top of page
AutorenbildJohannes Bauer

Stadtprosa

Aktualisiert: 20. Okt. 2020

SPURLOS


Wenn Blicke töten könnten wären unsere Städte leerer. Manche sterben auf ihrem Weg durch die Straßen mehrere Male. Diese visuellen Querschläger aus Anklage und Vernichtung, dieses blitzartige Stück Aggression aus dem Repertoire der inneren und äußeren Kampfkünste brauchen gelegentlich wohl alle, um durch den Tag zu kommen.

Warum er gerade in dieser Gegend der Stadt lebte, in einer Gegend, angeblich so leer und ereignislos wie wenige sonst, diese Frage hatte er sich nie gestellt. Als wäre es nicht gleichgültig, in welchem Segment des Straßengewirrs seine Wohnung lag, so selten, wie er aus dem Haus ging. Ein Friedhof, zwei Pflegeheime, eine Schule, drei Tankstellen, ein Park, fünf Banken, zwei Ärztehäuser, drei Discounter, vier Apotheken, ein Einkaufszentrum, eine Post, sogar ein winziger Buchladen: Weshalb sollte man dieses gut versorgte und überschau­bare Areal überhaupt noch verlassen? Und wurde zudem nicht jede Wohnung in den vernetz­ten und verkabelten Häusern zu einem Zentrum medialer Weltanbindung?

Er hatte allerdings schon in anderen Bezirken gewohnt, früher einmal, ohne dass das Leben dort markante Spuren hinterlassen hätte. Und dabei handelte es sich doch um Bezirke, die damals so angesagt waren wie heute. Sofern er sich überhaupt noch daran erinnerte, waren es weniger Menschen oder Gebäude, die ihn über die Zeit hinweg berührten. Eher schon ein Herbstmorgen, im grauen Berufsverkehr von einer Brücke aus gesehen - welche war es eigentlich? - mit einigen Fabrikschloten in der Ferne, deren Rauch in der aufgehenden Sonne prismatisch zerstäubte.

In letzter Zeit verließ er die Wohnung nur noch, wenn es unbedingt sein musste, etwa wenn das Brot zur Neige ging. Gab es nicht Dichter, nicht Philosophen, die das Draußen am besten von einer Arche aus wahrzunehmen glaubten, ja davor warnten, aus dem Zimmer zu gehen? Und als wollte er diese Entsagung, falls es denn eine war, nach außen tragen, erledigte er seine Besorgungen beharrlich nach der gleichen Route. Hatte er schließlich den weitläufi­gen Einkaufscontainer mit seinen Läden erreicht, fühlte er sich vor den Regalen und Warenstapeln meist wie gelähmt. Jetzt kam es darauf an, nicht völlig apathisch zu werden, was nur möglich war, wenn auch die Auswahl der Lebensmittel einer bestimmten Routine folgte. Im Freien, auf dem Rückweg dann, die Entspannung, es wieder einmal geschafft zu haben. In solchen Momenten schärfte sich ihm die Stadt zum verminten Gelände, das Besinnung und Muße wie unter Lebensgefahr ausschloss.

Bisweilen fuhr er auch mit der Untergrundbahn, dann, wenn er zu müde war, die ein oder zwei Stationen zu Fuß zu gehen, obwohl ihn diese Fahrten gewöhnlich etwas wehmütig werden ließen. Vielleicht weil ihn die dunklen Schächte gehindert hatten, den Riesenbau des ehemaligen, obgleich immer noch eulengeschmückten Verlagsgebäudes zu sehen, das sonst auf seinem Weg lag. Vielleicht auch, weil die Fahrt im Tunnel ihm verwehrt hatte, beim An­blick dieses bollwerkartigen Architekturkolosses jene tragische Geschichte körperlich nachzufühlen, die ihm irgendwann einmal zu Ohren gekommen war. War ihm nicht erzählt worden, einer der verantwortlichen Statiker hätte sich das Leben genommen, nachdem der moorige Grund der Wucht des Rohbaus nachgegeben hatte? Ob der Bericht der Wahrheit entsprach, war bedeutungslos. Wichtig war ihm nur, an diesem Ort an einen leisen, verzweifelten Tod zu denken und daran, das Fundament könnte womöglich erneut mit sanfter Plötzlichkeit ins Bodenlose absinken. "Was für ein Einfall", korrigierte er sich dann, "so dramatisch und viel zu pathetisch".

