstruktion. Wenn auch, ähnlich dem Verhältnis der Musik zum formalen Caput mortuum, Denken "ohne Zwangsmoment (...) über­haupt nicht sein (könnte)"(60). Schlüssig verfällt Adornos ge­nealogischem Blick auf Nietzsches Spur somit auch die Kategorie der Kausalität als ein "formallogisches Prinzip", das "Widerspruchslosigkeit (...) als Regel der materialen Er­kenntnis von Objekten"(61) unterstellt. Befreit vom mental fun­dierten Praxisfetischismus, des "Identitätszwangs ledig, entriete Denken" deshalb vielleicht sogar einmal der "Kausalität, die jenem Zwang nachgebildet ist"(62). Was hier im Licht der Utopie für den auf Konsequenzlogik vereidigten Be­reich von Begriff und Urteil hinein in Frage gestellt wird, kann jedoch gegen Adornos Bedenken als Vorschein um so eher die rational-mimetische Sphäre der Musik innovativ sprengen. Als eine eben durchaus variable, ja aleatorische "Schichtung der großen Formen aus Teilen, deren jeder tendenziell gleich nahe zum Mittelpunkt ist": Kairos einer Musik, "in der die Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks die musikalische Per­spektive, die Gestaltung nach Erwartung und Erinnerung über­wiegt"(63). So wie sich auch das "Omnia-ubique"-Modell im Sinn einer parataktischen Dehierarchisierung in Adornos Motiv des "Alles gleich nah zum Mittelpunkt" fortschreibt und über den ästhetischen Impuls mit zeitgenössischen künstlerischen Ten­denzen, vor allem der "Momentform" Stockhausens und ihrer Jetztzeit konvergiert: als eine adäquate Antwort der Moderne auf den Zerfall der subjektdramatischen Zeit(64). Nicht zuletzt könnte von Cage her mit und wider Adorno argumentiert werden, daß der Ausschluß des Irrationalen aus der strengen Rationa­lität der Musik selber einen Zug des Irrationalen trage.

     Der Aporie der Reflexion über Musik als einer zwischen dem Allgemeinheitssog des Begriffs und der Individuation des je besonderen Werks begegnen Adornos Schriften als ein obsessi­ves Sprechen im Horizont des Offenen, fragmentarisch und experimentell trotz ihrer leitmotivischen Konstanten. Darin zeigen seine Arbeiten eine Affinität zur musikalischen Avant­garde. Enthebt diese die überkommene Mnemonik der finalen Ökonomie, schließlich sogar der punktuellen kausalen Rudi­mente, so subvertiert Adornos konfiguratives Denken den szi­entifischen Richtigkeitskanon des Wissenschaftsideals ästhe­tisch, zumal die Argumentationsraster der In- und Deduktion und der Widerspruchsfreiheit. Es ist dies im Vergleich mit einem Impuls der neuen Musik der Versuch, das Kraftfeld einer freien Polyphonie zu realisieren, ohne nach Haupt- und Neben­stimmen zu werten. Nicht weniger latent wie die Kompositionen eines Cage oder Feldman inspiriert diesen antiautoritären, antihierarchischen Zug Adornos selbst wiederum die ethische Intention, vom mythischen Schuldzusammenhang repressiver Aus­schlußkriterien freizukommen. Mit existentieller Schärfe fin­det sich das im Porträt Thomas Manns ausgedrückt als die "Ahnung der Schuld", "daß man überhaupt ist, gleichsam ein Anderes, Mögliches um die eigene Wirklichkeit bringt, indem man seinen Platz einnimmt"(65). Diesem Ansatz nach ist Adornos Schreiben tatsächlich "Ketzerei", ein "Verstoß gegen die Or­thodoxie des Gedankens"(66): Memento eines radikal vielstimmi­gen Denkens wider die Selektionsgewalt des Verdrängens und Vergessens.

