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AutorenbildJohannes Bauer

Neue Musik

Aktualisiert: 18. Apr. 2021


John Cage, Concerto for Piano and Orchestra
John Cage, Concerto for Piano and Orchestra

Jedes Sprechen über Musik macht Musik zum Gegenstand. Heideggers Versuch im Bereich der Dichtung, "die Sprache als die Sprache zur Sprache zu bringen", zeigt sich im Bereich der Musik sofort als Dilemma. Die Musik als die Musik zur Musik bringen; die Musik als die Musik zur Sprache bringen: diese beiden Varianten offenbaren den Querstand zwischen Musik und Sprache. Musik als Musik zur Sprache bringen, das war zumal seit den Zeiten des Historismus gängige Praxis. Was aber könnte es mit der Intention auf sich haben, die Musik als die Musik zur Musik zu bringen?

Über Musik, über Neue Musik zu sprechen, ist das nicht geradezu absurd? Neue Musik wirkt der Deutungshoheit der Philosophie gegenüber apotropäisch. Dem Übergriff des Begriffs wird sie zu einer Art ästhetischer Medusa, die die Aussagelogik versteinert. Ignoriert Hermeneutik diese Gegebenheit der Distanz, wird sie zum leeren Spiel oder zur Gewalt der Vereinnahmung. Der Begriff muss reflektieren und aushalten, dass er infolge der Satzstruktur von Aussage und Urteil auf Begründung und Gründe ausgeht, Neue Musik aber weit mehr auf das Grundlose und die Aufhebung des Satzes vom Grund. Deshalb kann der begriffliche Diskurs der Hermeneutik nur approximativ, nur fragmentarisch sein, sich selbst als sein eigener Subtext hinterfragend; eher einer nomolytischen als einer nomotethischen Logik verpflichtet. Über Neue Musik schreiben und sprechen heißt, sich bewusst zu machen, dass dies mit den Mitteln einer begrifflich vorentschiedenen Aussagelogik erfolgt - nach dem Satz vom Widerspruch, nach dem der Identität und des Grundes. Nötig wäre deshalb eine subtile Selbstzermürbungsarbeit der Logik mit der Erkenntnis, dass ihr Ideal der Wahrheit dem aisthetischen Logos der Musik gegenüber zu grob, zu restriktiv ist.

Auch mit Gründen und Begründungen kann man auf Grund laufen. Wenn schon der eng mit der griechisch abendländischen Tradition des Ziel-Gedankens verbundene Satz vom Grund in allen Belangen des Realen dominiert, soll wenigstens im Bereich der Kunst als einem "Labor des Lebens" (John Cage) eine andere Erfahrung des Denkens und der Dinge möglich sein: ohne das Fundament des konnektiven Begriffs, ohne das Grundgesetz der Begründungen. Kennt das grammatikalische System der Aussagesätze keine Leerstellen, indem es alle Sätze miteinander verbindet, war in ähnlicher Weise die Substanz der Geschlossenheit als eine der funktionalen Verweisungen lange Zeit hindurch die Basis tonaler Musik: als eine spezifisch ästhetische Ausformung des Satzes vom Grund. Dieses sprachähnliche System der Geschlossenheit hebt Neue Musik auf und lässt jenseits der Ordnung des Begründeten im Grundlosen, wie es scheint, das Chaos des Abgründigen erfahrbar werden. Der „Abgrund“ ist aber „weder das leere Nichts noch eine finstere Wirrnis, sondern: das Er-eignis“ (Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1978, S. 28). Das Abgründige der „Grundlosigkeit“ ist demnach „nur für denjenigen eine Leere und dann ein blankes Nichts, der im Denken nur auf Gründe aus ist“ (Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis, Frankfurt am Main 1994, S. 278). Was aber vermöchte andere Zeitspielräume zu öffnen als die Abgründigkeit des Ereignisses, sein Ver-sagen gegenüber dem Denken in Gründen und dessen Ursache- und Wirkungshierarchien?

Lassen wir also das abgründig Unverfügbare der Neuen Musik ein, ohne Ziel und ohne Grund, diesseits und jenseits vom musikalischen Logos und seiner metaphysisch basierten Sinnbahnung der Wiederholung sowie einer Nicht-Wiederholung, die ohne Wiederholung nicht denkbar ist.