Wie er wohl gewesen war, der Gang zur Arbeit in dieses gigantische Verlags- und Druckerei-Labyrinth vor siebzig oder fünfundsiebzig Jahren? Die Angst in all der Betriebsamkeit, aber auch die Forschheit, das Großsprecherische, das Mitläufer- und Denunzian­tentum? Die Schritte all derer, die damals über das Pflaster gingen, die zu leiden hatten und leiden ließen? Es drängte ihn, mit diesen Toten zu sprechen, um die Zeichen der Gegenwart besser verstehen zu können. Schrieben denn nicht auch heute noch versprengte Vogelschwärme über den Straßenschluchten geheimnisvolle Figuren in den Himmel, obschon die Zeit der Auguren längst vorbei war?

Er las die Physiognomie der Stadt mit ihren glatten Oberflächen und dem hastigen Vorbeigleiten von Menschen und Dingen wie ein endloses Protokoll zum Verschleiß ihrer Bewohner und deren ständiger Regiearbeit, Leben auf Zukunft hin auszurichten. Und stets überkam ihn dabei das Gefühl einer innerweltlichen Tristesse, ein Gefühl, das er sich auf dem kargen Niveau seines Rückzugs leisten konnte, ohne dass ihn dieser Rückzug bedrückt, ihm gar ein schlechtes Gewissen gemacht hätte. Im Gegenteil. Zuweilen brachte ihm die Einsicht in das Privileg seiner Klausur neben der eigenen Endlichkeit das Verlöschen der menschli­chen Gattung selbst zu Bewusstsein; heroisch geradezu, wie er meinte, und stellvertretend für ein ebenso massenhaft wie sorglos gelebtes Vergessen. Dass es Äonen gab, in denen der Mensch nicht existierte, dass es Äonen geben wird, in denen er, ungeachtet jeglicher Science-Fiction-Träume, mit dem Sonnensystem und seinen Planeten verschwunden sein wird, dieser Gedanke war ihm tröstlich, trotz der dafür veranschlagten riesigen Zeiträume. In dieser Euphorie ging ihm seine eigene Lebensspur unter wie ein flüchtiger Schatten. Jetzt verschwan­den alle Versäumnisse und mit ihnen alle Verstöße gegen die allgemein verabredeten Wechselspiele von Investition und Ertrag bis hin zur Effizienz von Spareinlagen und Erwerbs­biografien. Begleiteten ihn solche Stimmungen während des Gehens, hoben sie seinen Weg im Dröhnen der Stadt auf das Niveau einer unwägbaren Entrückung: Vorbei am Portal mit der Eule, die in Bronze versteinert ihren Flug in die Dämmerung verweigerte, und vorbei am Kanal, der ihm zu einer Art Unterweltsfluss wurde, wasserlos allerdings, als wären auch die alten Mythen nicht mehr zu erzählen. Doch selbst dieser Befund hatte für ihn keinerlei Tragik.

Wer könnte denn heute noch erzählen? War nicht jede Geschichte eine unzuläs­sige Sinnstiftung, ein Schwindel, eine kosmetische Klitterung in einer von Konventionen überdeckten Zusammenhanglosigkeit? Längst war das einzelne Leben kein Bildungsroman mehr, eher schon ein Patchworkunternehmen unaufhörlicher Nachbesserungen unter dem Druck eines unumkehrbaren Zeitpfeils. Alles war so statisch und so ungeheuer mobil zugleich. Wie wären für diesen gleichförmigen Wechsel bereits im Alltäglichen angemessene Worte finden? Täglich sah er, wie Geschäfte geschlossen wurden, neue einzogen, die entweder Bestand hatten oder wiederum aufgelöst wurden, manche aus unerfindlichen Gründen schneller als erwartet, manche - aus ebenso unerfindlichen Gründen - hielten durch, zäh, verbissen beinahe. Wie war die Welt doch zu einem uferlosen Transitraum geworden.