     Gegen Lyotards Adorno-Lektüre unter dem Signum einer "Dialektik in der Klemme"(67), die gerade auch die musikphilosophischen Schriften an den Beckettschen Punkt eines negati­ven Telos banne, müßte deshalb eher von Adornos sisypheischem Movens gesprochen werden, den ethischen Impuls ästhetischer Stimmigkeit rückhaltlos der Erosion des Denkens auszusetzen, ohne ihn aufzugeben. Von Adornos späten Arbeiten her wird deutlich, wie deren rhizomatisches Schreiben diesen Prozeß verstärkt, wie die Textur der Texte sich zunehmend selbst auflöst und immer wieder neu webt: Schreiben als eine Art Penelope-Gewebe also und damit eng verwandt einer der Aporien und Obsessionen moderner Kunst, die Balzacs Chef-d'oeuvre in­connu schon früh im Tableau einer hermetisch verdichteten peinture extatique und ihren im Rausch der Pentimenti bilderlos sich auslöschenden Übermalungen Gestalt werden ließ. Wichtig scheint mir dabei, daß sich in Adornos Denken gegen das Denken(68) auf subtile Weise eine allmähliche Bewegung von der Utopie zur Atopie vollzieht. Ähnlich wie in seiner Ana­lyse des bilderlosen Werks der Avantgarde der Rätselcharakter des Utopischen und der empirische Dingaspekt des Artefakts atopisch ineinander umschlagen(69). Der Ariadnefaden aber, der durch Adornos Sprachlabyrinth geleitet, ist der einer Melan­cholie am äußersten Rand des metaphysischen Diskurses, die dem Verlöschen des artistischen Subjekts im letzten Aufleuch­ten seines imaginativen Sensoriums gilt. So, wie Melancholie nicht minder in Adornos Versuch liegt, das "Ganze", das doch das "Unwahre" ist(70), zu denken, ohne es in der endlos-unend­lichen Vermittlung der partikularen Einzelurteile als Name fassen zu können.

     Gleich seinem unversöhnlichen Insistieren auf der Differenz im "Angesicht der Verzweiflung"(71) bleibt auch Adornos ästhe­tische Reflexion im Verdikt gegen die Sprachlosigkeit der "Kommunikation", das "universale Gesetz der Clichés"(72), und im exilierten Habitus des Überwinterns dem extremen Flucht­punkt der Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Man denke nur an Flauberts Motive des "Elfenbeinturms"(73) oder an Nietzsches Formenkreis vom "Pathos der Distanz"(74) und der "Einsamkeit"(75). So findet sich denn auch in der Fröhlichen Wissenschaft ein charakteristischer Aphorismus zur Kunst im Asyl der Moderne. "Für einen Frommen gibt es noch keine Ein­samkeit", heißt es hier,

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diese Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen tieferen Unterschied der gesamten Optik eines Künstlers als diesen: ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach "sich" -) hinblickt oder aber "die Welt vergessen hat": wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, - sie ruht auf dem Vergessen, sie ist die Musik des Vergessens(76).

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Bis in einzelne Motive hinein kommuniziert dieser Passus, wenn auch unterschiedlich vom artistischen Subjekt und von der Gesellschaft her akzentuiert, mit folgender exponierter Stelle aus der Philosophie der neuen Musik: "All ihr Glück" hat die neue Musik daran,

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das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen. Keiner will mit ihr etwas zu tun haben (...). Sie verhallt ungehört, ohne Echo. Schießt um die gehörte Musik die Zeit zum strahlenden Kristall zusammen, so fällt die ungehörte in die leere Zeit gleich einer verderblichen Kugel. Auf diese letzte Erfahrung hin (...) ist die neue Musik spontan angelegt, auf das absolute Vergessensein. Sie ist die wahre Flaschenpost(77).

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Wenn für Adorno ästhetische Form durch "Synthesis des Ge­formten (...) Setzung von Sinn" bedeutet, "noch wo Sinn in­haltlich verworfen wird"; wenn Kunst dieser Tendenz wegen "Theologie" bleibt und fraglich ist, ob sie nach deren Sturz und "ohne eine jede überhaupt möglich sei"(78); wenn schließ­lich am "Ende der Geschichte musikalischer Integration" im "Ideal integralen Komponierens" das "theologische Moment nackt gleichsam" hervortritt(79): dann kann die von Charles und Lyotard propagierte Musik der Zukunft im Namen Cages und mit dem Bankrott der überkommenen Werte und Hierarchien als heid­nisch gelten.

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Wie sollte man auch nach Cage die abgegriffenen Unterscheidungen Ton - Geräusch, "leichte" Musik - "ernste" Musik, ja auch Autor - Interpret, Produzent - Konsument aufrechterhalten? "Die" Musik ist nicht mehr eine schuldig machende Mnemotechnik mit elitärer oder theozentrischer Berufung, sondern eine gigantische Flut, eine maschinenhafte Flut, heidnisch, plebeiisch, mittelpunktslos (...): "Musica mundana". (...) Musikalisch sind die Stillen der Welt und die Stimmen der Welt. Kurz, in der Musik heute genießt man (...) in allen Richtungen, mit dem ganzen Körper, durch alle Welt - man genießt wie man früher sündigte: durch Tun und Unterlassung, durch Absicht und durch Zu­fall.(80)

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Überdies liegt das Pagane bei Cage im antimetaphysischen Impuls des Nicht-Wiederholbaren, Antirepetitiven und Unvorhersehbaren der aleatorischen Intention, während das Dauer und Gedächtnis stiftende Formelement der Wiederholung die "vergangene Gegenwart" immer auch "als Wahrheit und Idealität" bewahrt. "Das Wahre ist immer das, was sich wiederholen läßt", entgegen der "Nicht-Wiederholung", der "entschlossenen und rückkehrlosen Verausgabung im einzigen Male, das die Ge­genwart verbraucht"(81).