Neue Musik verwandelt das Ideal des Schönen in einen Korridor des Offenen. Wie zeitgenössisches Komponieren die Überschreitung der Idee des Schönen als der traditionell verbürgten Garantin des Vollkommenen reflektiert, wird am Spätwerk Morton Feldmans deutlich: An einer Musik der Umwertung des Ästhetischen zum Aisthetischen und der Transformation der Idee der Wahrheit zum Sensorium der Wahrnehmung. Schönheit und Wahrheit verlieren den Nimbus des Absoluten, sobald sich die Dramaturgie des Subjekts auf ein kompositorisches Denken jenseits der Ich-Ästhetik von Einfühlung und Projektion hin entgrenzt; ein kompositorisches Denken, das mit Foucault im Anschluss an Heideggers „Humanismusbrief“ ein Komponieren im Zeichen des „verschwundenen Menschen“ genannt werden kann. Indem jedoch Neue Musik als Dämpfung der Sinnrenditen des Subjekts stets auch ästhetische Metaphysikkritik ist, löst sie den Kanon des Wahren und Schönen mitunter in die Unberechenbarkeit des Ungeheuren und des Ereignisses auf. Musik öffnet sich jenen viel beredeten transhumanen Tendenzen, die allzu voreilig mit Inhumanität verwechselt werden.



In den Antistrukturen des Unwiederholbaren und des Zufalls Neuer Musik geht es nicht mehr um die Gedächtnistrassen des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns, sondern um Epiphanie jenseits musikalischer Logizität. Musik öffnet sich dem Unverfügbaren. Gegen die Metaphysik der Wahrheit als einer Wahrheit sinnstiftender Wiederholungen beschreibt die Nicht-Wiederholbarkeit aleatorischer Formen eine rätselhafte Figuration zwischen der Einmaligkeit des Ereignisses und einer Serie des Gleichen. In solchen Verläufen des Unvorhersehbaren weicht der die innere Einheit des Selbstbewusstseins organisierende Sinn der Zeit einer Dauer der Identitätsleere. Der Einwand, in eben dieser Dezentrierung liege die inhumane Tendenz Neuer Musik, argumentiert deshalb bereits auf der Metaebene einer Abwehr aus zeitoptimierend funktionalistischen Gründen, aus Gründen einer Idee der Zeit ohne jede Absenz.


Die Zersplitterung der absoluten Zeit Newtons in die Eigenzeiten der Einstein'schen Relativitätstheorie findet Parallelen auch in der Neuen Musik: in Form einer Zeittheorie offener Systeme, die mit Wahrscheinlichkeit, Zufall und statistischen Werten experimentieren. Dieses Abstraktwerden der Zeit bedeutet zwar den Abschied von intuitiven Zeitvorstellungen, eröffnet aber im Rahmen neuer Zeitmodelle zugleich neue Zeiterfahrungen: etwa durch die Brechung der Schicksalsmacht Zeit in einer Musik der variablen Formen. Damit zeigen sich im veränderten Verhältnis zwischen objektiver Zeitstruktur und subjektiver Erlebniszeit Überschreitungen herkömmlicher Rezeptionsmodelle, die die Zeitformen der Neuen Musik zu Erkundungen im Unbekannten werden lassen.



Mit der Bühne des subjektivierten Ich begann sich Musik an der Wiederholung, am Ritornell, am "ritorno" als dem eingängigsten Mittel der Rückkehr des Ichs zu sich selbst zu orientieren. Lange Zeit war deshalb die individuelle Physiognomie des Melodischen, ihr Charakteristikum der Wiederholung und des Wiedererkennens Garantin für diese Selbstvermittlung im Akt des Hörens. Als säkulare Erbschaft der göttlichen causa sui in der Einheit des Ich=Ich und der Identität des Selbstbewusstseins bedeutet der Titel „Subjekt“ Prinzip und Fundament der Weltauslegung. Mit ihrer Aversion gegen Wiederholungen destruiert Neue Musik dieses Fundament in Richtung einer transsubjektiven Überschreitung und entzieht ihm Grund und Boden hin zum Grund- und Bodenlosen. Sie verweigert dem Ich-Entrepreneur die Synthesis der Perzeption, das percipere und capere, das Erfassen, Aufnehmen und Besetzen, das Ergreifen, Erobern und Kapern von Welt. Und sie verweigert damit zugleich den Ritorno, die Rückkehr, das Retour des Ich zum Ich und seine gedächtnisstabilisierende Tradition. Daraus resultiert das Stigma des Inhumanen, das Neuer Musik angelastet wird, aber auch ihre Emphase der Verwandlung und Befreiung; Befreiung verstanden als eine Entlastung von der Herrschafts- und Kontrollattitüde einer überforderten Subjektpotenz.


