In einer Welt der Bestände und Speicher, der Informations- und Abbilddepots, der vernetzten Wachsamkeits-und Akkumulationsappelle, in einer Welt also, die sich als Tresor versteht, hat es das Flüchtige und Absichtslose, das Schwebende und Gleitende schwer. Der medial-digitale Zugriff ist seiner Intention nach zuinnerst fixierend, verfügend, terrestrisch, Ausdruck einer renditeversessenen Gesellschaft und darin das Gegenteil eines maritimen Sensoriums des Flüssigen, Flüchtigen, Grundlosen. Keinen sicheren Boden unter den Füßen haben, keine Dauerspuren des Besitzes gravieren können, dem Horizont des Offenen ausgesetzt sein: All dies ist zugleich der ästhetischen Imagination der Moderne verwandt, mehr jedenfalls als der Gründungs- und Begründungshabitus des Realitätsprinzips samt seiner Konkretions- und Vernutzungsmacht. Auch daraus dürfte eine der Bruchlinien zwischen der Kunst der Gegenwart und der Massenkultur resultieren. Die maritime Aufbruchsekstase Nietzsches und Baudelaires mit ihren Verlockungen des Freien, aber auch des unheimlich Grenzenlosen und Abgründigen führt direkt zu den Meeresapotheosen Debussys und Prousts. Debussys La Mer wäre demnach als eine Urszene Neuer Musik zu hören, als eine Musik gleich dem Meer, "die nicht wie die Sprache die Spur der Dinge trägt, uns nichts von den Menschen sagt, aber die Bewegungen unserer Seele nachahmt" (Proust, Freuden und Tage).
Mit dem bösen Blick der Theorie ist es nicht getan. Manchen Theorien zur Wirkung der neuen Medien wäre etwas mehr von einer Kunst des kleinsten argumentativen Übergangs zu wünschen – gegen theoretische Übereilungen. Etwas mehr von der Offenheit zum analytischen Moderato: gegen den teleologischen Schwung der Euphorie und gegen den der Apokalypse.
Der sanfte Wirklichkeitsterror: ein Verdampfen der Welt im Kult der Fakten.
Idealisierung: ein mnemotechnisches Verfahren, bei dem so viel vergessen werden muss.
In einer Welt des Imperativs zum lebenslangen Lernen kommt es nicht selten darauf an, das Lernen zu verlernen.
Wenn Walther Rathenau in seinen Reflexionen zur Mechanisierung der Welt konstatiert: "Kein verwickelterer und schwierigerer Beruf lässt sich in zivilisierten Ländern erdenken als der des Einsiedlers", dann wäre diese These von 1918 heute mit der Einsicht zu flankieren: Und keine genialere Kunst als die, Zeit angstfrei verlieren zu können.
Warum fällt es uns so schwer, weiter als bis zwei oder drei zu zählen? Weshalb lässt uns das magische Erbe des Dualismus und der dreifaltigen Dialektik nicht los? Warum denken wir immer noch und nur zu bereitwillig in Tag-Nacht-Kontrasten und verlieren darüber den Sinn für die Übergänge, für das Gleiten, für die Schwebe? Liegt darin das alte Erbe des ὠθισμός, des Agons, des Streits und der Konfrontation, mit dem sich nur zu gut in der Arena der Konkurrenzgesellschaft agieren lässt? Zählen wir als Funktionäre des Funktionalen also weiter als bis zur Zahl drei - zumindest zeitweise; auch wenn die binäre Logik in ihrer Reduktion von Komplexität auf theologisch-moralischen Spuren so überaus vorteilhaft, technisch effizient und praktikabel ist; auch wenn sie in einer Welt der Unübersichtlichkeit überschaubare Scheidungen und Wertungen verbürgt; auch wenn wir als Experten des Kampfes, erfahren im Arsenal der Widersprüche und Spaltungen, der Zweiheit, des Zwiespalt und der Verzweiflung, den Stand verlieren, sobald sich die Polaritäten im Strom der Verflüssigung zu transformieren und zu verwandeln beginnen.
Wie sehr das Phänomen Stress als eines der Zeitraffung noch in vermeintlich unscheinbaren Details gegenwärtig ist, beweist allein schon die TV-Unsitte, keine Sendung mehr - bis hin zu Schauspiel und Oper - ihr Ende finden zu lassen. Der Horror vacui vor Zäsuren erstickt jeden Schluss durch rigorose Schnitte und Überblendungen mit dem ungeduldigen Verweis auf Anderes, Kommendes. Ausdruck einer konkurrenzierenden Quoten- und Eingemeindungsgesellschaft, der Innehalten, Ausklingen, Atmen-Lassen als Zeit- und Vermarktungslecks verdächtig werden.