     Lyotard fordert deshalb eine "Musik der Intensitäten, eine Klangmaschine ohne Finalität", erlöst vom Pathos der Subjektdramaturgie; eine, nach Feldman, "Musik der Oberfläche, ohne Tiefe, die sich der Repräsentation entzieht"(82). Spürbar bleibt über die Zeitdifferenz hinweg die semantische Aura von Nietzsches Hymnus auf die moralferne "Leichtigkeit" der Musik Bizets und Offenbachs und ihren dionysischen élan vital. Und Nietzsches Name fällt denn auch bei Lyotard als Grenzbestim­mung der neuesten Musik:

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Der späte Nietzsche brauchte eine andere Musik: nicht mehr die von Schönberg-Adorno, sondern die von Cage oder die von Kagel. Ihn interessiert nicht mehr der kritische Charakter der Form, sondern das intensive Moment des Tones. Sein Problem besteht darin, das Material wieder aufzuwerten, d. h. den Standpunkt der Kritik (und der Paranoia bzw. der Dogmatik, die in jeder Kritik steckt) zu verlassen, um sich in Beziehung zur Realität den Gesichtspunkt der Affirmation zu eigen zu machen. Man muß die Auflösung der Formen und der Individuen in der sogenannten "Konsum"-Gesellschaft affirmieren und damit zugleich die Auflösung der Regelabstände, die aus der Musik eine Schrift gemacht haben, die den Ton in der Note unterdrückt haben, durch die der Klang, der Ton selbst verworfen wurde.(83)

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Gegen die Kategorie des Subjekts wie die Theorie des Ausdrucks und der entfremdeten Gesellschaft mit der  "Kunst als deren gequälten Zeugen"(84) setzt Lyotard auf einen ästheti­schen Potlatsch experimenteller Entfesselung ohne die Schuld der Differenz. Kann mit Adorno gefolgert werden, daß - gleich der Unmöglichkeit, Auschwitz irgendeinem Sinn von Geschichte einzuschreiben -, auch die "Wahrheit" der "avancierten Musik" eher darin aufgehoben sei, "durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft" zu dementieren, als "von sich aus positiven Sinnes mächtig"(85) zu sein, dann wird Adornos negative Differenzbestimmung der Sinnleere und des Sinnlosen von Cage und Lyotard als "metaphysische Hinterwelt" verworfen: ein Verwerfungsgestus, der der Bejahungsfigur Nietzsches ebenso verwandt ist wie der zenbuddhistischen Loslösung vom Hierarchiesog und von den Ausschlußstrategien des Sinns(86). Daß mit dem Schwinden der Souveränität des Subjekts und seiner Inszenierung "die tragische Gebärde komisch dünkt und die Komik trübselig"(87), konstatiert auch Adorno. Für ihn changiert deshalb jedoch die zeitgenössische Kunst mit ihrer Tendenz zu einer Kunst jenseits der Dichotomie von "Glück" und "Unheil" zwischen "Versöhnung" und "Entsetzen" kraft der "vollendeten Entzauberung der Welt"(88). Auch wenn die gegen Daseinsapotheosen wie Leidensapologien gleicherweise gerichtete "Kunst ins Unbekannte hinein" die "einzig noch mögliche" ist, "weder heiter noch ernst", bleibt für Adorno das "Dritte (...) zugehängt, so, als wäre es dem Nichts eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke beschreiben"(89). Dieses Dritte aber wollen Cage und Lyotard enthüllt wissen: als eine musica revelata der flottierenden Energien jenseits von Gut und Böse.

     Mit dem Wahrheitsgehalt der Werke als der gesellschaftlich gebrochenen Reflexion der zivilisatorischen Stigmata schwin­det der ethische Index von Musik nach dem Maß des Richtigen und Falschen unter "Zusammenbruch aller Kriterien für gute oder schlechte Musik"(90). Musik inmitten einer rein innerwelt­lichen Szenerie, einer Immanenz ohne Transzendenz und sei es die der Idee einer befreiten Gesellschaft, muß sich wohl nach dem Konkurs der metaphysischen Orientierungs- und Sicherungs­instanzen einer repräsentanzlosen Intensität im Sinne Lyo­tards stellen. Mit dem Wegfall der am diagnostischen Geist orientierten Qualitätskriterien zugunsten eines ästhetischen "Gewähren-" und "Produzieren-Lassens"(91), schließlich einer lebensphilosophischen Attitüde des "Lassens"(92) überhaupt, droht Musik allerdings über den antiasketischen Triebgrund der Affirmation und des Genusses bei Lyotard und Charles wi­der Willen in den monadischen Konsumbereich eines Zu-sich-selber-Findens abzudriften. Daß so vieles an neuer Musik harmlos, ja ästhetisch zurückgeblieben wirkt, nimmt deshalb wohl am stärksten für die Kompromißlosigkeit der Musikphilo­sophie Adornos und die von ihr protegierte Musik ein, schei­nen seine Kategorien für die Postmoderne-Diskussion auch noch so irrelevant geworden zu sein.