In diesem Transitraum sah kaum noch jemand zum Himmel, weil das Leben unten zu viel abverlangte. So wie auch niemand mehr zur Uhr am kathedralenartigen Industrieturm über dem Eulenportal hochsah, die schon seit Jahren auf zwölf stand. Es war vermutlich das Bewusstsein, der Stillstand könne sich unmöglich verändert haben, das den Blick am Boden hielt. Und doch hatte es etwas Verführerisches, die funktionslose Funktion der Zeiger allmählich in ein dekoratives Ornament übergehen zu sehen. Ein öffentlicher Zeitmesser alter Fasson, nutzlos im Getriebe der privatisierten Zeit an Armgelenken und auf den Spiegelflächen der Mobiltelefone. Alles war, wie es war, und hatte in dieser Nüchternheit den kalten Charme einer Realität ohne verstörende metaphysische Hinterwelten.

So wurde die Berührung mit der Stadt zu einer Schulung, in der vie­les zu verlernen war, mitunter sogar der moralische Blick. Schritt für Schritt und wie beiläufig erweiterte sich der Ideenproviant seiner Deutungen und Fantasien. Es war, als würde die mächtige Dreifaltigkeit von Produzieren, Akkumulieren und Konsumieren samt ihrem Wertekanon alles aufzehren, ohne eine Leere zu hinterlassen. Deshalb war auch kein Aufruhr in ihm und keine Resignation. Nur eine gewisse Empfindungslosigkeit, die nichts mit Taubheit zu tun hatte. Und doch: Wenn die Kreuzungen - überflutet von Autos und Passanten und trotz der Ampeln - ins Chaos fielen und sich ein Panorama der Rücksichtslosigkeit über den Asphalt legte, zeigte sich jedes Ich als ein in sich kreisendes Selbstbehauptungssystem mit einem Hohlraum gepresster Seelenspuren und seinen zumeist aggressiven Rändern. Gleichwohl: alle, die da fuhren, gingen oder standen, auf den geteerten Straßen, die Härte verlangten und zurückgaben - sie alle waren nur auf den ersten Blick eine Zumutung. Hatten sie, verspannt in Abhängigkeiten und Rollen, nicht die widersprüchlichsten Denk- und Handlungsweisen unter einen Hut zu bringen? Und zeugte ihr rastloses Ausgeliefertsein an eine gigantische Maschine der Zeitoptimierung nicht unentwegt von einem Hunger nach Leben?

Hunger nach Leben! Konnte nicht der unscheinbarste Gegenstand jäh zur Epiphanie, zu einem Mittelpunkt der Welt werden? Selten genug zwar, zumal solche Plötzlichkeiten keines­falls zu erzwingen waren, aber immerhin. Alles war doch da, im Hier und Jetzt. So wie der "Kirschzweig" in den Brüdern Karamasow. Anhalten, stehen bleiben, verweilen, um im Grau der Straßen vielleicht etwas aufleuchten zu sehen, kurzbelichtet, grundlos, ereignishaft. Etwa das in den Bürgersteig gestanzte, angestaubte Rosenbeet, wenig beachtet, so wenig, dass es - wenn auch hin und wieder von Abfall durchsetzt - unzerstört blieb. Gesäumt von zwei Bänken, auf denen kaum jemand saß, außer vereinzelten, in den Ruin der Arbeitslosigkeit und weit darunter verstoße­nen Randexistenzen. Sobald er diese Stelle passierte, streifte sein Blick jedes Mal wie zwang­haft das nahe gelegene Pflegeheim. Altern, ging es ihm durch den Kopf, wird zum letzten Stadium eines zerdehnten Wartens auf das Ende. Wollte er in ein paar Jahren zu diesen Abgesonderten gehören, deren Lebenserfahrung zur Konkursmasse belangloser Lebensläufe enteignet war: chancenlos gegenüber einer Informationsindustrie des Immer-schon-und-genauer-Bescheidwissens mit ihrem Wahn an Experten und Studien? Altern: handelte es nicht von verbrauchten Verbrauchern, die nur noch brauchen, unheimisch in Heimen, von ermüdetem Material also? An dieser vom Verkehr umlärmten Ecke der Großstadtarena schien ihm der Tod endgültig ein Entsorgungsproblem zu sein, weit mehr eine ökologische Angelegenheit von Staub und Asche und Knochen als eine theologische.