Das geschlossene System und die Konstanz der Naturgesetze garantieren in Zeiten der klassischen Physik und ihres Determinismus - bis hin zum allwissenden Laplaceschen Dämon - jene Absolutheit als Spiegel und Bestätigung eines gottebenbildlichen Subjekts, die schließlich im Ereignisraum des Wahrscheinlichen und in den Zonen des Unbestimmten und Unentscheidbaren der statistischen Thermodynamik samt ihrer Entropie-Modelle ihre Grenze findet. Ist es doch die Instanz der irreversiblen Zeit, die die reversible der klassischen Mechanik und ihre Verwechselbarkeit von Vergangenheit und Zukunft zu einem Sonderfall relativiert.

Im Modell geschlossener Systeme liegt auch das Tertium comparationis etwa zwischen Lagranges Mécanique analytique (1788) und der tonalen Funktionsharmonik, sofern in geschlossenen Systemen und ihren Bindungskräften keine strukturelle Energie verloren gehen kann. Im System der Funktionsharmonik organisiert die Erhaltungsgröße der musikalischen Struktur und ihrer kompositorischen Möglichkeiten den Freiheitsgrad der Tonkombinationen als permanente Umwandlung im Rahmen einer konstanten Gesamtenergie. Deshalb muss im System klassischer Tonalität das System innerhalb des Systems kompositorisch zur Einzigartigkeit des einzelnen Werks entsystematisiert und durch systemerodierende Grenzüberschreitungen immer wieder irritiert werden. Zugleich macht das Gesetz der Systemhomogenität - ähnlich Newtons absoluter Zeit -, innerhalb der Zeitstruktur der tonalen Grammatik voneinander unabhängige Eigenzeiten undenkbar. (Selbst Mozarts ebenso geniale wie radikale Überlagerung von 3/4-, 2/4- und 3/8-Takt-Sequenzen zu einer heterogenen Zeitschichtung „senza alcun ordine” in der Tanszene des Don Giovanni-Finales, die bis an den Rand der musikalischen Ordnung führt, bleibt der funktionsharmonisch organisierten Zeitstruktur eingebunden.) Wie in Lagranges Formalismus der klassischen Mechanik Energiekonstanz und Homogenität der Zeit verschwistert sind, so ist auch in der Struktur der Funktionsharmonik Zeit, das heißt der Grund der Zeit, kein brisant anstehendes oder zu lösendes Problem. Im Unterschied zur Einheitszeit der klassischen Tonalität ermöglichen Kompositionen Neuer Musik dagegen markante Eigenzeit-Profile als spezifische Werkgestalt. In Neuer Musik, in der komplexe Mikroprozesse mit der Entropie als energetischer Zustandsgröße statistisches Gewicht erlangen, wird Zeit als Eigenzeit zu einem von jedem Einzelwerk zu lösenden Problem. Geht es doch in der Offenheit und Selbstreferenz der Werke einer gleichsam thermodynamisch inspirierten Neuen Musik um keine energieerhaltenden Systeme mehr, sondern um offene Strukturen mit dissipativen Kräften, die in das Komponierte energetische Verluste - Rupturen, Lecks, Leerstellen einlassen. Im Unterschied zur zeitenthobenen Unsterblichkeitsphantasmagorie des klassischen Werks und seiner temporalen Homogenität geht in das statistische Gefüge der Entropie und in die Mikrozustände des zufallsaffinen Werks Endlichkeit ein, eine Spur an Todesbewusstsein und Zeitverfallenheit der Musik.

Daher handelt es sich in zahlreichen Kompositionen Neuer Musik überwiegend um Variationen der Entropie und ihrer Zustandsgröße, somit um Mikrozustände des Komponierten und ihrer Phasenräume, die als Wahrscheinlichkeitprozesse zu hören sind, also als Pluralität komplexer Einzelstimmen und ihrer Partikel. Das ästhetische Sensorium muss somit die Tradition auch darin verlernen, von einer klaren Diskretion der Einzelstimmen auszugehen. Entscheidend bleiben die statistischen Phasentrajektorien und die Energie eines vieldimensionalen Phasenraumvolumens, weniger die Einzeltrajektorie individueller Stimmen. Deshalb erzeugen Ensembles mit komplexen Freiheits- und Ereignisgraden auf der makroakustischen Ebene infolge ihrer Dichte immer wieder ein Quantum Überdeterminiertheit, das heißt - als Rauschen der Information – die Ortlosigkeit chaotischer Fülle. Dass freilich die Zeit- und Sprachstruktur der klassischen und der Neuen Musik zudem - philosophisch gesprochen - dem Satz vom Grund und seiner Aufhebung eingebunden bleibt, ist offenkundig.