     Vielleicht spricht indes für das Wagnis der Moderne im ver­wandelnden Überschreiten des Postulats der "Klage"(93) und des "Odiums der Entmenschlichung"(94) am nachaltigsten, daß der Druck des universalen Leidens auch lähmen und damit dem Be­stehenden zuarbeiten kann, wie Adorno selbst dies des öfteren eingeräumt hat. Denn

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nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit. So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen. Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich ver­sagen(95).

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Schließlich kann sogar der 'falsche Reichtum'(96) des Pluralis­mus als ein zweideutiges signum demonstrativum gewertet wer­den:

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Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren sie (sc. die Menschen) die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, daß damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert. (...) Die totale Vergesellschaftung brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne daß bis heute zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Befreiung.(97)

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Angesichts der aktuellen Situation gewinnt deshalb die Kon­stellation eines zentralen Satzes aus Hegels Ästhetik, zugleich Motto der Philosophie der neuen Musik, an Brisanz: ob am Ende des metaphysischen Zeitalters die hedonistisch-kritische Spannung der Kunst zwischen einer "Entfaltung der Wahrheit" und einem "bloß angenehmen oder nützlichen Spiel­werk" nicht zugunsten des letzteren eingezogen werde. Ein Weg des Kompromisses im Sog der Kulturindustrie scheint ausge­schlossen, soll die Rede von Musik noch einen Sinn haben. Al­lerdings wäre hinsichtlich der Zuspitzungen neuerer französi­scher Musikästhetik und ihrer von Nietzsche ererbten Dialek­tik-Idiosynkrasie weniger auf eine Musik des Vergessens(98) zu setzen als auf eine der bewußten Transgression der expressiv-gestischen Mnemonik, ohne einer solchen Musik den Makel des Sinnlosen zuzusprechen. Repräsentiert die gestische Mnemonik zeitgenössischer Neo-Expressionismen immer noch die schal ge­wordenen Charaktere jener egozentrischen Verfügungs- und Ak­kumulationsidentität, die eine zur mentalen Okkupation und Kontrolle verinnerlichte und in ihren kapitalisierten Allmachtsphantasien pervers gewordene, wenngleich besessen natu­ralisierte und stabilisierte Ideologie des Eigentums grun­diert, dann nähert sich große neue Musik in der Aufhebung des possessiven Habitus dem, was Adorno als die künstlerische Utopie heute bezeichnet hat: der eben, "Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind"(99).

    Zu leisten wäre deshalb nichts weniger als eine Philosophie der neuesten Musik auf dem Niveau der Adornoschen neuen. Eine Reflexion also, die einer Musik außerhalb des Monopols der Subjekt-Mnemonik gerecht würde, ohne sich den Zweifeln Adornos zu verschließen. Sie hätte zu sondieren, wie sich die Rätselschrift der Kompositionen nach dem Zerfall des Subjekt­pathos zur Konzeption einer "Musik als Ernstfall"(100) verhält und welche Konsequenzen sich daraus für den Wahrheitsgehalt der Werke ergeben. Wandeln sich diese als Objektivationen ei­nes "nicht länger synthesierenden Ich"(101) zu einer Art belangloser Konfektionsmusik? Oder liegt im "Bruch" zwischen dem Werk und "allem Bezeichneten"(102) die Möglichkeit einer Entgrenzung, die die Strangulationen der Verdinglichung zumindest punktuell zu subvertieren vermag? Schließlich wäre unter Anlehnung an ein Motiv aus den Hegel-Studien(103) zu fragen, was der Pluralismus der musikalischen Gegenwart vor Adorno bedeutet. Läßt sich darin eine neue ästhetische Freiheit erkennen oder bleibt diese lediglich dem neohistoristischen Verwertungsrapport des "Alles ist erlaubt und möglich" hörig?