Ab und zu ging er die gewohnte Etappe des Nachts, ohne Absicht, einfach so, wie man zu sagen pflegt. Jetzt wurde die Strecke, mehr noch als am Tag, zur Herausforderung. Er spürte den Widerstand der dunklen Mauern mit den erloschenen Fenstern und den der Straße ohne den üblichen Selbstbespiegelungsparcours entlang an hochpolierten Schaufenstern, die in seiner Gegend ohnehin meist fehlten. Es gab nur noch den Asphalt; nur noch ein paar verirrte Fahrzeuge; nur noch die Ampeln, die ihre Leuchtimpulse bei ausgedünntem Verkehr mechanisch fortsetzten: ein irrlichternder Farbwechsel im Leerlauf, für Stunden abgekoppelt vom Gebot über Leben und Tod, über Halt und Fahrt und Spurenwechsel. Einmal setzte er sich sogar für Sekunden auf die nächtliche Fahrbahn, im Gefühl eines lächerlichen Triumphs. Es muss wohl Nacht sein, überredete er sich, damit niemand den Freiraum bemerkt, den die verkehrsberuhigte Trasse für Stunden einer Welt im Schlaf überlässt.

Tod und Leben, der rasende Verkehr und die dunkle Stille. Im Vakuum der Nacht spüren, was Menschen am Tag abverlangt wurde, abverlangt an Augen, die nicht sehen, an Ohren, die nicht hören sollten. Die Kunst der Wahrnehmung als Nicht-Wahrnehmung! Was wäre schon zu sagen in der Flüchtigkeit wahllos vermengter Menschengruppen? Zugegeben, diese paradoxe Kunst, anwesend abwesend zu sein, faszinierte ihn. Zumal wenn sich die Beschleunigung der U-Bahn-Züge mit der Trägheit der in ihrem Innern festgebannten Menschenfracht überlagerte und in den Waggons ein absurder Formenkreis an Spaltungen aufbrach. Allen voran die Spaltung in beobachtete Beobachter, sprachfähig und schweigend, einander sichtbar und isoliert zugleich, zufällig gemischt und doch über Stationen in engem Verbund, ohne die Möglichkeit eines Blicks nach draußen. Doch dafür gab es über den Köpfen als entlastenden Blickfang ja Bildschirme und Schlagzeilen.

Und so, sagte er sich, müssen die sprachbegabten Wesen den Blick senken, weil sie vom urbanen Tableau mit seiner Verkehrung von Nähe und Ferne überfordert werden. Und solange das so ist, solange die Blicke gesenkt werden müssen, solange - das war seine feste Überzeugung - war nichts verloren. Nicht alles löste sich in der Gleichgültigkeit und im Sensationsamok der Erlebnisgesellschaft auf. Immer noch verliefen die Biografien zu verschieden, als dass sie in grauer Uniformität aufgingen. Und stets noch gab es den Aufruhr von Schmerz, Angst, Leidenschaft, Zorn und Empörung und die Verwundbarkeit des menschlichen Daseins, das sich so zerbrechlich vom elektronischen Reproduktions- und Simulationszauber abhob. Es waren solche Überlegungen, die ihm bestätigten, kein Misanthrop zu sein. In einer etwas unvorsichtigen Leichtigkeit glaubte er sogar die Menschen zu lieben, freilich, wie er einsah, nur aus der Distanz, im Status der Beobachtung. Bekümmerten ihn denn nicht die verhärmten Gesichter vor gut sortierten Warenbergen? Oder war dieses Empfinden nur Mitleid?Wie oft er übrigens den nahe gelegenen Kanal überquert hatte, er wusste es nicht. Ebenso wusste er nur aus Beschreibungen, wie erholsam der schmale Pfad entlang der Ufer sei. Dennoch empfand er es nicht als Versäumnis, diesen Weg in all den Jahren nie gegangen zu sein. So, wie ihm auch sein Leben nicht als Versäumnis vorkam. Trotz manch verpasster Gelegenheiten, die er vermutlich - falls er ehrlich mit sich war - mit einer traumwandlerischen Entschiedenheit verpassen wollte, und trotz der Appelle, die ihm klarzumachen suchten, wie man zu leben und sich durchzusetzen habe.