Von Beginn an steht Neue Musik - gleichzeitigen philosophischen Tendenzen analog - in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Des­sen Gründungs- und Begründungsmacht - „nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich musi­kalisch am nachhaltigsten in der austarierten Werkeinheit zur Zeit der tonalen Epoche. Das heißt in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und - erinnert sei an Mozarts abgründigen Musikalischen Spaß - in den dieser kompositorischen Logik zufolge erst möglichen Regel­verstößen. Auch wenn für Schopenhauer Musik den „Satz vom Grund“ ausdrücklich ent­mächtigt, bleibt dessen Schatten gleichwohl im Innern jener Kompositionen Mozarts und Rossinis präsent, die dem Philosophen um 1820 das Erlebnis solcher Enthebung vermit­teln.

„Nichts ist ohne Grund“. Orientiert an diesem anthropologisch fundierten Grundge­setz abendländischer Metaphysik und Praxis - einem Gesetz von Folgerichtigkeit, Zusam­menhang und Notwendigkeit -, kultiviert auch Musik einen Sinnfundus an Wahrheit. So korrespondieren die organisch durchge­formten Werke aus der Epoche der Dur-Moll-Tonalität und ihre symbolisch-gestische Syntax aufs Engste mit der Identität des Selbstbewusstseins. Mit dem also, was die Philosophie seit Descartes mit der Einheit des Subjekts als einer Einheit von Begründungen zu fassen sucht. Auch wenn sich dieser Sinn- und Begründungsfundus im musikalischen Metier stets mu­sikspezifisch, das heißt mimetisch und logiksubversiv verschattet: in begründeten Ordnun­gen selbst begründet zu sein, im Grund der Werke sich selbst zu finden, wird zum ästheti­schen Kanon schlechthin. Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Dezentrierungen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ metaphysik­kritisch ins Innere der Struktur. Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der mnemoni­schen Souveränität des Subjekts gegründete Allianz auf. Mag auch die hochge­rüstete Konstruktion serieller Musik ihrer Produktion nach zum letzten Mal und bis in den letzten musikalischen Parameter hinein eine extreme Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten, ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich jeder ihrer komponierten Begrün­dungszusammenhänge ins Grundlose auf. Darin repräsentiert die Serialität und ihr Bruch zwischen Konstruktion und sinnlicher Erfahrung, zwischen Produktion und Rezeption, den Übergang von einer metaphysisch bestimmten zu einer nachmetaphysischen Moderne. Vom Grund zum Grundlosen, vom Begründeten zum Unbegründeten, zum Abgründigen.



Entgegen der Rasanz einer immer eiligeren, ungeduldigeren Durchmusterung von Zeit und Welt wird Halberstadt, der Ort einer auf 639 Jahre entgrenzten Aufführung von Cages Orgelstück As slow as possible zu einem anderen Planeten. Als wäre an Cage zu lernen, Dauer in anderen, eher unverfügbaren Zeitmaßen zu denken und zuzulassen.



Im Unterschied zu zenbuddhistisch orientierten Lesarten kann Cages 4´33 auch von Nietzsche, Mallarmé, Proust und Artaud her verstanden werden: Als eine Paramusik gegen das Entscheidungsdogma Musik oder Nicht-Musik; als eine »technique du blanc« gegen die funktionale Übermacht einer sinn- und damit horror-vacui-codierten Welt; schließlich als eine Irritation der Ichschranken in der haltlosen Offenheit von Stille und Leere. So unterläuft Cages 4´33 die Repräsentation eines dem Stück vorausliegenden Sinns, sensibilisiert für plurale Eigenzeiten und den Zufall und demontiert für Momente die Filter der omnipräsenten subjektpsychologischen Zeit.



Erst seitdem sich die griechisch-christliche Deutungshoheit in Philosophie und Ästhetik im Lauf des 19. Jahrhunderts zu entzaubern begann - ihre Spaltungs- und Ausschlussfiguren des Schönen und Hässlichen, ihre Forderungen nach Finalität und Geschlossenheit, ihr Kult des Subjekts mit seiner Ich-Rhetorik und Willensemphase und seinen mentalen und affektiven Zentren -, erst dann konnte mit dieser Entzauberung und Entdramatisierung jener west-östliche Dialog in Gang kommen, der mittlerweile auch in zahlreichen zeitgenössischen Kompositionen Wirkung zeigt: Nicht in Gestalt aparter Chinoiserien und einer asiatischen Klangexotik, sondern als strukturelle Nähe des Komponierten zu fernöstlichen Denk- und Kunsttraditionen. Erst diese strukturelle Korrespondenz aber macht als Formenkreis der Entsubjektivierung hörbar, was die abendländische Willensemphase bislang übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ich-Abstinenz und der Schwebe, die inmitten der Sinnkompressionen und der Informationsdichte einer vernetzten Welt gerade durch die Fülle des Ausgesparten irritiert und fasziniert. Stille etwa bis hin zur Leere zuzulassen bedeutet eine Irritation durch das Unverfügbare, nicht Bestimmbare, eine Irritation, die nicht umstandslos in den Katalog unserer gängigen Projektionsmuster und die Standards unserer antrainierten ökonomischen Weltsicht zu übersetzen ist. Das Unverfügbare aber ist zugleich das Offene in der Tradition von Prousts "mémoire involontaire", Joyces "epiphany", Heideggers "Lichtung".