     Es wird sich zeigen, ob künftige Musik den ethisch inspiierten Anspruch der tradierten im Bewußtsein unerlöster Geschichte transformieren kann, ohne zur Klang- und Geräuschku­lisse eines Brave New World-Sounds zu regredieren. Für Adorno beträfe das den Anspruch von Wahrheit selbst. Ist doch das "Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, (...) Bedingung aller Wahrheit"(104). Mag sein, daß mit dem Zerfall der Trinität des Guten, Wahren, Schönen auf ihrer äußersten Spitze die Ar­tefakte immer mehr die Inszenierung von Selbstdarstellungen zelebrieren; mag sein, daß mit dem Begriff einer ethisch fun­dierten Ästhetik auch der einer musikalischen Avantgarde sensu stricto verschwindet: nach wie vor dürfte mit Adorno eine Konstante der Qualität der Werke wie des ästhetischen Urteils im Sensorium für die Dissonanzen der zivilisatori­schen marche du progrès liegen. Ohne daß neue Musik im Ver­trauen auf ihre Energien der Verwandlung und des "Bilderlo­sen" weiterhin auf die Expression des Leidens einzuschwören wäre, basiert dieses Sensorium als "Korrektiv" des "verding­lichten Bewußtseins"(105) und seines "Erfahrungsverlusts"(106) im universalen Fanatismus und Konkretismus der "Verwertung des Werts"(107) auf dem mimetischen Verhalten des "vom Anderen Angerührtseins"(108); letztlich auf einer Empathie ohne das Pathos der Maxime und auf der Offenheit für die Differenz zu dem, was ist. Diese Offenheit und ihr kritisches Agens, das sich inmitten einer beängstigend apolitischen Zeit der Restauration an einer Praxis gegen die autoritären Funktionsmuster der Macht auszuweisen hätte, verliert sich aber mit der schwindenden Oppositionskraft der einzelnen. Und mit ihr die Sensibilität für die von der Surplus-Ökonomie des Mangels verhängte agonale Agonie, die das Dasein über den Saturiertheitspegel des Etablierten hinaus bis ins Innerste unter das Diktat des Profitablen zwingt; eine Sensibilität, die ange­sichts der Panzerungen aus Opportunismus und Ressentiment und der panischen Volte der Verdrängung samt ihrer Funktionsren­dite im "stahlharten Gehäuse"(109) des machinalen Lebens immer seltener zu werden scheint. All dies aber bleibt der ästheti­schen Sphäre nicht äußerlich.

     Vielleicht liegt vorerst eine entscheidende Erkenntnis in der Auseinandersetzung mit Adorno darin, daß der postulatori­sche und regulative Anspruch der Ästhetik vergangen ist. Das mag, wie in anderer Weise der bürokratische Akt von Ethikkom­missionen im Dirigismus des verwalteten Lebens, ein Licht auf die Situation von Ethik insgesamt werfen. Ist aber Adornos Philosophie eine des Abschieds, dann weniger aufgrund ihres Zeitkerns als aufgrund des Skandalons, daß die Zeugenschaft Adornos nicht mehr ertragen wird.

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Anmerkungen

 

     1  Vgl. Adorno, GS 16, S. 402, 633ff.

     2  Vgl. Adorno, GS 7, S. 121f., 125, 189, 193, 425.

     3  Adorno, GS 16, S. 635.

     4  Adorno, GS 7, S. 387.

     5  Adorno, GS 16, S. 141.

     6  Adorno, GS 4, S. 163.

     7  Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt/M. 1987, S. 26.

     8  Ebd., S. 25.

     9  Ebd., S. 41.

   10  Adorno, GS 16, S. 634.

   11  Ebd., S. 634ff.

   12  Adorno, GS 12, S. 126.

   13  Ebd.

   14  Adorno, GS 7, S. 121.

   15  Adorno, GS 17, S. 289.

   16  Adorno, GS 10,1, S. 450.

   17  Adorno, GS 12, S. 118f.

   18  Ebd., S. 125.

   19  Ebd., S. 124.

   20  Ebd., S. 125.

   21  Adorno, GS 16, S. 540.

   22  Vgl. Adorno, GS 6, S. 184ff.; GS 7, S. 252f., 382ff.; GS 10,2, S. 746ff.

   23  Adorno, GS 18, S. 162.

   24  Vgl. Adorno, GS 7, S. 234; GS 14, S. 379; GS 16, S. 237; GS 17, S. 270f.

   25  Vgl. Adorno, GS 3, S. 295. So ist wohl auch Adornos Verhältnis zu Cages Concert for Piano and Orchestra im Zeichen ei­ner 

Faszination des Unheimlichen zu begreifen; als das attraktiv-repulsive Wechselspiel von 'Anziehung' und 'Abstoßung', um auf Kants Ästhetik des Erhabenen als die einer "negativen Lust" zu rekurrieren (Immanuel Kant, Kritik der Urteils­kraft, Werke in zwölf Bänden, Hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. X, S. 165).