"Nicht mehr kämpfen", soufflierte eine Stimme. Es war nur konsequent, dass er sich jetzt häufig an die Sentenzen der alten chinesischen Tao-Meister erinnerte: "Nichts tun und nichts bleibt ungetan". Umgeben von einer schnelligkeitstrainierten Welt, in der die Zeit zerfiel, drehte ihn das Nachsinnen über diesen Satz mühelos in eine leicht irreale Zwischen­welt. Vielleicht grüßte er deshalb auf seinem Rückweg den chinesischen Kleiderhändler so freundlich. Zumal ihm dessen Lächeln mehr an Nähe versprach als die routinierte Nähe so mancher Nebenbei-Gespräche in Hausfluren oder an Wohnungstüren. Jedenfalls redete er sich dies ein. Und so winkte er vor allem dann nachdrücklich durch das Schaufenster, wenn die Sonne auf der getönten Glasscheibe die Entscheidung im Leeren ließ, ob er vom Inneren des Ladens aus überhaupt gesehen werden konnte.

"Nicht mehr kämpfen!". Nährte nicht die Bürde, den Zauber des Augenblicks zu spüren und ihn zugleich, um alltagstauglich zu bleiben, einfrieren zu müssen, die allgemeine Erschöpfung in den Städten? Überall Anhäufungen, aber keine Fülle; überall Events, aber kein Ereignis; überall Kommunikation, aber kein Gespräch; überall zerlebte Zeit, aber keine gelebte, überall Gleichförmigkeit, aber keine Dauer, überall Erosionen, aber kein Eros.

Und die Natur? Wie trostlos weit lag sie zurück. Wie unerreichbar fern. Was ihn hin und wieder noch berührte, waren einige Fotografien von Wolken und Sonnenuntergängen an den Wänden seines Zimmers. Oder manchmal der Blick zum Sternbild des Orion am mitternächtlichen Himmel, sofern die abgeschwächte Abstrahlung der Großstadtlichter noch etwas Nacht zuließ. Diese Zeitlosigkeit, die ihm für eine Weile den Atem nahm! In solchen Minuten warf ihm der Spiegel des Firmaments die Würdelosigkeit seines Daseins im Lärm der Straßen und ihrer anstrengenden Schwere zurück. Er ahnte, was an Weite und Höhe verloren gegangen war. Er spürte das Schwergewicht der Welt und sein eigenes. Stille einlassen, dachte er, Stille, als wäre sie ein Ohr für überhörte Resonanzen und Echos. Erstaunlich, wie solche kaum merklichen Anfälligkeiten des Herzens die eingeübten Souveränitätsmuster fragil werden ließen! Jetzt war es fast nebensächlich, dass das Zwielicht so vieler blauer Stunden von der elektrischen Stadtgrelle überblendet wurde und Dimmer keine Dämmerung ersetzten.

Und gab es nicht auch die Vollmondnächte? Das Erstaunen über den Lichtkorridor des Mondes in der dunklen Wohnung? Nicht zu vergessen die jährlich wiederkehrende Sehnsucht nach dem ersten Schnee und einem Frost, der die Geschäftigkeit einfror und die Straßen seines Viertels in eine Winterwüste verwandelte, ruhig und versöhnlich. Als hätte die Welt den Irrsinn des Immer-weiter-So begriffen. An solchen Tagen wollte er die Temperaturen am liebsten tiefer und tiefer absinken lassen, um die fieberhaften Schwingungen des tag- und nachtaktiven Molochs Stadt dauerhaft abzukühlen. "Nur kein heißes Material mehr", redete es in ihm, "nur kein überhitztes Passionato, sondern eine Welt aus Schnee, so leise, als würde Samt zu atmen beginnen".