Wäre im Rahmen eines imaginären Konzerts ein instrumentales Nachspiel zu Lachenmanns "Musik mit Bildern" Das Mädchen mit den Schwefelhölzern auszuwählen, Mark Andres Orchesterstück …auf…III schiene dafür prädestiniert. Auch bei Andre geht es um Zonen des Unberührten, um Frei- und Zwischenräume, um »unerwar­tete innere Klangwelten«(1). Auch Andre setzt auf die Sensibilisierungskraft der Aisthesis in einem Tableau mikroakustischer Ereignisse. Und wenn Andres mikroakustische Rhizome, verstärkt durch den Einsatz von Computerprogrammen, die Vernetzung und Zerstreuung je­nes Entwurfs ernst nehmen, der bislang unter dem Titel »Subjekt« Glanz und Elend auf sich zog, dann stellt sich auch hier die Musik der gesellschaftlichen Systemrealität, ohne dabei - ähnlich wie Lachenmann - die Ausdruckspur des Subjekts umstandslos dem Moloch abs­trakter Prozesse preiszugeben. Deshalb immer wieder die Zersetzung der computergenerier­ten Formationen und damit die Eingriffe in die Autorität des Rechners. Deshalb auch die Durchquerung der polyvalenten Faltungsverläufe mit einer eher makroakustischen Sinn­transparenz, etwa in Form rhythmisch akzentuierter Felder oder in Form einer Typologie von Impuls und Antwort, deren Wechselwirkung durch die weiträumige Anordnung des Schlag­zeugs unterstützt wird. Zugespitzt könnte man bei Andre von einer Fortsetzung der Intentio­nen Lachenmanns mit anderen Mitteln sprechen, sofern beide Komponisten Entwürfe ins Of­fene formulieren und dadurch die Ordnung des Realen provozieren. Andres Erkundung unbe­kannter Regionen im unentwegten Wechsel unterschiedlicher Texturen und Klangräume ist jedenfalls mit den dialektischen Grenzpolen von Subjekt und System nicht mehr adäquat zu kartographieren.

Zudem verlangt die äußerst variable Verschränkung, Fragmentierung und Interpola­tion algorithmisch organisierter Tonhöhen mit und in einem Universum »unharmonischer, harmonischer und geräuschhafter Klänge«(2) ein Hören außerhalb jeder einheitszentrierten Wahrnehmung. Aufgehoben werden mnemonische Gewohnheitsrechte, wie sie etwa Musik im Nahbereich des Ego konserviert, die vor allem eines nicht will: Verwandlung als Entwöhnung vom Gewohnten. Setzt Monoakustik auf ein Ohr der Mitte, um von hier aus den musikalischen Diskurs zu fokussieren, dann hält Andres Polyakustik das Hören mit multidimensionalen Perspektiven, Mehrfachcodierungen und vielschichtigen Kreuzungen transversal vernetzter Wege in Atem. Zentrum und Rand besagen in solchen ra­piden Fluktuationen kaum noch etwas, zumal sich Andre bewusst ist, dass Komplexität nicht ohne chaotische Ressourcen auskommt, will sie dem Anspruch einer wahrhaft komplexen Ordnung aus Zufall und Steuerung genügen. Zugleich gelingt Andre das Kunststück, mit der ikonoklastischen Aura seiner komponierten Epiphanie, die aus dem Unhörbaren kommt und ins Unhörbare verschwindet, jede Abbildlichkeit und sämtliche bildgebenden Verfahren von Verinnerlichung und Projektion außer Kraft zu setzen, ohne doch der gestischen Semantik von Stoß und Ruptur, von Sog und Steigerung die Wirkung eines seismischen Körpers zu nehmen. Vielleicht weil dies die einzig wahre musikalische Metapher von der wunderbarsten aller Metamorphosen ist, der der Auferstehung nämlich, auf die Andres Orchesterstück …auf…III anspielt: körperlich zu erahnen zwar und doch unter dem Gesetz des Bilderver­bots.