   26  Adorno, GS 7, S. 329.

   27  Ebd., S. 436. Diesem Materialbegriff nach stellt Adorno das notenschriftlich fixierte Werk der Musik seit Bach in den Mittel-

punkt seiner Ästhetik. Für ihn bleibt - im Mißtrauen gegen die Improvisationsmodelle der neuen Musik, geschweige denn des Jazz -  der Geist der Kompositionen an die Schriftlogik der Notation gebunden: "Ohne Schrift keine hochorga­nisierte Musik; der historische Unterschied von Improvisation und musica composita fällt qualitativ mit dem des Laxen und des verbindlich Artikulierten zusammen" (GS 16, S. 632; vgl. auch ebd., S. 516f.). Abgesehen von Adornos These, daß keine Musik vor Palestrina, vielleicht sogar vor Monteverdi mehr "unmittelbar aufgefaßt werden kann" (GS 19, S. 616), weist Adorno der Epoche von 1600-1750 mit Ausnahme Monteverdis, Scarlattis, Bachs und Pergolesis den Charak­ter des "Langweiligen" zu (GS 18, S. 51). An einer Stelle spricht er gar davon, daß für Berg "wie für jeden anständigen Musiker (...) die eigentliche Musik eben doch mit Bach an(fing)" (ebd., S. 494).

   28  Adorno, GS 16, S. 626.

   29  Ebd.

   30  Ebd., S. 618. Gleichwohl nach Adorno die "Geschichte der neuen Kunst" eine von "metaphysischem Sinnverlust" ist, kann 

dieser Verlust doch "nicht ihr letztes Wort bleiben" (Adorno, GS 10,1, S. 449f.). Allein schon aus dem Grund nicht, als sich jedes Kunstwerk noch in der Sabotage seines Sinns wiederum zum Sinnzusammenhang konfiguriert. Ästhe­tisch artikulierte Sinnlosigkeit wird nach Art eines geschlossenen Systems von der Gravitation des Sinns aufgesaugt. Wichtig ist in diesem Kontext Adornos doppelter Sinnbegriff, der zwischen der Idee des Sinns als einer positivistischen Affirmation des Sinnlosen und dessen kritischer Reflexion unterscheidet. Auf ihm basiert Adornos konträre Wertung von Sinn und  Sinnlosigkeit bei Strawinsky und Beckett.

   31 Im Bereich neuerer Musik liefert die Minimal Music Beispiele einer Tautologie des ästhetischen Positivismus. Etwa Philip Glass'

Knee play no. 2, dessenStereotypie Muster einer alten Technik repetiert und gegen ihre als meditativ sich verken­nende Intention bestenfalls den zeitlichen Erwartungshorizont etwas verstört, ansonsten aber eine Komposition schlecht unendlicher Sequenzen zum belanglosen Quietiv zerdehnt.

   32  Adorno, GS 10,1, S. 439f.

   33  Adorno, GS 16, S. 635.

   34  Adorno, GS 12, S. 122.

   35  Adorno, GS 10,1, S. 452f.

   36  Adorno, GS 14, S. 380.

   37  Adorno, GS 16, S. 482.

   38  Adorno, GS 7, S. 475.

   39  Ebd., S. 65.

   40  Ebd., S. 65f. Konsequenterweise schärft sich der Konflikt zwischen ernster und heiterer Musik zu einem Zeitpunkt, als die

gesellschaftliche Realität und ihr Emanzipationsversprechen drastisch auseinanderzuklaffen beginnen. So auf höchstem Niveau in den Kompositionen Beethovens und Rossinis während der 1820er Jahre: als eine Spannung zwischen dem ethi­schen Imperativ des Formgedächtnisses, genauer: der Legierung von Finalität und Ethos, und der virtuosen Artistik des Divertissements (vgl. dazu Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung, Annotationen zu Beethovens Neunter Sympho­nie, Pfaffenweiler 1992, S. 190f.). Allerdings nicht ohne den Preis eines ethischen Rigorismus bei Beethoven, auf dessen Gewalt Adorno verweist. Ähnlich wie in Hegels System gilt Beethovens Musik der esprit de sérénité gegenüber dem esprit de sérieux als quantité négligeable. - Zur Bedeutung der zentralen Kategorien "Ernst", "Konzentration", "Gedächtnis" und "Anstrengung" in Adornos Theorie der neuen Musik sowie zur erosbetonten Lesart dieser Begriffe von der Imaginationskraft des "spekulativen Ohrs" her (es ist von "Phantasie" und "Liebe" die Rede) vgl. Adorno, GS 17, S. 288ff.