Solche Natursplitter waren es auch, die im nächtlichen Rauschen der Stadt die Sehnsucht nach einem anderen Rauschen empfinden ließen, nach einer Oase der Sinndämp­fung inmitten einer Wüste von Tönen, Worten und Zeichen. Erst diese Oase versprach die Ahnung von einer Gegenzeit des Atemholens und der Gelassenheit. Dazu kam, dass seine Arbeit am Schreibtisch während der letzten Jahre einen Dehnungseffekt angenommen hatte, der den Lauf der Zeit und der Zeiten in Verwirrung brachte. Es war, als lebte er in einer sonderbaren Fließgeschwindigkeit von Menschen und Dingen. Die Jahreszeiten gingen auf und unter, statisch fast. Kein Wunder, dass sein innerer Zeitfluss zuweilen vom realen Gang des Draußen schockhaft irritiert wurde. Etwa wenn ihm die in heimeligen Schneelandschaften ausgelegten Weihnachtswaren mit ihren Geschenk-Imperativen wie eine Fata Morgana widerfuhren. Er war noch nicht angekommen im Winter, am Ende des Jahres.

Überall so viele Möglichkeiten und so viel Wirklichkeit! Überall dieses kollektive Einverständnis mit dem, was der Fall ist! Und dabei ginge es doch nur darum, atmen, aufat­men zu können. Manchmal war ihm, als müsse er die Seelenspur des Atmens zu einem Auf­stand der Lunge aufrauen. In dieser Lage erklärte er sich das allseits beschworene Burnout als den lautlosen Zusammenbruch ruheloser Produzenten und Konsumenten; als einen Ruin, durch den das einzelne Leben seine Hinfälligkeit spürt und in ihr eine Frist ohne Jenseitsbonus. Als würde Erschöpfung den Erschöpften Nachricht geben vom eigenen verletzlichen Naturgrund, nachdem die Ration an angebotenem Sinn aufgebraucht war. Wird Atmen nicht erst hörbar, wenn das Ersticken allgegenwärtig ist?

Hikikomori nennen die Japaner den Rückzug solcher Außenweltverweigerer, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen, monatelang, jahre­lang. So weit war er zwar noch nicht, aber wahrscheinlich kurz davor. Als Gradmesser für diese Vermutung galt ihm während der letzten Jahre die zunehmende Erleichterung, mit der er nach der Rückkehr in sein Zimmer die Tür ins Schloss fallen ließ. Derzeit freilich kam es noch darauf an, die Tür wieder zu öffnen und erneut zu schließen und ein wenig zu gehen - unbeeindruckt von den Ansichten über Nützliches und Nutzloses. Das also war der Kreis, in dem er sich noch einige Zeit bewegen würde und die Stadt mit ihm, bevor sich seine Spur in einem Geflecht so vieler unlesbar gewordener Spuren verlor, die man Leben nannte. Sein Le­ben: war es nicht so ereignislos und so ereignisreich wie das aller anderen? Auch sie, so wie er, mobile Platzhalter in einem Spiel aus Kommen und Gehen ohne Ankunft. Existieren nur noch Richtungen, stellt sich die Frage nach einem Ziel nicht mehr. Leben - dieses kurze Stück Zeit zwischen Geburt und Tod! So kurz, dass er spürte, es gibt keinen Aufstieg und keinen Niedergang und keinen Verfall, sondern nur den Wechsel, den die städtische Szenerie der Verwandlungen ihm vorlebte. Mein Weg wird verschwinden, dachte er, so, wie die Wege zahlloser Unbekannter in dieser ungeheuren Stadt verschwinden werden. Und dennoch werden weiterhin zahllose Unbekannte dieselben Wege gehen. Für ihn würde es nicht mehr darauf ankommen, mit all den vorgegebenen Geschwindigkeiten und Sinngebungen und Weltlegenden kompatibel zu sein. Mein Weg wird verschwinden, dachte er, im Sog der Straßen und Häuser, so, wie ich verschwinden werde - ruhig, ohne Bedauern, spurlos.


Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


Commenting has been turned off.
bottom of page