Zusammen mit dem Arbeitsprozess rastrieren die elektronischen Massenmedien als Taktgeber die Eigenzeit des Ichs. Auch hier genügt ein Blick auf die Programmschienen. Kein Thema ist zu komplex, dem nicht zumindest mit dem maximalen Zeitregelsatz von 55 Minuten beizukommen wäre. Reglementierte Zeitbudgets solcher Fasson sind Triumphe der Bürokratie und des Quételetschen Regelfalls über die Ausnahme, die erst durch den Regelfall zur Ausnahme wird, gestützt durch neurobiologische Gutachten, länger sei mit Aufmerksamkeit ohnehin nicht zu rechnen. Das Maß der kleinen Einheit zielt auf den umso größeren Konsum unterschiedlichster Erlebnisse. Indem solche Zeitgitter die subtilen Eigenzeiten von Menschen und Dingen zurechtstanzen, arbeiten sie einer Zeitbühne zu, die mit dem Erlebnis das Ereignis außer Kraft setzt. Es handelt sich um Ego-Bühnen, deren schnelle Sucht nach dem Event das Wartenkönnen auf ein Angesprochenwerden verhindert. Kommunikation wäre ein anderer Ausdruck für diese Verhinderung. Über die Instant-Mentalität schnellstmöglichen Konsums wird das Panorama "Welt" dem ständigen Wiederfinden seiner selbst zu einem Universum der Einfühlung, dessen Phänomene immer nur innerhalb der Echoräume des Erlebens antworten, nie aber selbst sprechen können. Dabei verkennt das genießende Ich, dass es das, was es für sich fordert, nämlich es selbst zu sein, dem Anderen verweigert. Enteignet aber diese Eigenheit das, was anders ist als sie selbst, muss sie selbst auf eine Zeit der Öffnung hin zum Transsubjektiven enteignet werden. Vielleicht ist deshalb Neue Musik so häufig eine Musik jenseits des persönlichen Enthusiasmus, als eine der Entwöhnung vom Gewohnten.
Nähe und Distanz: sie zeigen sich auch in den Suizidforen des Internet und der zum Teil bis auf Ort und Stunde exakt präzisierten Ankündigung von Selbsttötungen, allerdings ohne eine letztendlich mögliche personale Identifizierung. Eine Art konkreter Anonymität.
Die Zeit des Aufschubs mit ihrer von Arbeitsleben und Alterssicherung enorm hypertrophierten und zugleich lebensperspektivisch gedämpften Zukunftsorientierung und die intensivierte Zeit der Beschleunigung produzieren eine Ökonomie der Beschneidung. Sie hat Auswirkungen auf das Sensorium der Sinne, zumal auf das Zeitempfinden als einer quantitativ verfassten Funktion von Beschleunigung, für die der Raum zunehmend zum Hindernis wird.
Vielleicht liegt in dieser Todesspur der Verflüchtigung ein Schlüssel für das Gefühl der Flüchtigkeit und damit des Fluchtmoments in der uns umgebenden Mobilität. Sicher liegt darin einer der Gründe, dass in der beschleunigten Konkurrenzgesellschaft die zwar präsente, doch unentwegt ins Private und hier wieder in ein betäubtes Angstbewusstsein verschobene Bürde des Sinnlosen, der Entfremdung und des Todes das Terrain für den elektronischen Kult des Medialen und für mediale Mythen ebnet: als nihilistischer Grund all dessen, wogegen sich noch Nietzsches Kraftakt im Entwurf des Übermenschen richtete.
(Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177b.4)
Wenn Aristoteles die Muße, die scholê (σχολή), so hoch schätzt, dass er sie mit der Eudämonie in Verbindung bringt, dann liegt in dieser Wertschätzung wohl einer der schärfsten Kontraste zum Lebensprinzip heutiger Gesellschaften: Je mehr Zeit in Geld verrechnet wird, umso weniger bleibt Zeit für die Zeit, umso weniger bleibt Zeit, um Zeit zu haben.
Die westliche Industriekultur und ihre als Erfolgsmodell weltweit exportierte Ökonomie der Rationalisierung ist primär eine Kultur der Akkumulation und des Gewinn bringenden Nutzens. Mit der Obsession des Homo oeconomicus erzeugt diese Kultur nicht selten eine Welt der Obstipation, eine Welt der falschen Fülle, eine Welt, deren massive, zudem medial potenzierte Zeitkompression massenhaft Depression erzeugt, während die Macht der Dinge dem Leben Leben aussaugt. Höchstes Prestige genießt, was produziert und damit konkretisiert und verdinglicht ist. Leere, Stille, Muße, jede Art von Verwertungsresistenz werden dieser Produktionslogik der Verwertung zu parasitären Hohlräumen, zu ungenutzten, nutzlosen und von der puritanischen Moral her ebenso sündig wie sträflich vernachlässigten Brachen. In diesem Überhören, Übersehen und Unbeachtet-Lassen des vermeintlich Nutzlosen praktizieren das moderne abendländische Bewusstsein und seine Realökonomie die Arroganz vom überlegenen Praxisprinzip des Nützlichen. Was könnte in einer Welt der rastlosen Produktion mehr beunruhigen als das Unverfügbare, das permanent verfügbar gemacht werden muss? Wäre deshalb nach Marx‘ Analyse des Tauschwerts die Aufmerksamkeit nicht verstärkt auf die Analyse des Gebrauchswerts, sprich auf die Bedürfnisse und ihre Manipulation zu richten?
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