  41  Adorno, GS 3, S. 263.

  42  Adorno, GS 10,1, S. 315.

  43  Adorno, GS 8, S. 230f.

  44  Adorno, GS 7, S. 86.

  45  Ebd., S. 387.

  46  Vgl. z. B.  GS 7, S. 214f.; GS 14, S. 161; GS 16, S. 234ff., 504; GS 17, S. 269; Disput zwischen Theodor W. Adorno und 

Heinz-Klaus Metzger, in: Metzger, Musik wozu. Literatur zu Noten, Hg. Rainer Riehn, Frankfurt/M. 1980, S. 96, 103.

  47  Adorno, GS 14, S. 378. Adornos Kritik an der Heteronomie des Allgemeinen, sei es der Subsumtionslogik oder der seriellen 

Einheitsmanie, verbindet sich mit einem antimythischen Motiv, vergleichbar dem des Hölderlinschen "Unterschiedenes ist gut". Deshalb bleibt Adorno auch trotz seiner Analyse des dialektischen Wechselverhältnisses von Kunst und Künsten deren Vermischungstendenzen in der Moderne gegenüber skeptisch: im Sinn einer Kritik am "falschen Untergang der Kunst" (vgl. GS 10,1, S. 452; GS 16, S. 128f.). Zur Bedeutung des Theorems von der "Verfransung der Künste" bei Adorno vgl. Christine Eichel, Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste. Perspektiven einer interdisziplinären Ästhetik im Spätwerk Theodor W. Adornos, Frankfurt/M. 1993.

  48  Vgl. z. B. GS 7, S. 261; GS 12, S. 145ff.; GS 14, S. 161, 378ff.; GS 17, S. 269; GS 18, S. 132, 146, 162.

  49  Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hg. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 140 (Hvhbg. J. B.).

  50  Adorno, GS 16, S. 461.

  51  Ebd.

  52  Ebd., S. 462.

  53  Ebd., S. 225.

  54  Ebd.

  55  Adorno, GS 6, S. 277.

  56  Zur Bedeutung des von Adorno eher en passant behandelten Rezipientenstatus in der modernen Kunst vgl. auch Albrecht

Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/M. 1985, S. 103f.

  57  Adorno, GS 7, S. 179. Vgl. auch GS 10,1, S. 163; GS 14, S. 157.

  58  Adorno, GS 14, S. 393.

  59  Adorno, GS 6, S. 232.

  60  Ebd.

  61  Ebd.

  62  Ebd.

  63  Adorno, GS 16, S. 662.

  64  Zu Adornos Figur des "Alles gleich nah zum Mittelpunkt" vgl. Johannes Bauer, Sphinx und Ödipus. Subjekt und Sy­stem in 

Adornos Musikästhetik, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschafts­theorie Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995. An dieser Stelle sei lediglich auf den dialektisch-zweiwertigen Gebrauch dieses Topos bei Adorno verwiesen. Einerseits reflektiert er unter Rekurs auf den Determinationsaspekt der Zwölftonkom­position den Bann letaler Statik und steht damit in Affinität zum Diktum der Negativen Dialektik, in der "totalen Ge­sellschaft" sei "alles gleich nah zum Mittelpunkt" (GS 6, S. 265). Entsprechend der "durchvergesellschafteten Gesell­schaft" (GS 8, S. 59) ratifiziert hier das komponierte "Gleich nahe zum Mittelpunkt" unter Aufhebung des "Unterschieds von Essentiellem und Akzidentellem" die Negation von "Entwicklung" (GS 12, S. 61). Wobei sich die Insistenz auf der qualitativen Artikulation musikalischer Zeit erneut als eines der Zentren Adornoscher Musikphilosophie erweist. Daß beim späten Schönberg "nicht länger dem Kontinuum der subjektiven Erlebniszeit die Kraft zugetraut (wird), musikalische Ereignisse zusammenzufassen und als ihre Einheit ihnen Sinn zu verleihen", "tötet die musikalische Dynamik". Musik bewältigt die Zeit, indem sie sie "durch die allgegenwärtige Konstruktion verneint"; "Bild einer Ver­fassung der Welt, die, zum Guten oder Argen, Geschichte nicht mehr kennt" (GS 12, S. 62). Ähnlich "gefriert" die neue Musik nach Schönberg immer mehr "zur Statik". "Absehbar wird eine Musik der gesellschaftlichen Entropie" (GS 14, S. 381). Andererseits aber öffnet Adorno gemäß seinem Theorem von der "vollendeten Negativität" als der "Spiegelschrift ihres Gegenteils" (GS 4, S. 281) und in Auseinandersetzung mit der Avantgarde, etwa mit Boulez, sowie gerade unter Berufung auf Schönberg das Motiv des "Gleich nah zum Zentrum" auf die Intensität eines neuen Zeitmodells als eine Veränderung der gesamten Musiksprache hin (GS 16, S. 663; vgl. auch ebd., S. 589 und 623). Daß im ersten Satz von Schönbergs Viertem Quartett "jeder Takt (...) gleich nahe zum Zentrum" ist, "vergleichbar der Erwartung, wo alles dieselbe Intensität ausstrahlt" (ebd., S. 623), wertet Adorno 1966, anders als in der Philosophie der neuen Musik, in Richtung der "Idee einer integralen Form" und ihrer immanenten Autonomie (ebd., S. 623f.).