Lachenmanns und Andres Kunst der Sensibilisierung versteht Transfiguration als eine andere Figuration des Gegebenen. Es geht nicht um Verklärung, sondern um Klärung nach Maßgabe einer ästhetisch geschärften Sicht auf die Conditio humana der Gegenwart - und dies mit den Mitteln einer musica terrestris. Insofern lässt sich die religiöse Dimension in Andres Musik durchaus säkular fassen. Verwandlung, die mit dem brechen will, womit sich die Gewöhnung im Gewohnten isoliert, tendiert zu einer Pfingstzeit auf Erden. Und liegt nicht gerade in der Verstörung des Normierten und der Verstörung des Heroentums des Bezwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Brisanz einer Musik in Zeiten des sensuell-kognitiven Umbaus menschlichen Daseins? Wer wüsste schon, ob im Zug der weltweiten Wachstums- und Verwertungsideologie der technisch traktierte Mensch und sein absehbarer schleichend genetischer Umbau zu einer android-hybriden Verbindung von Chip und Zelle und zur biomachinalen Nutzung eder Restnatur führt oder nicht? Was wäre folglich von Kunst mehr zu verlangen, als dass sie uns trifft? Womöglich wie in Lachenmanns "Musik mit Bildern" mit der Synästhesie einer akustischen Erscheinung: So, als würde durch die Risse in der Mauer verhärteter Konventionen ein unbekanntes, mit einer unerhörten Musik in Szene gesetztes Sternbild aufleuchten - vergleichbar dem Lichtzauber der Schwefelhölzer in der Hand des Mädchens vor tödlich kalten Hauswänden - ein Sternbild, rätselhaft in seiner Unverfügbarkeit und doch mit der geheimen Pracht einer Chiffre der Hoffnung. Sie erst könnte den Topos der Auferstehung in Andres Orchesterstück und den der Himmelfahrt in Lachenmanns Musiktheater in ein ebenso mythisches wie aufklärerisches Menetekel verwandeln, das uns bewusst macht, wie sehr das Problem des Deus absconditus, des verborgenen Gottes, mittlerweile zu einem Problem des verborgenen Menschen, des Homo absconditus geworden ist. 1 Mark Andre,Werkbeschreibung »...auf... III«, in: Programmheft der Donaueschinger Musiktage 2007.

2 Ebd.



Lachenmanns Musik ist keine Musik der Schwebe, dafür ist sie zu willensbestimmt, zu voluntaristisch, zu absichtsbetont, zu eindeutig, zu aufgerüstet, zu metaphysisch-existenziell, zu abendländisch - trotz ihrer Destruktion des musikalischen Platonismus und seiner Idee des reinen Tons und trotz der Sho-Episode im Mädchen mit den Schwefelhölzern. Lachenmanns Musica negativa ist eine Musik der Fülle und des Vollen, in starkem Kontrast zur fernöstlichen Schwebe des Weder-Noch, des Lassens, des „wu wei“. Sicher, sie bricht Strukturen auf, sie schneidet tief in den Sprachgrund - aber sie komponiert noch die Leere, die Stille als eine Qualität des Maximums. Deshalb lässt Lachenmanns Musik keine Leere zu, sie überfällt und strengt an. Bleibt Lachenmanns Musik zudem mit ihrem Ausschlussmodus gegenüber allem, was auch nur annähernd vertraut klingt, mit ihrer Intention, um jeden Preis anders sein zu wollen, nicht umso stärker - gleichsam ex negativo - an die Tradition gebunden? Als eine hochgerüstete Musica exclusiva, die streckenweise ereignislos-monoton bleibt, eben weil sie unentwegt Ereignisse präsentiert?



Lachenmanns Destruktion ästhetischer Normen, seine verfremdeten Spiel- und Artikulationstechniken begreifen "Schönheit" als eine radikale "Verweigerung des Gewohnten". Der auf seine materiale Seite hin befreite Ton erzeugt über die Transformation gängiger Schönheits- und Natürlichkeitsbegriffe eine neue Dimension der Erkenntnis: nämlich die, wie sehr die europäische Musik aufgrund ihres Reinheits- und Schönheitsideals selbst Fragment war.



