Nachdem der newtonsche Zeitcontainer löchrig geworden ist, beginnt sich Zeit mit ihrem Ende als absolute und unbeschränkte Dauer auch und gerade ästhetisch in Kausalitätsrissen und Epiphanien zu brechen. Mit der Erosion einer als naturhaft verstandenen Subjektzeit wird das Ich-Bewusstsein als Maß der Zeit schließlich selbst extrem zeitabhängig. Wenn Proust die "mémoire involontaire" gegen die Steuerung der Identitätsregie setzt, das Nichtlineare, Nichtchronometrische also gegen die Kontinuitätsmaxime der Konvention, bedeutet das eine Aufwertung des Plötzlichen und des ekstatischen Moments im Namen des unberechenbaren Zufalls. Diese Spur der Kontingenz aber erzeugt die perspektivische Schichtung vergangener und gegenwärtiger Ich-Parzellen, die Simultanpräsenz getrennter Zeiten, die Verknüpfung gegensätzlicher Sphären, schließlich die Gegenwart der Eigenzeiten des Vor- und Unbewussten und des somatischen Sensoriums.
Lichtenberg hält die "Wetter in seinem Kopf" aus, die der Esprit des Kombinationsgeistes entzündet. Daß der Witz zu Erfindungen führen kann, resultiert aus seiner Fähigkeit, verblüffend neue Relationen zwischen entlegenen Punkten und unvereinbar scheinenden Extremen herstellen zu können. Darin liegt eine der Varianten des Sympathiebegriffs des 18. Jahrhunderts.
Bei Lichtenberg entfalten sich die Aphorismen der Sudelbücher im schnellen Wechsel und in frappierender Unberechenbarkeit zu einer riesigen Rhapsodie von Gedankenblitzen. Bei ihm dringt das Alltägliche in die Reflexion ein, wird das Somatische ernst genommen bis hin zur Überlegung, welche Auswirkung das Stehen oder Liegen auf das Denken und die Gedanken hat. Dieser bunte Wechsel konfiguriert sich zu einer Experimentalphysik der Reflexion. Ein Zustand der Einbildungskraft gleichsam noch vor der Regie der Synthesis der transzendentalen Apperzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft. Selbst der linguistic turn ist bei Lichtenberg in der Überlegung zu finden, daß "unsere ganze Philosophie einer falschen Sprache einverleibt ist".
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