  65  Adorno, GS 11, S. 343. Vgl. auch GS 6, S. 357.

  66  Adorno, GS 11, S. 33.

  67  Jean-François Lyotard, Intensitäten, Berlin o. J., S. 54.

  68  Vgl. etwa Adorno, GS 6, S. 62, 152, 358; GS 11, S. 32.

  69  Entsprechend wird bei der Diskussion des Verfransungstheorems Adornos Leitmotiv zur zeitgenössischen künstlerischen 

Praxis auf den kunstzersetzenden Sog des faktischen Dingmodus hin transparent: "Die Verfransung der Kunstgattungen begleitet fast stets einen Griff der Gebilde nach der außerästhetischen Realität. Er gerade ist dem Prinzip von deren Ab­bildung strikt entgegengesetzt. Je mehr eine Gattung von dem in sich hineinläßt, was ihr immanentes Kontinuum nicht in sich enthält, desto mehr partizipiert sie am ihr Fremden, Dinghaften, anstatt es nachzuahmen. Sie wird virtuell zum Ding unter Dingen, zu jenem, von dem wir nicht wissen, was es ist" (Adorno, GS 10,1, S. 450).

  70  Adorno, GS 4, S. 55.

  71  Ebd., S. 281.

  72  Adorno, GS 11, S. 307.

  73  Gustave Flaubert, Briefe, Hg. Helmut Scheffel, Zürich 1977, S. 195.

  74  Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Hgg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München,

Berlin, New York 1980, Bd. 6, S. 218.

  75  Etwa in den Zarathustra-Passagen von Ecce homo, KSA 6, S. 335ff.

  76  Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 616.

  77  Adorno, GS 12, S. 126.

  78  Adorno, GS 7, S. 403.

  79  Adorno, GS 16, S. 461.

  80  Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los, Berlin 1979, S. 481 

  81  Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972, S. 373. - Übrigens treffen sich vom metaphysikkritischen Stand-

punkt aus Derridas Artaud-Reflexionen mit Adornos Überlegungen zur Reprise und deren Affinität zum Moment des Statischen in Hegels Philosophie. Auch bei Adorno ergeben sich Zusammenhänge zwischen den Struktiven "Sinn" (GS 14, S. 412.), "Theodizee des Seienden" (GS 13, S. 241.), 'Affirmation' (GS 14, S. 412) und jenem Prinzip der Wie­derholung, das sich in Szene setzt, als wäre es "kraft seiner bloßen Wiederkehr (...) der metaphysische Sinn selber, die >Idee<" (GS 13, S. 241).

  82  Lyotard, Intensitäten, Berlin, o. J., S. 45.

  83  Ebd., S. 27f.

  84  Ebd.

  85  Adorno, GS 12, S. 28.

  86  "Wir wollen dieses Leben bejahen", heißt es in Cages Silence, "nicht Ordnung aus dem Chaos gewinnen oder Vorschläge zur 

Verbesserung der Schöpfung machen (...)". Natürlich hat dieser Gestus nichts mit zynischer Borniertheit zu tun, wenngleich er angesichts der realen Katastrophen immer auch Züge des Affirmativen und Privatistischen tragen muß.

  87  Adorno, GS 11, S. 606.

  88  Ebd.

  89  Ebd.

  90  Adorno, GS 12, S. 17.

  91  Lyotard, Intensitäten, S. 28.

  92  Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 939ff.

  93  Adorno, GS 12, S. 119.

  94  Adorno, GS 16, S. 482.

  95  Adorno, GS 6, S. 396.

  96  Adorno, GS 16, S. 176f.

  97  Adorno, GS 6, S. 339f.

  98  Vgl. Charles, John Cage oder Die Musik ist los, S. 43, sowie Charles, La paume (de) la dent. Aufzeichnungen über Cage und

das Vergessen, in: Musik-Konzepte, Sonderband John Cage, München 1978, S. 41ff.

  99  Adorno, GS 16, S. 540, 634.

100  Ebd., S. 661.

101  Ebd., S. 635.

102  Ebd.

103  Adorno, GS 5, S. 251.

104  Adorno, GS 6, S. 29.

105  Adorno, GS 7, S. 488.

106  Ebd., S. 489.

107  Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW Bd. 23, S. 618.

108  Adorno, GS 7, S. 490.

109  Max Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I, Hamburg 1975, S. 188.

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