Das Inkalkulable Neuer Musik unterläuft die ichfixierte Gedankenarbeit und mit ihr den subjektzentrierten Begriff des Sinns. Zielt das Bewusstsein des Cogito auf Identifikation, auf ein "das ist", dann wäre diese Identifikationsregie das Erste, was sich eine Begegnung mit Neuer Musik abzugewöhnen hätte. Dass bei ihr die an der tonalen Musik entwickelten Hör- und Analyse-Modelle nicht mehr zureichen, resultiert nicht zuletzt aus der engen Bindung dieser Modelle an den Sprachcharakter der Musik. Die syntaktische und syntaxähnliche Qualität von Sprache und Musik aber war es, die über alle Unterschiede hinweg semantische Analogien zuließ. So kommunizieren in der Epoche der Tonalität Musik und Sprache über ihr affektiv gestisches Idiom. Symbolisch aufgeladen kann Musik ihrer "uralten Verbindung mit der Poesie" wegen als eine Sprache des "Inneren" aufgefasst werden. Sofern nämlich die "›absolute Musik‹" zu einer "ohne Poesie schon zum Verständnis redenden Symbolik der Formen" und des "inneren Lebens" wird und die "musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist" (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band, Viertes Hauptstück, Aph. 215). Noch Wittgenstein vergleicht "musikalische Themen" und "Sätze" in der Hoffnung, die "Kenntnis des Wesens der Logik" könnte zur "Kenntnis des Wesens der Musik" führen. (Ludwig Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916, Schriften I, Frankfurt am Main 1980, S. 130)



Bis zum Stadium der Neuen Musik war Komponieren an die Naturzeit des Körpers gebunden, an die Rhythmen von Herzschlag und Atmung, die sich über die Symmetrien und Asymmetrien taktgebundener Notenwerte in langsamere oder schnellere Bahnen der Affekte umsetzen (Ruhe - Erregung - Schmerz). Es ging um Spannung und Entspannung, um Dissonanz und Konsonanz, um Emotion und Ratio nach der Idee des Subjekts als animal rationale. Vom Eros in Mozarts Musik zu sprechen, liegt auf der Hand, aber vom Eros in der Neuen Musik? Wo bleibt die Naturzeit des Körpers in der Neuen Musik? Wo der Pulsschlag, wo die organische Bewegung oder die somatisch-rhythmischen Facetten von Beschleunigung und Verlangsamung? Wo das Tänzerische, wo das Gefühl? Das also, was die sogenannte Klassik und die populäre Musik für sich beanspruchen? Was geschieht mit dem Körper im zeitgenössischen Komponieren? Sicher, es gibt - etwa bei Nietzsche - den Verdacht gegen die Magie und das Verschlingende des Rhythmus, gegen den Takt der Eingemeindung, gegen den Tritt der Masse. Geht es demnach der Neuen Musik eher um Entfesselung als um Fesselung, eher um einen seismischen, arrhythmischen Körper als um dessen gestisch rhythmische Modellierungen? Oder begleitet, ja ratifiziert die Musik der Gegenwart die technische Zurichtung des Homo faber?

Wird Neue Musik zu einer Kunst des Übergangs in Zeiten eines langsamen kognitiv-sensuellen Umbaus des menschlichen Daseins? Wer wüsste schon, ob auf lange Distanz ein Umbau des technisch traktierten Menschen zu einer androiden Verbindung von Chip und Zelle und zur biomachinalen Verwertung jeder Restnatur ansteht. Schon Nietzsches Kälteapotheosen geben - noch im metaphysischen Milieu - Auskunft über eine Welt, in der dem Einzelnen inmitten der Wüste des "letzten Menschen" die Bürde der Selbsttranszendenz aufgelastet wird, nachdem Leben und Tod ihren transzendenten Sicherungsgrund verloren haben und einzig auf ein befristetes Diesseitsbiotop verwiesen sind. Zugleich eröffnet die Rede von der Unmenschlichkeit des Menschen und vom Inhumanen des Humanismus den Prozess über die anthropozentrische Verblendung des Homo sapiens.

Provokant gefragt: Ist Neue Musik womöglich eine von Nietzsches "letztem Menschen"? Ist sie eine des Übergangs, eine der Destruktion und des Aus- und Freiräumens von Tradition für eine kommende Musik des Unbekannten? Lachenmanns Parole "Die Musik ist tot", seine Intention, mit seinen Kompositionen die "magische Funktion" der Musik zu "brechen", könnte dafür sprechen. Auch wenn in Lachenmanns expressiven Stößen und Schocks immer noch das metaphysische Erbe der Katharsis nachwirkt, die Absicht aufzurütteln, sich nicht mit dem abzufinden, was ist. Ein Gestus des Aufrüttelns, ein Tremendum also, das Lachenmanns Musik grundsätzlich von Kompositionen wie dem Spätwerk Feldmans unterscheidet.

Oder bringen uns bei all den Fragen und Offenheiten Heideggers Gedanken über die sogenannte "abstrakte Kunst" weiter? Die „gegenstandslose axiomatische Form des wissenschaftlichen Denkens steht heute vor unabsehbaren Möglichkeiten. Dieses axiomatische Denken ist bereits dabei, ohne daß wir dies merken und in seiner Tragweite durchschauen, das Denken des Menschen so zu verändern, daß es sich dem Wesen der modernen Technik anpaßt". Es gilt dabei zu bedenken, "inwiefern der Mensch dieses Zeitalters nicht nur der Technik unterworfen ist, sondern inwiefern er dem Wesen der Technik entsprechen muß, inwiefern sich in dieser Entsprechung ursprünglichere Möglichkeiten eines freien Daseins des Menschen ankündigen. Die technisch-wissenschaftliche Weltkonstruktion entfaltet ihre eigenen Ansprüche auf die Gestaltung aller Bestände, die in einer solchen Welt an ihr Licht drängen. Darum hat im Bereich dieser technisch-wissenschaftlichen Weltkonstruktion das, was man mit einem ungemäßen Titel «abstrakte Kunst» nennt, seine legitime Funktion". (Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 41)



Dämpft die gemäßigte Moderne Neuer Musik das vermeintlich Antihumane zugunsten menschlicher Proportionen, indem sie die Allianz zwischen Affekt und Effekt, indem sie Zitate, Mischungen, Gesten, Pathosformeln, kurz: das Repertoire der Subjektrhetorik kultiviert: was spräche dann für das rigoros hermetische Werk, das sein maßloses Maß darin findet, sich so weit als möglich von der Rückbindung an Bekanntes zu entfernen, um sein Ereignis flüchtig und gleich einer kaum lesbaren Spur im Abgründigen aufgehen zu lassen?



Das Medusenartige so vieler Werke der Neuen Musik überzieht die Hörer wie der Schrei eines gorgonischen Schreckbilds.(1) Erzeugen solche Kompositionen nicht zu weiten Teilen ein versteinertes Publikum oder eines von perseushaftem Zuschnitt? Ein Publikum, das das ästhetische Tremendum mit dem Schild aggressiver Abwehr oder dem Spiegel einer Blendung aus Gleichgültigkeit erledigt, gleichsam enthauptet? Was, vom Visualprimat der Sprache her gesprochen, als der furchtbare Blick der Neuen Musik empfunden wird: verweist dieser Blick nicht auch auf den Komponisten als einen Arzt der Kultur, nachdem Nietzsche diesen Status vorrangig dem Philosophen reserviert hatte? Auf den Komponisten, dessen Musik sich nicht mehr als emotionale Dienstleistung versteht, sondern eher auf eine Überschreitung egomaner Bastionen zielt? Verweist dieser Blick also dem mythologischen Strang nach als Wunschbild nicht auf jene Macht des Asklepios, der dem Zeugnis des Apollodoros zufolge Tote zum Leben erwecken konnte - und dies eben mit dem Blut der Gorgo Medusa?(2) Und wäre dann im Ineinander von Versteinerung und Erschütterung, von Erstarrung und Abwehr, von Tod und Leben nicht eben jene musikalische Dosis Gift vonnöten, die das Publikum schockhaft dem Ereignis aussetzt, um eine Spur der Überschreitung in den Schacht nüchtern routinierter Funktionalität fallen zu lassen? Wo aber gäbe es für den optisch und akustisch konditionierten Menschen der technischen Gegenwart noch eine Empfänglichkeit für das Ereignis? Wird in einer medial gefilterten Welt der Erfahrung das ästhetische Ereignis nicht zum Event, das erlebnismäßig verbucht oder vergleichgültigt wird? Wie also steht es um das Ereignis im Bereich der Musik?


1 Zum furchterregenden Geräusch der Gorgonen vgl. Pindars Zwölfte Pythische Ode.

2 Asklepios „wurde ein geschickter Wundarzt, übte seine Kunst sehr eifrig und rettete nicht nur einige vor dem Tod, sondern weckte selbst schon Verstorbene auf. Er hatte nämlich von Athena das aus den Adern der Gorgo geflossene Blut bekommen, wovon er das aus den linken Blutadern geflossene zum Verderben, das aus den rechten zum Heil der Menschen anwandte. Durch das letztere weckte er die Toten auf“. Apollodoros, Arkadische Sagen, 3, 120.


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